22.1.1Indikation und Zielstellung
Bei einer komplexen Erkrankung des Bewegungssystems mit behandlungsbedürftigen muskuloskelettalen Befunden und/oder drohender Immobilität, bei welcher vorrangig manualtherapeutische, physio- und trainingstherapeutische Methoden ergänzt durch physikalische Maßnahmen erforderlich sind, erfolgt die Behandlung im Rahmen des neuroorthopädisch funktionellen Behandlungspfades. In der multimodalen Diagnostik finden sich neben den dominierenden Struktur- und Funktionsstörungen zwar auch psychische Einflussfaktoren und/oder Aspekte der Schmerzchronifizierung bzw. soziale Einflussfaktoren, diese liegen aber aufgrund eines geringeren Ausprägungsgrads nicht im Hauptfokus der Behandlung. Nichtsdestotrotz müssen sie jedoch zwangsläufig im Rahmen der Behandlungsstrategie mitadressiert werden.
Hauptziel des neuroorthopädisch funktionellen Behandlungspfades ist neben Schmerzreduktion und Funktionsverbesserung die Wiederherstellung der ambulanten und rehabilitativen Behandlungsfähigkeit.
22.1.2Behandlungsinhalte
Auf Ebene der Struktur- und Funktionsstörungen bedarf es zur individuellen Behandlungsplanung einer möglichst genauen Einschätzung der Relevanz und Akutität der einzelnen Befundkonstellationen (Aktualitätsdiagnose). Bei diesem Prozess ist ein genauer Abgleich der Ergebnisse aus der neuroorthopädischen, manualdiagnostischen, der apparativen Struktur- und Funktionsdiagnostik essentiell. Da beispielsweise radiologisch sichtbare Strukturveränderungen der Wirbelsäule nicht automatisch mit Rückenschmerzen einhergehen (Boden, 1990; Jensen, 1994), kann deren Relevanz häufig nur im Zusammenhang mit den Ergebnissen der manualmedizinischen und/oder apparativen Funktionsdiagnostik verifiziert werden. Unter Umständen wird die Wertigkeit einzelner Befundaspekte erst im Rahmen einer Behandlungserprobung deutlich. Zur Einschätzung der aktuellen Relevanz von diagnostizierten lokalen Schmerzen oder Strukturveränderungen können im Zweifel auch diagnostische Injektionstechniken (z. B. Facettengelenksinfiltrationen) hilfreich sein.
Innerhalb des Behandlungspfades werden die Therapien individuell auf die Befundlage und den Patienten abgestimmt. Abhängig von der Symptom- und Befundkonstellation werden insbesondere die Schwerpunkte der manualmedizinischen Behandlung sowie die begleitenden Maßnahmen angepasst. Essentiell für die individuelle Therapieplanung sind neben der Behandlung der aktuell schmerzrelevanten Einzelbefunde die nachhaltige Verbesserung und Beeinflussung der primären zugrunde liegenden Funktionsstörungen bzw. Komplexbefunde (Kap. 3.2), aus welchen sich Behandlungsschwerpunkte (z. B. segmentale Stabilisation, Stabilisation/ Koordination des Bewegungsmusters, Mobilisierung, Vegetativum) ergeben.
Für den differenzierten Einsatz der balneophysikalischen Maßnahmen ist es sinnvoll, konkrete Therapieziele festzulegen, um im Sinne einer zielorientierten Therapie die geeigneten physikalischen Maßnahmen zu verordnen. Für die konkrete Auswahl begleitender physikalischer Maßnahmen ist zu überlegen, welche Effekte erreicht werden sollen (z. B. Detonisierung oder Durchblutungsverbesserung der Muskulatur, Schmerzlinderung). Je nachdem welches Therapieziel im Hauptfokus steht, kommen unterschiedliche Methoden aus den Bereichen der Elektro-, Hydro- oder den Massagetherapien in Frage. Darüber hinaus sind der Anteil passiver Maßnahmen und der Zeitpunkt ihrer Anwendung im Rahmen von Komplextherapien zu überlegen. Zu Beginn einer Komplextherapie sind passive Behandlungen zur Unterstützung physiotherapeutischer und schmerzlindernder Maßnahmen häufig nützlich, im Behandlungsverlauf ist es bei den meisten Patienten jedoch sehr sinnvoll, den Anteil passiver Maßnahmen im Rahmen der Aktivierung des Patienten zu reduzieren bzw. gering zu halten und in die Eigenverantwortung zu übergeben (z. B. Wärmetherapien). Die Vermittlung von aktiven Therapieanteilen und Eigenübungen ist insbesondere wichtig, um den Patienten im Behandlungsverlauf mehr Eigenverantwortung für ihren Heilungs- bzw. Regenerationsprozess zu übergeben.
