
- 260 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
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eBook - ePub
Der Mann mit den Facettenaugen
Über dieses Buch
Wandelnde Bäume, wundersame Schmetterlinge, Rehe, die sich in Ziegen verwandeln, und eine Katze, die ein unaussprechliches Geheimnis birgt: Wu Ming-Yi hat mit Der Mann mit den Facettenaugen eine faszinierende Romanwelt geschaffen, in der Klimakollaps, indigene Mythen, Identität und existenzielle Gefühle den Hintergrund für eine vielschichtige und raffinierte Erzählung bilden. Darin begegnen sich die lebensmüde Akademikerin Alice und der in den Tod verstoßene Indigene Atile'i, nur um sich wieder zu verlieren. Die Welt wird sich in der Zwischenzeit radikal verändern. Visionäre Fantastik und harten Realismus verbindet Wu Ming-Yi auf unnachahmliche Weise zu einem literarischen Tsunami, in dem der geheimnisvolle Mann mit den Facettenaugen ein Schicksal vorhersagt, das erst mit dem Buch im Buch, das Alice zu schreiben beginnt, um den Tod ihres Sohnes zu verstehen, in Gang gesetzt wird. In dieser fantastischen Spannung zeigt sich ein hintergründiger, politisch bewusster Roman, der tief in ökologischen Belangen und Fragen indigener Identität verankert ist.
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Information
Zweiter Teil
Zweimal am Tag sperrten die Gezeiten Alice ein und ließen sie erst ein paar Stunden später wieder frei. Wenn Springtide war, schlich sich das Wasser an den Entwässerungsgräben entlang sogar ganz um das Haus herum und ließ vor Alices Hintertür allerhand seltsames Treibgut zurück …
4. Atile’is Insel
Der Nebel schien aus den tiefsten Tiefen des Meeres aufzusteigen und alles ringsum zu verschlucken. Er war überall, so wie Kabang. Nach einer Weile kam es Atile’i vor, als befände er sich längst auf dem Meeresgrund. Er hatte aufgehört zu rudern. In einem Nebel wie diesem hatte rudern keinen Sinn mehr. Es war jetzt sieben Tage her, dass er Wayowayo hinter sich zurückgelassen hatte, und inzwischen war er davon überzeugt, dass Ruder gegen das offene Meer völlig machtlos waren. Er verstand nun, warum die Wayowayo eine unsichtbare Grenze um die äußersten Fanggebiete gezogen hatten, über die niemand hinausfuhr – zu groß war die Gefahr, es nicht mehr zurückzuschaffen. Es gab noch eine weitere Realität, die sich aufdrängte: Er hatte seine Essens- und Trinkwasservorräte aufgebraucht. Doch obwohl sein Verstand ihm sagte, dass seine Situation hoffnungslos war, weigerte sich sein Körper aufzugeben. Er fing an, Meerwasser zu trinken.
Gegen Mitternacht begann es zu regnen. Regen und Nebel verwischten die Schwelle zwischen Meer und Himmel. Atile’i fragte sich, ob er vielleicht schon das Meerestor passiert hatte. In den Überlieferungen der Wayowayo fand man dort, wo Regen und Nebel vergehen, ein Tor, das Tor des Meeres. Hinter diesem Tor lag die Wahre Insel, der Sitz Kabangs und seines Gefolges aus Meerestieren und Wassergeistern. Wayowayo war in Wirklichkeit lediglich ein schattenhaftes Abbild davon. Die meiste Zeit lag die Wahre Insel tief unter dem Meer, aber manchmal, in bestimmten schicksalhaften Momenten, kam sie an die Oberfläche.
Atile’i verkroch sich unter dem eigens aus Palmenblättern geflochtenen Regenschutz, doch es machte kaum einen Unterschied, denn auch darunter goss es in Strömen. »Der Fisch ist weg, der Fisch ist weg«, murmelte er vor sich hin. In der Sprachwelt der Wayowayo bedeutete das so viel wie: Gib’s auf. Er wagte es nicht, einen so blasphemischen Gedanken auszusprechen, aber in seinem Herzen fragte er sich, wie ein Gott über das Meer herrschen sollte, wenn es auf offener See doch so eindeutig schien, dass es weitaus mächtiger war als jede Gottheit. Das Meer selbst war gottgleich.
