Die Häftlinge
Die meisten Menschen, die nicht beruflich oder – für sie meist weniger erfreulich – privat mit Häftlingen zu tun haben, unterliegen einem Klischee, das aus mehr oder weniger reißerischen Filmen bzw. Fernsehserien gespeist wird. Hannibal Lecter, der fiktive Serienmörder aus der Romanreihe von Thomas Harris, ist den meisten von uns aus dem Film „Das Schweigen der Lämmer“ bekannt. Er verkörpert den hochgradig gefährlichen Gefangenen, gekennzeichnet durch völlige Skrupel-, Gefühl- und Hemmungslosigkeit, geradezu idealtypisch. Es entspricht meiner Erfahrung aus unzähligen Gesprächen mit unterschiedlichsten Menschen, dass die Gefährlichkeit von Häftlingen meist stark überschätzt wird. Dies gilt zumindest für die Mehrheit der in Österreich einsitzenden Häftlinge. Natürlich gibt es auch in Österreichs Gefängnissen einige äußerst gefährliche Gefangene. Bei diesen handelt es sich aber, Gott sei Dank, um eine Minderheit.
Häufig wurde ich zu den Häftlingen befragt und meine Antwort lautete wie folgt: „Mir ist keine andere Organisation als ein Gefängnis bekannt, in der, ganz wertfrei gesehen, so viele interessante Menschen unter einem Dach leben. Vom intelligenten Wirtschaftskriminellen über den verwahrlosten Obdachlosen, den schwer in seiner Persönlichkeit gestörten Kinderschänder, den notorischen Gewalttäter, den schwer süchtigen Drogenabhängigen, den eifersüchtigen Mörder, den Hochstapler, den raffinierten Finanzbetrüger, Spielsüchtigen, die in ihrer Neurose gefangene Betrügerin, den intellektuell unterbegabten Brandstifter und so fort. Sie alle weisen Lebensläufe auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Tatsache des Rechtsbruches, der sie in das Gefängnis gebracht hat. Nicht selten sind es auch vorübergehende Lebenskrisen, die einen Menschen in die Kriminalität und somit in eine Justizanstalt katapultieren. Viele Häftlinge sind also Menschen wie du und ich, die vielleicht etwas Pech hatten oder von einer aktuellen Lebenssituation überfordert waren. Diese Feststellung soll keine Entschuldigung für ihre Straftaten darstellen, ein Stück weit aber Erklärungen dafür liefern.“
Vor diesem Hintergrund sind mir einige ehemalige Häftlinge ganz besonders in Erinnerung geblieben, exemplarisch möchte ich ihre Geschichten beschreiben.
Ältere und erfahrene Justizwachebeamtinnen und -beamte beklagten oft die Veränderungen der Klientel im Gefängnis. Saßen dort früher noch meist „Gauner, auf deren Ehrenwort man sich (vermeintlich) verlassen konnte“, so nahm die Anzahl an suchtmittelabhängigen und persönlichkeitsgestörten Häftlingen im Laufe der Zeit stetig zu.