Auch wenn psychosoziale Einflussfaktoren in diesem Behandlungspfad nicht im Hauptfokus der Behandlung stehen, ist es doch essentiell, auch im weitesten Sinne psychotherapeutische Elemente in das therapeutische Konzept zu integrieren. Grundlage hierfür ist an erster Stelle die Vermittlung eines biopsychosozialen Krankheitsverständnisses. Die Patienten benötigen nicht nur Informationen zu ihrem Krankheitsbild, sie sollten auch ein Verständnis zu den Mechanismen der Schmerzchronifizierung und der Interdependenz zwischen Körper und Psyche entwickeln. Um das Zusammenspiel zwischen Körper und Psyche erlebbar zu machen, eignen sich insbesondere auch Entspannungstechniken. Neben psychoedukativen Elementen wie Stressbewältigungsmaßnahmen sollten je nach individueller Notwendigkeit auch Schmerzbewältigungsstrategien eingesetzt werden. Dies kann sehr gut in Gruppentherapien und bei Bedarf auch individuell durch Psychotherapeuten geschehen.
22.1.3Therapeutische Behandlungsschwerpunkte
Behandlungsschwerpunkt Stabilisation/Koordination
Wegweisend für die Ausrichtung der einzelnen Therapiebausteine auf einen Behandlungsschwerpunkt Stabilisation/Koordination können beispielsweise folgende im Rahmen der Ebenendiagnostik erhobene Struktur- und/oder Funktionsstörungen sein:
–Hinweise auf eine Insuffizienz der muskulären Tiefenstabilisation mit verminderter Aktivität bzw. Koordination der tiefen Bauch- und Rückenmuskeln (M. transversus abdominis, Mm. multifidi) in Koordination mit Beckenboden und Zwerchfell in der manualmedizinischen Untersuchung (Hodges, 1996);
–Verfettung der Mm. multifidi im MRT, als struktureller Hinweis auf eine Insuffizienz der muskulären Tiefenstabilisation (Hides, 1994; Mooney, 1997);
–Vorliegen oder V. a. zugrunde liegende konstitutionelle Hypermobilität anhand eines entsprechenden Scores auf der Beighton-Skala (Tinkle, 2011) oder anamnestisch (Cave: die Beighton-Skala ist mit zunehmenden Alter möglicherweise nicht mehr positiv);
–strukturelle Instabilität der Wirbelsäule, z. B. bei degenerativer Pseudolisthesis oder Olisthese (Graduierung nach Meyerding, ggf. Wirbelgleiten in Funktionsaufnahmen).
Bei diesen Konstellationen beinhaltet das Therapieprogramm insbesondere Maßnahmen zur Stabilisation und Koordinationsschulung (Kap. 25.2 und 25.3). In der manualmedizinischen Einzelbehandlung sollte insbesondere an der segmentalen Wirbelsäulenstabilität und der Bewegungsmusterkoordination gearbeitet werden. Nach Fazilitation und Aktivierung der tiefenstabilisierenden Muskulatur ist die (Rück-)Integration derselben in alltägliche Bewegungsabläufe mit unterschiedlichen Belastungsmustern wichtig. Ergänzend lassen sich zu diesem Zweck auch neurophysiologische Therapiemaßnahmen (z. B. propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation [PNF], Spiraldynamik) einsetzen. Im Therapieverlauf werden diese Schwerpunkte dann idealerweise in der medizinischen Trainingstherapie mit einem individuellen Trainingsprogramm zur Stabilisation und Koordination weitergeführt.
Behandlungsschwerpunkt Mobilisation
Für einen Symptomkomplex, bei dem primär eine Hypomobilität vorherrscht, finden sich in der Ebenendiagnostik typischerweise folgende Befunde:
–Blockierungsbefunde im Bereich der Wirbelsäule und/oder der peripheren Gelenke;
–muskuläre Verspannungen und/oder Verkürzungen;
–Triggerpunkte oder Tender Points der Muskulatur;
–bindegewebige Verquellungen oder fasziale Hypomobilitäten;
–strukturelle Hypomobilitäten durch knöcherne Überbauungen.
