Jacob der Gefangene
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Jacob der Gefangene

Eine Reise durch das indische Justizsystem

  1. 180 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Jacob der Gefangene

Eine Reise durch das indische Justizsystem

Über dieses Buch

Lange Zeit ist Jacob der Hoffnungsträger seiner Familie. In Kerala geboren, in Dubai aufgewachsen, Studium und Karriere als erfolgreicher Geschäftsmann in den USA. Er liebt das Gefühl des Erfolgs, rauschende Partys und das Hochgefühl von Ecstasy. Dann kommt der Wendepunkt: Jacob und ein Freund werden von der Polizei wegen Drogenbesitzes verhaftet, sie kommen auf Kaution frei und Jacob flieht nach Dubai, wo er sich eine neue Existenz aufbaut. Doch als er 2008 nach Mumbai fliegt, um seine kranke Mutter zu besuchen, wird er aufgrund eines internationalen Haftbefehls am Flughafen verhaftet und ins Tihar-Gefängnis, eine der größten Haftanstalten Asiens, gebracht. Dort beginnt seine endlose Reise durch das korrupte und marode indische Justizsystem, und dort trifft Karin Wenger 2011 während einer Recherche auf ihn. Von da an begleitet sie den Gefangenen über mehr als zehn Jahre. Die Notizen, Briefwechsel und Interviews, die aus diesen Begegnungen entstehen, sind ein eindrückliches Zeugnis aus dem indischen Gefängnisalltag und erzählen von einem Mann, der tief fiel und dann wieder aufstand und sich neu erfand.