Ein solcher „ehrlicher Gauner“ befand sich auch zu meiner Zeit noch in Haft. Es handelte sich bei ihm um einen einheimischen Gewohnheitseinbrecher, der immer wieder im „Ziegelstadl“ logierte. Seine Freiheitsstrafen waren meist nicht sehr lang, sodass er im Innsbrucker Gefängnis verbleiben konnte. In jungen Jahren war er Kunstturner gewesen. Dadurch wies er körperliche Bewegungsqualitäten auf, die ihm bei seinem Beruf mit Sicherheit zu Gute kamen. Selbst im fortgeschrittenen Lebensalter überraschte er das Gefängnispersonal fallweise mit einem Salto oder Flickflack auf dem langen Gang der Gefangenenabteilung. Meist war er als sogenannter Hausarbeiter, in der Gefängnissprache auch „Fazi“ genannt, eingeteilt. Bei den Hausarbeitern handelt es sich um Gefangene, welche auf den Gefangenenabteilungen für die Reinigung, Essenausgabe und so weiter zuständig sind. Für derartige Jobs werden nur Häftlinge eingeteilt, denen man ein gewisses Vertrauen entgegenbringen kann. Der genannte Gefangene war ein solcher. Als ich ihn zu Beginn meiner Laufbahn kennenlernte, war er ein Hausarbeiter auf der Abteilung Untersuchungshaft. Mir fiel er vor allem deshalb auf, weil sein „Stockchef“, der damalige Kommandant dieser Abteilung, untertags stundenlang Schach mit ihm spielte. Damals in den 80er Jahren war das Leben auch im Gefängnis noch etwas ruhiger und beschaulicher als in unseren Tagen. Nach seiner Entlassung wurde er später wieder rückfällig, noch dazu unter äußerst unglücklichen Umständen. Eines Nachts war er in eine bekannte Innsbrucker Konditorei eingebrochen. Offenbar vermutete er eine Kassa oder sonstige Wertgegenstände in einem anderen Geschoß. Zu diesem war der Zugang aber fest verschlossen. So versuchte er mittels des Tortenliftes in dieses Stockwerk zu gelangen. Ich verweise an dieser Stelle auf seine turnerischen Qualitäten, zudem war er recht klein von Wuchs. Unglückseligerweise gelang dieses Manöver nur begrenzt. Er blieb im Tortenlift stecken und einer seiner Arme war in der Tür des Tortenaufzugs eingeklemmt. In dieser misslichen Lage war er gefangen, bis frühmorgens der erste Konditor seinen Dienst antrat. Zu dessen Schrecken ragte ein Arm aus dem Tortenlift. Von Feuerwehr, Rettung und Polizei wurde der verhinderte Einbrecher aus seiner fatalen Situation gerettet und unverzüglich wieder in den „Ziegelstadl“ eingeliefert. Zu seinem großen Unglück wurde der eingeklemmte Arm bei diesem misslungenen „Bruch“10 schwer verletzt. Zwar musste der Arm nicht amputiert werden, er konnte ihn aber für den Rest seines Lebens nicht mehr richtig nutzen. Damit war es zu Ende mit den Salti und Flickflacks auf dem Gefängnisgang. Neben diesem Ungemach hatte er als Resultat dieser Geschichte auch noch mit einem Imageproblem zu kämpfen. Die unglückliche Aktion im Tortenlift war Tagesgespräch im „Ziegelstadl“ und auch der lokalen Presse nicht entgangen. Eine Zeitung bezeichnete ihn als den „dümmsten Einbrecher“. Das konnte er natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Beim Zugangsgespräch hatte auch ich ihn auf sein Missgeschick angesprochen. Darauf erklärte er mir, es sei in Wahrheit ja völlig anders gewesen, als die Zeitungen berichteten. Er sei ja nicht so dumm, dass er sich von einem Tortenlift übertölpeln lasse. In Wirklichkeit habe ihn während des Einbruchversuchs eine Depression überfallen und er wollte sich mittels Tortenlift das Leben nehmen. In meinen Augen ein origineller, aber nicht allzu tauglicher Versuch, eine Peinlichkeit durch eine noch größere Peinlichkeit zu kaschieren. Trotz der fortan gegebenen Behinderung seines Armes durfte er wieder als Hausarbeiter arbeiten. Er behielt sein offenes und freundliches Wesen und war beim Personal ein äußerst beliebter Häftling. Ein weiteres Mal habe ich ihn nach seiner Haftentlassung nicht mehr im Gefängnis gesehen. Ich nehme an, er hatte sich auf Grund seiner Behinderung als Einbrecher „zur Ruhe gesetzt“.