Die Manuelle Medizin zielt selbstverständlich nur auf die reversiblen arthromuskulären und bindegewebigen Dysfunktionen. Zu Behandlungsbeginn wird im Rahmen der manualmedizinischen und physiotherapeutischen Behandlung primär die Hypomobilität mittels Mobilisationstechniken für Gelenke und Faszien adressiert sowie verspannte und verkürzte Muskulatur mit detonisierenden und Dehnungstechniken behandelt. Als begleitende physikalische Maßnahmen könnten beispielsweise Massagen inklusive der Bindegewebsmassage und Unterwassermassage, ggf. auch Blitzgüsse, Schröpfen wie auch detonisierende elektrotherapeutische Verfahren eingesetzt werden. Im Rahmen aktiver Therapiemaßnahmen sind mobilisierende und dehnende Eigenübungen und ein koordinatives Training innerhalb der medizinischen Trainingstherapie angezeigt. Unerlässlich ist das Erlernen einer Entspannungstechnik (progressive Muskelentspannung, Autogenes Training, Atementspannung), um die chronischen Verspannungszustände langfristig zu regulieren und zu reduzieren.
Behandlungsschwerpunkt Vegetativum
Patienten mit chronischen Schmerzen zeigen häufig vegetative Dysregulationen. Diese können neben funktionellen Krankheitssymptomen zu einer generalisierten (z. B. Fibromyalgie) oder regionalen (z. B. CRPS) Hyperalgesie führen.
Wichtigste Therapieschwerpunkte für diese Patientengruppe sind Aktivierung, die Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus und der Ernährung, das Erlernen und langfristige Anwenden von Entspannungsverfahren sowie physikalischen Maßnahmen zur vegetativen Regulierung. Essentiell ist eine nachhaltige Patientenedukation mit dem Ziel, die Patienten zur eigenständigen Fortführung der Therapiemaßnahmen anzuhalten.
In der Einzeltherapie profitieren diese Patienten häufig von einem vermehrten Einsatz vegetativ wirkender Techniken aus dem manualmedizinischen und osteopathischen Bereich, wie z. B. viszerale oder kraniosakrale Techniken. Diese sind jedoch zurückhaltend und allenfalls als Ergänzung zu den langfristig notwendigen Veränderungen der Lebensführung einzusetzen, was mit den Patienten kommuniziert werden muss. Zusätzlich sind balneophysikalische Therapien, wie Fußreflexzonentherapie oder hydrotherapeutische Maßnahmen (z. B. Güsse, Wickelbehandlungen) wirksam, wobei auch hier eine Konzentration auf Maßnahmen erfolgen sollte, die vom Patienten selbstständig weitergeführt werden können. Im Bereich der aktiven Therapiemaßnahmen ist neben regelmäßigen selbst durchzuführenden regulatorischen Maßnahmen (z. B. Sauna, kneippsches Wassertreten, Güsse) auch ein kardiovaskuläres Ausdauertraining einzusetzen. Im therapeutischen Bereich ist dies häufig durch ein Ergometertraining zu erreichen, in der Häuslichkeit ist hierfür das Nordic Walking gut einsetzbar.
22.1.4Schwerpunkt Senioren
Ältere oder geriatrische Patienten benötigen bei deutlich eingeschränkter Belastbarkeit und Mobilität einen speziell auf ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse ausgerichteten Behandlungspfad bzw. ein Therapieprogramm.
Definitionsgemäß wird als geriatrischer Patient der Patient höheren Lebensalters (70 +) mit typisch geriatrischer Multimorbidität sowie generell (aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität) der Patient über 80 Jahre bezeichnet. Unter geriatrietypischen Multimorbiditätskriterien versteht man: herabgesetzte Belastbarkeit, Immobilität, Sensibilitätsstörungen, starke Seh- und Hörbehinderung, Schwindel, Gebrechlichkeit (Frailty). Frailty ist gekennzeichnet durch physische und psychische Erschöpfung, körperliche Schwäche, verlangsamte Gangart sowie verminderte körperliche Aktivität. Hieraus resultiert eine erhöhte Sturzneigung, welche für den alten Patienten unter Umständen fatale Folgen im Sinne von Frakturen mit zunehmender Immobilisierung hat. Ebenso gehören chronische Schmerzen, kognitive Defizite, Depression und Angststörungen sowie Inkontinenz, Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt, Fehl- und Mangelernährung, Dekubitalulcera und Medikationsprobleme in diesen Kriterienkatalog. Typischerweise sind ältere Patienten darüber hinaus durch ein erhöhtes Komplikationsrisiko und eine verzögerte Rekonvaleszenz gekennzeichnet (s. Abgrenzungskriterien der Geriatrie Borchelt/Pientka/Wrobel, 2004).
Die mul...