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Information

Neu-Delhi, 1. Dezember 2011 – Der Menschenrechtsanwalt

Colin Gonsalves vertritt Fälle am Supreme Court, dem obersten Gericht Indiens, und kennt das Justizsystem in- und auswendig. Als ich den Sitz der NGO in Neu-Delhi suche, wird mir schnell klar, dass es sich dabei um keinen luxuriösen Bürokomplex mit Glasfassaden und teurem Mobiliar handeln kann, wie bei einer Anwaltskanzlei in Zürich. Das Büro befindet sich in Jangpura, im Süden der Stadt. Hier hängen die Stromleitungen wie große Spaghettiknäuel tief über den schmutzigen Gehwegen, auf denen überquellende Container stehen. Straßenhunde wühlen im Müll. Eine Moschee und ein Hindutempel liegen in unmittelbarer Nähe der NGO, und die Nachbarhäuser stehen so eng, dass die Büros selbst am Tag mit Kunstlicht erhellt werden müssen.
Gonsalves sitzt vor einer Wand, die von vollen Bücherregalen verdeckt wird. Wenn er spricht, untermalt er seine Sätze in der Luft mit seinen langen Fingern. Eigentlich sei er Bauingenieur, sagt er, sein Herz habe jedoch schon immer für die Unterdrückten geschlagen. Deshalb habe er nach dem Studium am Indian Institute of Technology Bombay ab 1979 noch Rechtswissenschaften studiert. Als Anwalt könne er besser für mehr Gerechtigkeit im Land und die Rechte der Ärmsten kämpfen, glaubte er. Zuerst arbeitete er in den Slums und versuchte dort die Bulldozer aufzuhalten und die Anordnungen der Regierung zu verhindern. Die wollte anstelle der Slums lieber Einkaufszentren und luxuriöse Wohnsiedlungen in ihren Städten. Wurden die Slums plattgewalzt, wurden ihre Bewohner an den Stadtrand gedrängt. So verloren die, die bereits arm waren, nicht nur ihr Zuhause, sondern auch die Möglichkeit, in den Vierteln der Reichen als Abfallsammler, Straßenhändler oder Haushaltsangestellte ein bescheidenes Einkommen zu verdienen. Deshalb klammerten sie sich an Menschen wie Colin Gonsalves, die sowohl die Realität der Reichen als auch jene der Armen kannten, sich aber entschieden hatten, für die Rechte der Armen zu kämpfen. Gonsalves erzählt von jener Zeit, von den größten Ungerechtigkeiten, den grausamsten Erlebnissen in ruhiger, leicht nasaler Stimme und lächelt dabei. Muss einer lächeln können, trotz allem lächeln können, um wie Gonsalves jahrzehntelang gegen die systematische Ungerechtigkeit, wie sie in Indien überall sichtbar ist, kämpfen zu können, frage ich mich. Oder ist das Lächeln vielleicht bloß Gonsalves Versuch, seine eigene Verzweiflung zu überspielen? Sein Kampf beschränkte sich nicht auf die Slums. Der Anwalt engagierte sich auch in den Gewerkschaften. In seinem ersten Fall kämpfte er für 5000 Arbeiter, die ihren Job verloren hatten. 1983 gründete Gonsalves dann seine eigene NGO, das Human Rights Law Network. Heute vertreten mehr als 200 Anwältinnen und Anwälte der NGO in ganz Indien die Rechte der Ärmsten: Slumbewohner, Kastenlose, Prostituierte, Tagelöhner, Indigene, Kranke und Behinderte, Frauen und Kinder, die Menschenhändlern zum Opfer gefallen sind. Sie tun das gratis, finanziert durch Spenden oder Beiträge von Klienten, die sich die Anwaltskosten leisten können. Jeder in Indien habe zwar das Recht auf einen Anwalt, sagt Gonsalves, aber: Pflichtanwälte seien schlecht ausgebildet, schlecht bezahlt und engagierten sich deshalb nicht für ihre Klienten. Sie erschienen vor Gericht, wann immer es ihnen gerade passe, oder eben gar nicht. »Viele Anwälte und auch Richter sehen die Armen als bloße Zeitverschwendung, als Menschen, für die man sich nicht einsetzen muss«, sagt Gonsalves. Wer also kein Geld besitzt, hat auch schlechte Karten vor Gericht und noch schlechtere im Gefängnis. Die Vipassana-Meditation, die Bäckerei, das Malatelier im Tihar-Gefängnis – alles bloße Fassade, um Folter, Schläge und sexuelle Übergriffe zu verdecken, die bis heute noch in Tihar existieren. »Nur raffinierter versteckt als früher«, sagt Gonsalves und bestätigt damit, was bereits die Gefängnisreformerin Kiran Bedi gesagt und Jacob in seinen Briefen beschrieben hat.