Bei Tagesanbruch stellte Atile’i fest, dass sein Tailawaka im Begriff war zu sinken. Vergeblich und doch alternativlos schöpfte er Wasser. Erst als das Boot fast vollgelaufen war, gab er es auf und begann zu schwimmen. Atile’i war der mit Abstand beste Schwimmer unter den Wayowayo seines Alters. Seine Beine waren geschmeidig wie Fischschwänze und seine Hände schienen das Meer geschwind zweizuteilen, als seien es Flossen. Doch auf offener See war ein Mensch nutzloser als eine Qualle. Selbst einer wie Atile’i. Er schwamm mit aller Macht, es kam ihm gar nicht in den Sinn, aufzugeben. Wie eine Ameise, die in einen Teich gefallen ist. Sie kennt weder Verzweiflung, noch weiß sie, was Hoffnung bedeutet. Ihr Körper wehrt sich einfach so lange, bis alle Kräfte aufgezehrt sind.
Obwohl sein Geist schon gegen Kabang gefrevelt hatte, begann sein Mund dennoch zu beten: »O allmächtiger Kabang, der Du selbst dem Meer sein Wasser nehmen könntest! Hast Du Dich auch von mir abgewendet, so flehe ich Dich dennoch an: Mach, dass meine Gebeine zu Korallen werden und zurück in die Heimat treiben. Auf dass Ussula sie aufsammeln möge.« Als sein Gebet beendet war, verlor er das Bewusstsein.
Als Atile’i zu sich kam, trieb er noch immer auf dem Meer. Ihm war, als hätte er sich im Traum einer Insel genähert, an deren Ufer eine Gruppe junger Männer auf ihn gewartet hatte.
Sie hatten allesamt traurige Augen und dort, wo ihre Hände hätten sein sollen, wuchsen ihnen Flossen. Ihre Körper waren mit dunklen Flecken übersät, so als hätten sie ihr Leben damit zugebracht, sich auf rauen Meeresfelsen hin und her zu wälzen. Als er mit seinem Tailawaka näher heran paddelte, sprach ein grauhaariger Junge ihn an: »Ein Blauflossen-Thunfisch hat uns vor ein paar Tagen gesagt, dass du kommen würdest, um dich unserem Stamm anzuschließen.« Die anderen Jünglinge verfielen unterdessen in einen traurigen Singsang, der auf- und abbrandete wie melancholische Meereswellen. Es war ein Lied, das die Wayowayo sangen, wenn sie auf See hinausfuhren. Atile’i konnte gar nicht anders, als mit einzustimmen:
Wenn Wind und Wellen
sich gegen uns stellen:
Unser Gesang hält sie ab.
Wenn Wind und Regen
sich über uns legen:
Oh, mein Mädchen,
dann musst du dich sorgen,
dass wir zu Thunfischen geworden
Zu Thunfischen geworden …
Der Gesang der jungen Männer plätscherte traurig vor sich hin wie Regen auf dem Ozean. Er hatte etwas Beruhigendes, so wie das Funkeln der Sterne die Dunkelheit tröstet. Doch dann rief ein einäugiger Junge: »Hört doch! Sein Gesang ist ganz anders als unserer. Völlig anders. Er klingt, als sei er allein auf einer einsamen Insel gestrandet.«
In diesem Moment prallte eine große Welle gegen Atile’is Boot. Er verlor das Gleichgewicht und fiel aus dem Traum heraus.
Als er erwachte, stellte Atile’i fest, dass er tatsächlich auf einer Insel gestrandet war. Sie erstreckte sich scheinbar endlos in sämtliche Richtungen und bestand aus lauter sonderbaren, ineinander verwobenen und verkeilten Gegenständen in allen nur erdenklichen Formen und Farben. Ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft. Die Sonne war bereits aufgegangen. Wellen hatten Atile’is Kleidung und seinen Schmuck fortgerissen und ihn fast komplett entblößt. Doch der Verlust des Chicha-Biers, das Ussula ihm mitgegeben hatte, schmerzte ihn weit mehr. Beim Gedanken daran merkte er, wie trocken sein Mund war. Zum Glück hatte er die Sprechende Flöte noch, denn irgendwie war es ihm gelungen, sie selbst im bewusstlosen Zustand fest zu umklammern.
Das muss die Totenwelt sein, dachte Atile’i. Er lief etwas umher. Große Teile der Insel schienen nicht sehr stabil zu sein, an manchen Stellen gab der Boden plötzlich nach wie eine Fallgrube. Und es gab mit Meerwasser gefüllte Senken, die mehrere Mannslängen tief waren.