Ein ganz anderes Kaliber von Häftling darf ich namentlich nennen, wurde er doch auch vielfach in den Medien genannt. Im Jahr 2019 ist zuletzt ein Buch über sein Leben erschienen: der Südtiroler Max Leitner11. Im August 1990 hatte die „Leitner-Bande“, neben dem Chef noch drei weitere italienische Kriminelle, schwer bewaffnet einen Geldtransporter auf dem Weg vom Brenner nach Innsbruck überfallen. Dieser hatte rund 100 Millionen Schilling an Bord, der Coup hätte sich also durchaus rentiert. Was Max Leitner nicht wusste: Die Polizei hatte offenbar einen Tipp bekommen und die Bande schon seit Wochen observiert. Unweit von Innsbruck kam es schließlich zu einer wilden Schießerei zwischen einer Sondereinsatzgruppe der Polizei und den verhinderten Geldräubern. Diese endete mit der Festnahme und Inhaftierung aller vier Bandenmitglieder. Leitner wurde als Folge des misslungenen Coups zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Später erarbeitete sich Max Leitner mühsam den Titel eines „Ausbrecher-Königs“. Nach eigenen Angaben war er insgesamt 28 Jahre in circa 200 verschiedenen Gefängnissen inhaftiert, davon 27 oder 28 alleine in Marokko. Fünfmal gelang ihm die Flucht aus verschiedenen Gefängnissen, Gott sei Dank aber nie aus dem „Ziegelstadl“. Ich habe Leitner als nicht unattraktiven, blond gelockten jungen Mann in Erinnerung, der keinesfalls den Eindruck eines kriminellen Bandenchefs vermittelte. Auffallend war seine dünne, fast engelhaft klingende Stimme, die mich eher an einen Theologiestudenten oder jungen Priester denken ließ als an einen Schwerkriminellen. Er präsentierte sich während seiner Haft auch äußerst religiös, wollte möglichst oft am Gottesdienst im Gefängnis teilnehmen und wurde häufig in seinem Haftraum am Boden kniend und betend beobachtet. Die Meinungen, ob es sich dabei um echten Glauben oder eine gezielte Show handelte, gingen beim Personal der Justizanstalt auseinander. Immerhin hätte eine derartige Inszenierung ja auch Chancen zum Ausbruch, beispielsweise durch eine Geiselnahme während des Gottesdienstes, eröffnen können. Dies wäre Leitner damals durchaus zuzutrauen gewesen. Andererseits ist auch von großen italienischen Mafiabossen bekannt, dass sie sich einerseits äußerst gläubig zeigten, andererseits, während sie betend beim Gottesdienst knieten, Menschen in ihrem Auftrag ermordet wurden. Sie betrachteten dies nicht zwingend als Widerspruch.
Als besonders bemerkenswerten Häftling habe ich einen jungen Burschen aus einem entlegenen Tiroler Tal in Erinnerung. Er musste im „Ziegelstadl“ einige Monate einer sogenannten Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen. Solche Ersatzfreiheitsstrafen werden gerichtlich angeordnet, wenn der Verurteilte eine rechtskräftig verhängte Geldstrafe nicht begleicht. Der junge Mann wurde zu einer Strafe wegen Paragraph 137 Strafgesetzbuch, „Eingriff in fremdes Jagd- oder Fischereirecht“, auf gut Tirolerisch wegen „Wilderns“, verurteilt. Als damals für den Jugendstrafvollzug im „Ziegelstadl“ zuständiger Psychologe führte ich einige Gespräche mit dem genannten Wilderer. Er vertrat noch die klassischen Wilderer-Ideale. Wildern mit dem Auto unter Einsatz von Scheinwerfern wäre für ihn nicht in Frage gekommen. Er schilderte mir ausführlich, dass er bei seinen Wilderer-Touren noch mit rußgeschwärztem Gesicht und „Fetzen“ um die Schuhsohlen gewickelt, um keine Fußabdrücke zu hinterlassen, am frühesten Morgen auf die Jagd ging. So hätten es auch seine Vorfahren gemacht. Schon sein Großvater hätte gewildert, sein Vater und mehrere seiner Onkel ebenso, warum sollte ausgerechnet er nicht wildern, „nur weil dös in Innschbrugg in an Biachl drinsteht!“ Mit dem „Biachl in Innschbrugg“ meinte er wohl das Strafgesetzbuch. Da ich mich für sein Jagdfieber sehr interessiert zeigte, wollte er mich allen Ernstes dazu einladen, ihn nach seiner Entlassung um fünf Uhr am Morgen und mit rußgeschwärztem Gesicht auf die Jagd zu begleiten. Er betrachtete das Wildern sozusagen als eine Art Tiroler Naturrecht, welches ihm zweifelsfrei zustehe. Diesbezüglich hatte er keinerlei Schuldeinsicht. Freilich ging es ihm nicht nur und ausschließlich um Ganghofer’sche Wilderer-Romantik. Der junge Wildschütz räumte schon auch ein, das erlegte Wildbret an Hoteliers und Restaurantbesitzer gewinnbringend zu verkaufen. Die Nachfrage dieser Klientel nach frisch erlegtem Wildbret wäre riesig.