Irgendwie beruhigt mich das. Wenn das stimmt, dann stimmt vielleicht auch der Rest, den mir Jacob erzählt und den ich am Ende doch nie ganz überprüfen, nur quervergleichen kann.
Im Vergleich zu anderen Gefängnissen im Land sei Tihar jedoch ein Fünf-Sterne-Hotel, fährt Gonsalves fort. Tihar werde, anders als die anderen Gefängnisse, zumindest von Menschenrechtsanwälten und NGO-Vertretern besucht: »Die Gefängnisadministration lässt uns arbeiten, solange wir uns still um die Gefangenen kümmern, sie vertreten und dafür einstehen, dass sie auf Kaution freikommen. Sobald wir aber die Gewalt, Ausbeutung und Erpressung im Gefängnis anprangern, wird auch uns der Zugang verwehrt.« Ihre Arbeit werde so zum Balanceakt in einem zermürbenden System.
Und was erwartet nun Jacob? Noch weitere Jahre der Ungewissheit, ob er in die USA ausgeliefert wird oder freikommt? Jacobs Fall sei eine eigenartige Geschichte, sagt Gonsalves. Jacob habe bereits mehr als drei Jahre im Gefängnis verbracht, während seine Mitangeklagten in den USA ihre Strafe nach wenigen Monaten abgesessen hätten – trotzdem verlangten die USA noch immer Jacobs Auslieferung. Wieso die amerikanischen Justizbehörden die drei Jahre, die Jacob hier bereits hinter Gittern saß, nicht anerkannten und es gut sein ließen, wieso Indien den Amerikanern nicht die Stirn böte, fragt sich Gonsalves und beantwortet die Frage gleich selbst: »Die USA benehmen sich wie ein Kaiserreich, das seinen Vasallenstaat herumkommandiert.« Das Schlimmste dabei sei: Indien lasse sich das gefallen. Ich denke: Herrscher und Beherrschte, Kolonialisten und Untertanen, ein Verhältnis, das über Generationen verinnerlicht wurde und bis heute fortbesteht, obwohl es ja nicht einmal die Amerikaner, sondern die Engländer waren, die den Subkontinent kolonialisiert hatten. Gonsalves scheint meine Gedanken zu lesen und beginnt über das Erbe der englischen Kolonialherren zu sprechen. Noch immer existiere dieses koloniale Denken, dass die Armen, die Landlosen, die Menschen niederer Kasten keine Rechte haben. »Heute sind es nicht die Engländer, die so denken, sondern die, die ihre Plätze eingenommen haben: Richter, Geschäftsleute, Politiker«, sagt Gonsalves und bestätigt gleich noch einmal, was Jacob bereits gesagt hatte. Sie glaubten, wer für die Armen einstehe, für ihr Land und ihre Rechte, verhindere die Entwicklung im Land. Für sie bedeute Entwicklung einzig wirtschaftliches Wachstum. Doch Millionen von Menschen in diesem Land können davon nicht profitieren. »Deshalb brauchen wir eine Revolution, um das zu ändern.«
Den Glauben an ein gerechtes System hat Gonsalves aufgegeben. Wie motiviert sich einer, der in einem Haus lebt und arbeitet, an dessen Fundament er nicht mehr glaubt? »Wir sind wie Ärzte, die aufblühen, wenn andere krank sind, weil sie dann gebraucht werden«, sagt der Anwalt und lächelt wieder. Ihn und all die anderen Menschenrechtsanwälte brauche es, weil die indische Gesellschaft gebrochen und krank sei und sie sich um die Patienten kümmern müssten. »Ich habe keine Hoffnung, dass sich etwas grundsätzlich ändern wird. Das Einzige, was ich habe, ist Geduld und Mitgefühl für meine Patienten«, sagt er. Ein Lächeln aus Mitgefühl also, denke ich und: Vielleicht sind er und seine Anwältinnen und Anwälte wie Balsam für die Verwundeten. Manchmal gelingt es ihnen tatsächlich, jemandem zu helfen. Das ist dann wie ein Wunder, eine Wunde, die heilen kann.