Ein rundes, bunt glänzendes Objekt erregte Atile’is Aufmerksamkeit. Wenn er es in einem bestimmten Winkel zur Sonne hielt, strahlte es blendend hell auf, und wenn er es vor sich hielt, erschien darin ein dunkles, mit Flecken und Schürfwunden übersätes Gesicht. Wie war es möglich, dass ein so harter Gegenstand aus Wasser bestand, fragte er sich. Denn so musste es sein, wie sonst hätte er sich darin widerspiegeln können?
Es dauerte nicht lange, da fiel Atile’i auf, dass die Insel über und über mit bunten Säcken bedeckt war. Anders als bei Säcken aus Pflanzenfasern sammelte sich in diesen Säcken Wasser an. Zwar waren die meisten davon undicht und das Wasser fiel platschend heraus, sobald man sie aufhob, aber Atile’i fand nichtsdestotrotz Muscheln, Seesterne und allerhand merkwürdigen Krimskrams darin. Auf Wayowayo gab es diese Säcke ebenfalls. Die weißen Männer hätten sie zurückgelassen, sagten die Alten. Doch seit einigen Jahren begegneten sie einem auch draußen auf See. Die Insulaner benutzten die Säcke als Wasserspeicher, denn sie hielten dem Zahn der Zeit besser Stand als jedes noch so harte Gestein.
Atile’i öffnete eine Muschel und schlang sie hinunter. Er probierte etwas Wasser aus einem der Säcke. Es schmeckte schmutzig und abgestanden, war aber zweifelsohne Süßwasser. Ihm kamen vor Freude beinahe die Tränen. Wenn es Trinkwasser gab, würde er überleben. Trinkwasser bedeutete Leben.
Atile’i erkundete weiter die Insel, bis die Sonne ihren höchsten Punkt längst überschritten hatte. Er fand ein paar Krebse und Fische, die sich in diversen Gegenständen verheddert oder verklemmt hatten. Während er sie roh verspeiste, näherte sich die Sonne immer weiter dem Horizont, und ehe er sich’s versah, war es Nacht geworden. Er hatte ein paar nasse Fetzen gefunden, die an Kleidungsstücke erinnerten. Zwar waren sie viel zu weich – seine Haut war das aus Flachs gewebte Tuch gewöhnt, das es auf Wayowayo gab –, aber er brauchte sie nur zu trocknen, dann hatte er etwas zum Anziehen. Er hatte außerdem einige Flaschen aufgelesen, die so viel Auftrieb besaßen, dass sie auf dem Wasser schwammen. Atile’i faszinierten die vielen Farben, in denen sie vorkamen, vor allem aber dachte er sich, dass sie ihm sicher noch von Nutzen sein könnten, zum Beispiel um ein Boot zu bauen.
Schließlich muss das hier das Totenreich sein. Und wer weiß, was man im Totenreich so alles braucht? Er schichtete die Flaschen und ein paar andere merkwürdige Gegenstände, die ihm interessant erschienen, zu einem großen Haufen auf und betete, dass aus dem Meer kein Regen werden und die Sonne seine Funde am nächsten Tag trocknen möge.
Als die Nacht hereinbrach, kam Atile’i zu dem Schluss, dass er doch noch nicht tot sein konnte, denn der Mythologie Wayowayos zufolge schien die Sonne in der Totenwelt ein halbes Jahr lang ununterbrochen, bevor der Mond für das nächste halbe Jahr die Regentschaft übernahm. Der Zeitrhythmus hier war jedoch offensichtlich derselbe wie auf Wayowayo. Zumindest hatte sich der vergangene Tag nicht wie ein halbes Jahr angefühlt.
Auf dem Ozean ist es nachts nicht so stockfinster, wie die meisten Menschen glauben. Das Licht der Sterne und des Mondes fällt durch die Wolkendecke, und auch aus dem Meer dringt zuweilen plötzlich ein wundersames Glimmen nach oben, das einen regelrecht blenden und am Einschlafen hindern kann. Am Rand der Insel sitzend blickte Atile’i staunend auf das geheimnisvolle Schauspiel hinab und fragte sich, was die Zukunft wohl noch für ihn bereithielt.