Eines Tages machten wir mit einigen jugendlichen Häftlingen einen gemeinsamen Gruppenausgang in die Kranebitter-Klamm. Auch unser junger Wilderer war mit von der Partie. Solche Gruppenausgänge sind im Jugendgerichtsgesetz als erlebnispädagogische Maßnahmen vorgesehen. Sie sollen gestrauchelten jugendlichen Straftätern helfen, andere und alternative Formen der Freizeitgestaltung kennen und schätzen zu lernen. Viele jugendliche Häftlinge haben hier in der Tat massive Defizite. Bei diesem Gruppenausgang, ich begleitete die Jugendlichen selbst gemeinsam mit einem Justizwachebeamten, war ich schwer fasziniert vom umfassenden Wissen unseres Schwarzjägers über Flora und Fauna in unserer Natur. Nicht nur dass er uns sämtliche Bäume und Pflanzen genauestens erklären konnte, ordnete er jeden Vogelschrei oder jedes sonstige von Tieren erzeugte Geräusch treffend ein. Anhand der Losung von Tieren konnte er bestimmen, wann das betreffende Tier an der Fundstelle vorbeigekommen war. Anfangs noch etwas ungläubig, überzeugte er mich mit folgender Leistung: Nachdem er unvermittelt stehen geblieben war und wie ein witterndes Wild die Umgebung gemustert hatte, meinte er plötzlich: „Sch… jetzt sind wir zwischen eine Gams und ihr Kitz geraten!“ Wenige Minuten später deutete er nach links hoch über uns auf einen Felsen hinauf und zeigte uns das Muttertier. Nachdem wir auf sein Geheiß ganz leise weitergegangen waren, drückte er mir unseren Feldstecher in die Hand. Tatsächlich konnte ich dann die Gams mit ihrem Kitz rechts unter uns erblicken. In diesem Moment wurde mir klar, wie weit wir Stadtmenschen uns von der Wahrnehmung von Vorgängen in der uns umgebenden Natur entfernt haben. Wäre ich alleine unterwegs gewesen, hätte ich vermutlich weder die Gams und schon gar nicht ihr Kitz wahrgenommen. So beeindruckte mich unser junger Naturbursche durch seine Instinkte und sein Wissen um die Natur wirklich schwer. Ich schlug ihm vor, seine hervorragenden Fähigkeiten und Fertigkeiten doch in den Diensten der offiziellen Jägerschaft ganz legal auszuleben und damit seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Dies würde ihm zukünftige Aufenthalte im „Ziegelstadl“ ersparen. Dazu meinte er nur: „Die Jager nehmen mi als talbekannten Wilderer nimmermehr und außerdem isch dös nit desselbe!“
Ebenfalls mit dem Thema Wildern hatte ein anderer Häftling zu tun, allerdings auf Seiten der Jägerschaft. Auch seinen Namen kann ich nennen, erlangte er doch durch seine Tat österreichweite Bekanntheit: Johann Schett.