Tihar, 15. Dezember 2011 – Brief von Jacob

Liebe Karin,
heute fühle ich mich stumpf. Drei Jahre Gefängnis haben meinen Geist zermürbt. Ich habe versucht, mich der Dunkelheit und der Einsamkeit anzupassen. Ich sage mir, andere haben Schlimmeres durchgemacht. Ich denke, Schmerz gehört zum Leben. Ich will den Schmerz und meine Einsamkeit in Worte fassen, aber wenn ich nach ihnen suche, dann finde ich nur Leere. Ich konzentriere mich auf meinen Atem, suche nach seiner Gesellschaft, wenn ich mich von allen anderen verlassen fühle. Ich will spüren, dass ich noch lebe, überlebe. Doch dann kommen die Dämonen. Tag für Tag kämpfe ich gegen sie, diese dunklen Schatten, die meine Seele umklammern. Werde ich je rauskommen? Und wenn ja, werden mich die Dämonen dann verfolgen? Werde ich ausgeliefert oder komme ich tatsächlich frei? Wie wird es draußen sein, in der richtigen Welt? Ich, der Single, der Ex-Gefangene. Wer will einen wie mich? Beschädigt und verletzt. Hier drinnen werden Frauen zum Phantom. Unberührbar. Zärtlichkeit ist nicht käuflich.
Das ist der Gefängnis-Film: in Endlosschleifen in den eigenen Abgründen herumirren, dann plötzlich wieder hinausgeschleudert werden, in die fremden Dramen. Ich habe vor ein paar Tagen einen Toten gesehen. Ich kannte ihn kaum, aber am Morgen war er tot, abgestochen, und niemand hat um ihn geweint. Jeder ist verletzlich hinter diesen Mauern. Wie viele Leben hat ein Mensch? Vielleicht so viele wie Katzen? Neun Katzenleben sagen wir in den USA, ihr Europäer gebt ihnen nur sieben. Ich will nicht einmal sieben Leben. Ich will nur eines – in Freiheit!
Heute ist kein Tag zum Schreiben. Ich versuche es an einem anderen Tag wieder.
Mach’s gut
Jacob
Ein Verwundeter, denke ich, und der Balsam von Schwester Suma reicht nicht mehr. Ich erinnere mich an meine eigenen Verwundungen. Momente, in denen ich in den Endlosschleifen meiner Abgründe gefangen war. Was hat mir damals geholfen? Es waren immer Menschen, die zuhörten, einfach nur da waren, vielleicht ihren Arm um meine Schulter legten. Dieses Mitgefühl war Licht genug, um meine eigene Dunkelheit zu erhellen. Dann versuchten sie mich, wie eine Katze aus ihrem Versteck, langsam mit einer Geschichte aus meiner dunklen Ecke hervorzulocken, die Neugier auf die Welt in mir zu wecken. Sie halfen mir, meine kleine, eingestürzte Welt dank der großen, vielversprechenden zu vergessen. Das ist es, wie uns Reisen, und seien es nur Reisen, wie wir sie durch Bücher, Briefe oder Filme erleben, bereichern. Nicht wir selbst stehen mehr im Zentrum der Welt, sondern wir brechen auf, um sie zu erkunden, den Fokus auf anderes und andere zu richten als auf uns. Grund genug, Jacob weiter Briefe zu schreiben, egal wohin diese Geschichte führt.