Als der Mond begonnen hatte sich zu neigen, spürte Atile’i plötzlich, dass er nicht allein war. Er fand sich umringt von den jungen Männern aus seinem letzten Traum, die amüsiert zusahen, wie er vor sich hin grübelte. Atile’i grüßte sie mit einer Geste, durch die man auf Wayowayo »wohlwollende Gesinnung« signalisierte – die Handflächen nach oben, die Finger leicht gekrümmt – und wollte eben fragen, da antwortete ein Jüngling mit einem klaffenden Riss quer über dem Bauch bereits:
»Du hast richtig geraten. Wir sind keine Menschen. Wir sind Geister. Vor dir versammelt stehen die Seelen aller Zweitgeborenen Wayowayos.«
»Ihr habt mich erwartet.«
»Ja.«
»Dann ist es so, wie ich vermutet habe. Das hier ist das Totenreich. Oder eine Insel auf halbem Wege dorthin.«
»Das Meer sei mit dir. Ehrlich gesagt wissen wir auch nicht, was dies für ein Ort ist. Wir lassen uns treiben, mal hierhin, mal dorthin, aber diese schwimmende Insel ist uns unbekannt. Sie war früher nicht hier«, sagte der grauhaarige Junge aus dem Traum.
»Seid ihr gekommen, um mich zu euch zu holen?«
»Nein, wir haben keine Macht über Leben und Tod. Wir warten darauf, dass du zu uns stößt, aber im Moment lebst du noch und wir können dir bloß weiter zusehen«, erklärte ein junger Mann mit einer Wunde am Brustkorb.
»Die Zweitgeborenen Wayowayos bleiben auch im Tod ein Teil des Meeres«, fügte der Junge mit den grauen Haaren hinzu. Die anderen brummten zustimmend.
Die Geister der Zweitgeborenen logen nicht. Sie betraten die Insel wirklich zum ersten Mal. »Wir haben uns vor ein paar Tagen am Seevogelfelsen getroffen, um unser neuestes Mitglied willkommen zu heißen – also dich. Da erst haben wir den Rand dieser schwimmenden Insel entdeckt. Wir waren bei deiner Abschiedszeremonie dabei und lauschten dem Gesang der Ältesten, in dem sie die Weisheit Kabangs, die Fülle Wayowayos, deinen Mut und Ussulas Schönheit priesen. In Gestalt einer Herde von Pottwalen begleiteten wir dich tagsüber auf deiner Reise, bis dein Tailawaka unterging. Du musst verstehen, wir dürfen einem Zweitgeborenen weder helfen noch schaden. Wir dürfen nur tatenlos zusehen. Deine Kraft hat uns überrascht, du bist geschwommen wie ein Fisch und einfach nicht ertrunken. Wir waren die ganze Zeit in der Nähe und sahen zu, wie eine Meeresströmung dich zu dieser Insel brachte«, berichtete der Grauhaarige, welcher der Anführer zu sein schien.
Ein stämmiger Jüngling, dem sämtliche Zähne fehlten, übernahm das Wort. Sein Mund wirkte wie ein großes, dunkles Loch: »Am Anfang kam uns diese Insel sehr seltsam vor. Wir glaubten zuerst, Kabang hätte sie für dich geschaffen. Als Falle. Oder als Prüfung.«
»Aber dann ist uns etwas aufgefallen«, fuhr Grauhaar fort.
»Was? Was ist euch aufgefallen?«
»Die Insel driftet unaufhörlich. Womöglich wird sie irgendwann weiter schwimmen, als die Geisterseelen der Wayowayo folgen können.«
»Weiter als ihr folgen könnt?«
»Ja, wir können uns nicht beliebig weit von Wayowayo entfernen. Es gibt da eine Art unsichtbare Grenze.«
»Heißt das, wenn die Insel sich über diese Grenze hinaus bewegt und ich noch lebe, könnt ihr mich nicht mehr begleiten?«
»Das Meer sei mit dir. Wenn du dann noch lebst, wird deine Seele sehr einsam sein und ganz allein auf einem Ozean treiben, der keine Grenzen mehr kennt.«
»Sollte ich dann nicht besser sofort ins Wasser springen und mich ertränken, wenn ich nur so zu euch kommen kann?«
»Das darfst du auf gar keinen Fall! Wenn ein Wayowayo sich selbst das Leben nimmt, wird er zu einer Qualle. Quallen erkennen sich nicht einmal untereinander wieder. Das willst du sicher nicht.«
Atile’i wollte nicht als Qualle enden. Aber mehr wussten die Zweitgeborenenseelen ihm auch nicht zu helfen, also warteten sie zusammen auf den Sonnenaufgang. Für die Geisterseelen hatte der Sonnenrhythmus an sich kaum noch Bedeutung. Bei den ersten Sonnenstrahlen glitten sie lediglich ins Wasser hinab und nahmen die Gestalt von Pottwalen an. Wenn es wieder Nacht wurde, wechselten sie erneut in ihre Geisterform, schwebten auf der Wasseroberfläche umher, sangen Lieder oder starrten ins Leere, bis der nächste Zweitgeborene von Wayowayo seine Reise antrat. In ihrer Pottwalform waren sie kaum von echten Pottwalen zu unterscheiden. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Geisterpottwale weinen konnten.