Der Jäger Johann Schett hatte am 8. September 1982 den als Wildschützen Verdächtigten Pius Walder in einem Wald bei Kalkstein in Osttirol erschossen. Vom Landesgericht Innsbruck wurde Schett für diese Tat wegen schwerer Körperverletzung mit tödlichem Ausgang zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt. Die Familie des Mordopfers hatte in Zusammenhang mit diesem folgenschweren Schuss stets von „kaltblütigem Meuchelmord“ gesprochen. Angeblich hatte Hermann Walder, Bruder des erschossenen Pius, bei dessen Beerdigung am offenen Grab Rache geschworen. Nun musste der so verurteilte Jäger Johann Schett seine Haftstrafe im Innsbrucker „Ziegelstadl“ verbüßen. Da es sich bei ihm ja grundsätzlich um keine gefährliche Person handelte, konnte er recht bald in den gelockerten Strafvollzug eingeteilt werden. Dies bedeutete, dass er in der anstaltseigenen Ökonomie arbeiten und sich dort weitgehend frei bewegen durfte. Ich erinnere mich noch gut an den urigen Osttiroler mit Bart, stets eine gekrümmte Pfeife im Mund, wenn er auf dem großen Areal des Ökonomiebetriebes der Anstalt herumschlurfte. Die Anstaltsleitung hatte keinerlei Bedenken, dass er seine Haftlockerungen für eine Flucht oder sonstige Ordnungswidrigkeit missbrauchen würde. In diesem Fall hatten wir eher die umgekehrten Bedenken, ob wir nicht den Gefangenen Schett vor einer allfälligen Racheaktion der Walder-Brüder schützen müssten. Immerhin war das Landwirtschaftsareal damals für jedermann völlig frei zugänglich. Da es sich bei Schett jedoch um einen furchtlosen Mann handelte, der Schutzmaßnahmen für seine Person vehement ablehnte, wurde auf eine „Schutzhaft“ für ihn verzichtet. Wir gingen bei der Abwägung dieser Entscheidung davon aus, dass die Folgen eines geschlossenen Vollzuges für einen naturverbundenen Menschen wie Schett verheerender gewesen wären, als das angeführte Risiko in Kauf zu nehmen. Dass unsere damaligen Bedenken aber nicht völlig unbegründet waren, wird durch folgenden Vorfall aus dem Juli 2012, also knapp 30 Jahre später, belegt:
„Für Schlagzeilen sorgte daher auch das Begräbnis Schetts, der am Montagnachmittag 72-jährig in Innervillgraten beerdigt worden ist. Pius Walders Bruder Hermann hatte sich mit einer Tafel vor der Kirche postiert, auf der Vorwürfe wie ‚Mörder‘ zu lesen waren. Nicht als Trauernder, sondern als Rachesuchender begleitete er den Zug zum Friedhof, wo er die Grabrede des Priesters mit lauten Parolen störte. Mehrere Polizisten entfernten ihn schließlich von der Trauerfeier, die Exekutive ermittelt nun wegen ‚Störung einer Bestattungsfeier‘“, wie die Wiener Zeitung vom 24. Juli 2012 schreibt.
Selbstverständlich finden sich in einem Gefängnis aber nicht nur solche Naturburschen wie die beiden zuletzt geschilderten Gefangenen. Nicht wenige Häftlinge sind schwer in ihrer Persönlichkeit gestört und dieser Umstand bringt sie letztlich ins Gefängnis. Psychische Störungen können in völlig unterschiedliche Entwicklungen des Verhaltens eines Menschen münden, manchmal auch in Straftaten, die ihn hinter Gitter bringen. Das möchte ich anhand einiger besonders gravierender Beispiele illustrieren:
Ein Häftling, nennen wir ihn Otto, wies eine schwere, damals als psychopathisch bezeichnete Persönlichkeitsstörung auf. Symptomatisch dafür waren zum Beispiel unkontrollierte Wutausbrüche, fehlende Aggressionskontrolle, autoaggressive Tendenzen et cetera. Zudem bestand bei ihm eine massive Polytoxikomanie, eine Abhängigkeit von Rausch- und Suchtmitteln unterschiedlichster Art. Selbstverständlich konnte sich Otto nur äußerst schwer den einschränkenden Bedingungen der Haft fügen. Eine Möglichkeit, mit diesen Spannungen umzugehen, besteht in der Zufügung von Selbstbeschädigungen beziehungsweise Selbstverletzungen. Bei schwer gestörten Menschen sind diese Selbstverletzungen nicht nur oberflächlicher Natur, sondern äußerst massiv bis lebensbedrohend. In den 80er Jahren waren sowohl das „Schneiden“ als auch das „Schlucken“ als Form der Selbstbeschädigung äußerst populär. Ich erinnere mich an Zeiten in diesen Jahren, als kaum ein Nachtdienst ohne derartige Selbstbeschädigung zu Ende ging. Otto war ein absoluter „Profi“, was derartige Selbstbeschädigungen betrifft. Er hatte sich über einen längeren Zeitraum derart viele Schnittverletzungen an unterschiedlichsten Körperteilen zugefügt, dass ein großer Teil seiner Körperoberfläche völlig vernarbt war und von den Ärzten kaum noch genäht werden konnte. So hatte sich Otto zum Beispiel den Bauchraum einmal derart tief aufgeschnitten, dass seine Gedärme buchstäblich heraushingen und er sie mit beiden blutverschmierten Händen vor dem Hinunterfallen bewahrte. Besonders eindrücklich ist mir im Gedächtnis, dass er sich einmal in einem Arbeitsbetrieb mittels eines Hammers und eines Nagels seinen eigenen Hodensack auf einen Holzschemel nagelte.
Andere Häftlinge wiederum bevorzugten das „Schlucken“ von Gegenständen, bevorzugt von Rasierklingen, Gabeln oder Messern. Man stelle sich vor, ein normales Besteckmesser in üblicher Größe muss man erst einmal „hinunterbringen“. Zur Überprüfung, ob die Behauptung, dass ein Gegenstand verschluckt wurde, überhaupt zutraf, musste der betroffene Häftling jeweils einer Röntgenuntersuchung im Krankenhaus zugeführt werden. Von den Ärzten wurde dann entschieden, ob gegebenenfalls eine operative Entfernung des verschluckten Gegenstandes notwendig war oder aber die berühmte Sauerkrautdiät ausreichte. Der Betroffene bekam dann ausschließlich Sauerkraut serviert, bis der verschluckte Gegenstand auf natürlichem Weg abging.
Warum verletzen sich Häftlinge nun selbst an ihrem Körper? Grundsätzlich ist selbstverletzendes Verhalten ein Ausdruck äußerst starker seelischer Spannungen und kommt auch außerhalb des Gefängnisses zum Beispiel bei Jugendlichen („Ritzen“) nicht selten vor. Als Reaktion auf belastende Umstände wird versucht, daraus resultierende Gefühlszustände zu kontrollieren und die seelischen Spannungen auf diese Art abzubauen. Auch unbewusste Selbstbestrafungstendenzen können dabei eine Rolle spielen.
Psychisch kranke Menschen, die im Strafvollzug gehäuft anzutreffen sind, weisen eine höhere Wahrscheinlichkeit für selbstbeschädigendes Verhalten auf. Dazu kommt in der Haft die Belastung der sozialen Isolation, der Hilflosigkeit und der eingeschränkten konstruktiveren Möglichkeiten, mit den seelischen Spannungen umzugehen. Es handelt sich also um destruktive Bewältigungsstrategien, die den Häftling nicht wirklich weiterbringen, sondern seine Situation längerfristig noch verschlechtern. Natürlich ist es auch ein hilfloser und meist erfolgloser Versuch, sich durchzusetzen, zu erpressen und das Gefängnispersonal unter Druck zu setzen. Erleichtert wird derartiges Verhalten durch den Umstand, dass diese Häftlinge meist einen massiven Missbrauch von legalen (Psychopharmaka) und illegalen Suchtmitteln betreiben, welcher ihr Schmerzempfinden reduziert und somit die Selbstverletzungen erträglicher macht. Zudem schüttet der Körper in derartigen Situationen auch körpereigene Endorphine aus. Dabei handelt es sich um „Glückshormone“, die zunächst auch zu einer Schmerzun...