Neu-Delhi, 19. Dezember 2011 – Gerichtsverhandlung

In den Gängen des Bezirksgerichts Patiala House in Neu-Delhi sitzen Notare, die für ein paar Rupien ihre Dienste anbieten: Sie schreiben auf klapprigen Schreibmaschinen Gesuche und Bittschriften. Andere kopieren den ganzen Tag Dossiers für die Anwälte, die in ihren Talaren herumflitzen. Ich bin gekommen, um bei einer von Jacobs Verhandlungen dabei zu sein, um da zu sein. Es ist ernüchternd.
Schwester Suma und der blinde Pankaj stehen im Gerichtssaal und warten. »Jacob hat mir von dem Vorfall vor Sonus Haus erzählt, von den Bulldozern und Ihrer mutigen Aktion. Was ist danach passiert?«, frage ich die Schwester. Die Nonne seufzt: »Als die Bulldozer weg waren, rief ich einen Anwalt unserer NGO an und wir gingen zusammen zum nächsten Polizeiposten. Wir wollten die Männer, die für die Zerstörung verantwortlich waren, anzeigen. Doch die Polizisten weigerten sich, die Anzeige aufzunehmen. Sie sagten, das sei alles mit rechten Dingen zugegangen, die Bezirksregierung sei informiert und habe den Abriss angeordnet. Schließlich lebten die Leute dort alle illegal auf kommunalem Land. Doch Beweise konnten die Polizisten keine vorlegen.« Schwester Suma und ihr Kollege ließen sich nicht abwimmeln. Da seien die Polizisten wütend geworden, hätten der Nonne und dem Anwalt vorgeworfen, sich in Angelegenheiten einzumischen, die sie nichts angingen. »Sie wollten uns aus der Polizeistation werfen, doch wir wehrten uns. Sie packten uns und wollten uns einsperren. Dann ließen sie von mir ab, aber meinen Kollegen schlugen sie grün und blau und brachen ihm die Hand.«
Auf einmal kommt Bewegung in den Gerichtssaal. Jacob wird mit zwei Stunden Verspätung vorgeführt. Die Anwälte stehen auf, eilen nach vorn und stellen sich vor den Richter, der sie von oben herab über den Brillenrand betrachtet. Er sitzt auf einem imposanten Stuhl, der mich an einen Thron erinnert. Die Anwälte argumentieren gegen die Auslieferung und die unverhältnismäßig lange Haft. »Jacobs Mitangeklagte in den USA sind nur zu drei Monaten verurteilt worden, während Jacob schon seit mehr als drei Jahren sitzt. Ist er nicht genug bestraft?«, fragt Schwester Suma und schaut den Richter herausfordernd an. Klein und zierlich steht sie in ihrem Ordensgewand vor dem fülligen Richter, der die massige Hand, ein Ring an beinahe jedem Finger, auf Jacobs Dossier gelegt hat, das so dick ist wie sein Unterarm lang. Nachdem auch der Staatsanwalt ein paar Worte gesagt hat, wird der Prozess vertagt, der Richter will zum Lunch. Ich suche nach einer Möglichkeit, Jacob in seinem Gefangenentrakt am Gericht zu sehen. Er wirkt niedergeschlagen. Ich möchte ihn am liebsten in den Arm nehmen, ihm wie einem Kind ein Lied vorsingen. Ich mache weder das eine noch das andere.