Atile’i blieb also nichts anderes übrig, als auf der Insel auszuharren, während sie still und leise davon trieb, unaufhaltsam und mit einer Geschwindigkeit, die weder Wind noch Regen, Gezeiten oder Träume zu beeinflussen vermochten, bis sie die Außengrenzen des Zweitgeborenenreichs erreichte und hinter sich ließ. Nachdem Sonne und Mond sich drei Mal abgewechselt hatten, konnten die Zweitgeborenengeister kaum noch den Rand der Insel ausmachen, als sie an die Meeresoberfläche kamen. Sie riefen Atile’i hinterher, doch ihre Rufe verwandelten sich in fliegende Fische und fielen platschend zurück in den Ozean.
»Jetzt bin ich allein.« Am Morgen nach zwei weiteren Sonne-Mond-Wechseln sank diese Gewissheit endgültig ein und Atile’i machte sich ans Überleben. Er musste Fische fangen, Regenwasser sammeln und aus den vorhandenen Materialien etwas zum Anziehen nähen, damit er vor Wind und Sonne geschützt war. Was das Fischen anging, war Atile’i in seinem Element, aber Kleidermachen gehörte nicht zu seinen Stärken. Aus allerlei Stoffresten und Materialfetzen flickte er mehr schlecht als recht etwas zum Überwerfen zusammen, in dem er aussah wie ein allzu bunt ausstaffierter Vogel.
Atile’i hatte einen Stab gefunden, der hart und biegsam zugleich war, und nach tagelangem Grübeln kam ihm endlich eine zündende Idee. Er feilte den Stab an einer Seite an, band ein Stück eines anderen, überaus dehnbaren Materials, das er aufgelesen hatte, daran fest und baute sich so eine Art Harpune, die sich spannen und unter Wasser abschießen ließ. Auf dieselbe Weise improvisierte er ein Guwana, das flexibler, spitzer und tödlicher war als sämtliche Exemplare daheim auf Wayowayo. Und er entdeckte eine Sorte von Rundkörpern, die härter und doch elastischer waren als jede ihm bekannte Baumfrucht. Sie eigneten sich hervorragend dazu, tieffliegende Vögel abzuwerfen, an die er mit dem Guwana nicht herankam. Seine Wurfhaltung hatte Atile’i sich aus einem Buch zu Hause auf Wayowayo abgeguckt, das voller bunter Abbildungen und dicht gedruckter Zeichen war. (Die Wayowayo selbst kannten zwar keine Schriftsprache, doch sowohl der Erdenweise als auch der Meereskundige besaßen einige dieser Gegenstände, die sie »Bücher« nannten.) Auf einem Bild war ein Mensch mit dunkler Hautfarbe ähnlich der seinen zu sehen, der gerade zum Wurf ausholte. Für Atile’i war es eine Haltung vollendeter Präzision und Eleganz und von der Hand des Abgebildeten schien ein Leuchten auszugehen.
Abends war die beste Zeit, um mit dem speziellen Guwana Vögel zu erlegen oder Meeresschildkröten zu fangen. Anfangs konnte Atile’i die Schildkröten nur bewusstlos schlagen, ihnen die Hälse herausreißen und ihr Blut trinken. Doch dann fand er eines Tages am anderen Ende der Insel ein glänzendes, unvorstellbar scharfes Messer. (Auch auf Wayowayo gab es Messer, bloß waren diese aus Stein gefertigt.) Mithilfe dieser Klinge kam er endlich auch ans Fleisch der Panzerträger. ...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Inhalt
- Erster Teil
- Zweiter Teil
- Dritter Teil
- Vierter Teil
- Fünfter Teil
- Sechster Teil
- Siebter Teil
- Achter Teil
- Neunter Teil
- Zehnter Teil
- Elfter Teil
- Impressum