Kurze Notiz im Dezember – Der Gefängnischef

Gefängnisvorsteher Shamsher Singh hat mich angerufen. Er sagte: »Nun, haben Sie am Wochenende schon etwas vor? Wir könnten essen und dann ins Kino gehen.« Es ist nicht das erste Mal, dass er anrief. Er hat es seit meinem ersten Besuch immer wieder versucht. Das ist also die Gegenleistung, die er so ganz selbstverständlich einfordert. Eines ist klar: Ich werde Jacob nicht mehr im Gefängnis besuchen, nur noch am Gericht. Dort hat Singh keinen Einfluss. Irgendwann wird er sich ein neues Opfer suchen. Bis dahin werde ich seine Anrufe einfach ignorieren und hoffen, dass meine Ablehnung keine negativen Konsequenzen für Jacob haben wird.

Tihar, 20. Dezember 2011 – Brief von Jacob

Liebe Karin,
zuerst möchte ich mich bedanken. Ich hatte mich den ganzen Tag gefreut, dich zu sehen, oder viel mehr, ich hatte gehofft, dass du kommen würdest. Und dann warst du da und hast mir sogar ein Salamisandwich mitgebracht. Das hat mich mehrfach entschädigt für die lange, sinnlose Wartezeit und den nutzlosen Gerichtstermin. Wieder kein Urteil! Wieder Warten bis zum nächsten Termin! Aber dein Sandwich … Wer in Freiheit lebt und jederzeit in Salami und frisches Brot beißen kann, weiß dieses Geschenk nicht zu schätzen. Für mich war es ein Stück Himmel. Alle Nerven in meinem Mund erwachten zum Leben. Als ob meine Sinne explodierten, so, so, so lecker! Verloren geglaubte Geschmacksempfindungen waren auf einmal wieder da. Ich weiß, das mag eigenartig klingen in deinen Ohren, aber glaub mir, die Süße eines Keks, der deftige Geschmack eines Lammcurrys, ein Stück Käse, das im Mund zerschmilzt, all das ist irgendwo in unserer Erinnerung gespeichert. Es ist wie eine Tätowierung deiner Sinne. Wenn du sie jeden Tag siehst, vergisst du sie. Erst wenn sie lange verborgen war, kannst du ihre Schönheit und ihren Wert erkennen. Eine Salamitätowierung also!
Es tut mir auch leid, dass du so lange warten musstest, weil sie dich am Gericht nicht gleich in den Gefangenentrakt gelassen haben. Als mein Bruder hier war, musste er 1000 Rupien bezahlen, damit sie ihn einließen. Natürlich wusstest du das nicht! Deshalb habe ich den Polizisten 500 Rupien gegeben, als sie kamen und sagten, am Tor warte Besuch für mich. Man muss den richtigen Preis anfangs aushandeln, der steht ja nirgendwo geschrieben. Aber ohne Geld geht es auch hier nicht. Die Polizisten hier wissen, dass der Richter den Angehörigen höchstens zwanzig Minuten Besuchszeit erlauben würde, aber selbst die sind mit viel Papierkram verbunden. Mit Geld aber kannst du dir viele Stunden kaufen. Das Gericht ist deshalb der beste und einfachste Ort, um Treffen zu arrangieren. Wer genug bezahlt, kann vor oder nach dem Gerichtstermin sogar einen kleinen Abstecher in ein Restaurant oder zu sich nach Hause machen – sofern er für den Rücktransport ins Gefängnis wieder da ist. Der korrupte Politiker Kalmadi, den du heute auch gesehen hast, macht das oft. Je mehr du zahlst, desto mehr Möglichkeiten kriegst du, kannst Essen, Mobiltelefone, Zigaretten und anderes reinbringen und kannst, wie wir, im Gang auf den Steinstufen sitzen, während die anderen Gefangenen in der dunklen Zelle am Ende des Ganges auf ihre Anhörung warten oder darauf, zurück ins Gefängnis gebracht zu werden. Unzählige Stunden habe ich bereits in dieser dunklen Zelle gewartet und durch die Gitterstäbe dem Treiben im Gang zugeschaut. Das Schlimmste war jeweils der Geruch von frisch gebratenem Huhn, das Angehörige reinbrachten und das vor unseren Augen verzehrt wurde. Wie sie sich jeweils die Finger leckten! Das ist Folter für die Geruchsnerven all jener, die nie besucht werden.
Ich hatte lange Zeit niemanden, der mich besuchen kam. Gefängnis ist eine einsame Sache. Als Gefangener gehörst du zum Abschaum der Gesellschaft. Die Welt hat dich vergessen. Wer dich einmal gekannt hat, verachtet und meidet dich jetzt, als hättest du eine ansteckende Krankheit. Wenn du in Freiheit lebst, sind Besuche keine große Sache. Für einen Gefangenen jedoch wird jeder Besuch zu einem Großereignis. Wenn ich etwa weiß, dass Schwester Suma oder du bei Gericht dabei sein werdet, bin ich so aufgeregt, dass ich mir Tage zuvor schon verschiedene Hemden bereitlege. Ich lasse mir die Haare schneiden und rasiere mich am frühen Morgen. All das tue ich für euch, für euer Lächeln, obwohl ich weiß, dass auch der anstehende Gerichtstermin kein Urteil bringen wird. Zu wissen, dass da draußen jemand ist, der an mich denkt, der mir ein Sandwich zubereitet oder einen Brief schreibt, macht es so viel einfacher, einen we...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Widmung
  4. Inhalt
  5. Neu-Delhi, 11. November 2011 – Tihar-Gefängnis
  6. Neu-Delhi, 20. November 2011 – Die Kämpferin gegen Korruption
  7. Tihar, 13. November 2011 – Brief von Jacob
  8. Neu-Delhi, 15. November 2011 – Der Bruder
  9. Brief von Jacob (Fortsetzung) – Tihar, 13. November 2011
  10. Tihar, 18. November 2011 – Brief von Jacob
  11. Neu-Delhi, 23. November 2011 – Gefängnisbesuch
  12. Neu-Delhi, 1. Dezember 2011 – Der Menschenrechtsanwalt
  13. Tihar, 15. Dezember 2011 – Brief von Jacob
  14. Neu-Delhi, 19. Dezember 2011 – Gerichtsverhandlung
  15. Kurze Notiz im Dezember – Der Gefängnischef
  16. Tihar, 20. Dezember 2011 – Brief von Jacob
  17. Neu-Delhi, 9. Januar 2012 – Gerichtsverhandlung
  18. Neu-Delhi, 12. Januar 2012 – Der Ex-Minister und sein Sohn
  19. Neu-Delhi, 19. Januar 2012 – Der korrupte Politiker
  20. Jacobs Fotoalbum
  21. Tihar, 21. Januar 2012 – Brief von Jacob
  22. Neu-Delhi, 15. Februar 2012 – Gerichtsverhandlung
  23. Tihar, 18. Februar 2012 – Brief von Jacob
  24. Neu-Delhi, Ende Februar 2012 – Freiheit
  25. Neu-Delhi, März 2012 – Alltag
  26. Neu-Delhi, 20. Mai 2012 – Zurück auf Feld eins
  27. Kochi, 12. Februar 2016 – Wiedersehen
  28. Neu-Delhi, 25. Dezember 2016 – Der korrupte Politiker und das Karma
  29. Aschau, 28. Juni 2020 – Die Braut und die Kühe
  30. Bangkok, 15. Januar 2020 – Sieben Leben (oder neun)
  31. Epilog
  32. Impressum