Die historische Narratolgie hat in den letzten Jahren zunehmend an Relevanz gewonnen. Die Studie entwirft anhand der Auseinandersetzung mit Zeit in Erzähltexten der Frühen Neuzeit eine historische Narratologie, die erzählerische Faktoren, die Struktur der erzählten Welt und semantische Elemente in ihren Ansatz einbindet und somit den Bogen schlägt zwischen formgeschichtlichen und kontextualisierenden Ansätzen. Mit Hilfe dieses Ansatzes werden in kurzen Beispiellektüren, umfassenderen Romanlektüren und durch literarhistorische Seitenblicke die vielfältigen, parallel bestehenden, teils widersprüchlichen Konzepte von Zeit in literarischen Erzähltexten der Frühen Neuzeit rekonstruiert. Die Lektüren führen vor der Folie des frühneuzeitlichen Modernisierungsprozesses vor, dass es in literarischen Texten nicht die eine Zeit gibt, sondern eine Vielzahl von erzählten Zeiten. Die Befunde der Studie lassen sich in methodischer Hinsicht und mit Blick auf kulturgeschichtliche Fragen weiterdenken, interessant sind sie also gleichermaßen für erzähltheoretische wie literarhistorische Forschungsfragen.
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nderliche Ding das Maas seiner Zeit in sich; dies bestehet, wenn auch kein anderes da w
re; keine zwei Dinge der Welt haben dasselbe Maas der Zeit […]. Es giebt also (man kann es eigentlich und k
hn sagen) im Universum zu Einer Zeit unz
hl- bar=viele Zeiten […].1
Absurde Abenteuergeschichten mögen auf den ersten Blick irritierend sein, doch sind sie häufig aufschlussreicher als ihre konventionell erzählten Pendants. Denn im Bruch mit den gängigen Erwartungen an einen literarischen Erzähltext und die in ihm entworfene Welt rücken sie ihre eigene Verfasstheit in den Vordergrund. Zu diesen Geschichten zählt der Fincken Ritter,2 der in der Absurdität seiner erzählten Welt den Blick auf jene poetischen Verfahren lenkt, durch die eine konsistente Welt erst hervorgebracht wird, und der zugleich die Fragen nach seinem generischen wie historischen Ort virulent werden lässt. An ihm will ich exemplarisch das Thema dieser Studie entwickeln und zeigen, wie poetische, generische und kulturhistorische Aspekte in Fragen nach der Zeit zusammenkommen.
Es war einmal: Zu Zeiten des Priesterkönigs Johannes und Jean de Mandevilles begibt sich Policarpus von Kirrlarissa auf Reisen. Die acht Tagesreisen verstricken den selbst erzählenden Helden in wundersame Abenteuer und führen ihn in unwirkliche Gegenden. Am ersten Tag versucht er sich als »grosser Kauffmann« und will »etlich hundert last gedistilliert vernunfft Wasser« in bare Münze umsetzen (FR 135), jedoch wird er von Seeräubern ausgeplündert. Kurzerhand entschließt er sich, der »Ritterschafft nach zu trachten« (FR 135). Und so kommt er in der zweiten Tage-Reise zunächst an einen Ort, »da brandt der Bach / vnnd l
schten die Bauwren mit stro« und »da wurden die Hunde von den Hasen gefangen« (FR 136). Er jedoch zieht unbeeindruckt weiter; die dritte Reise bringt Policarpus mit »drey gesellen« zusammen: einem Blinden, einem Lahmen und einem Nackten. Er weiß zu berichten: »Der Blind der sahe ein Hasen / der auff der steltzen erlieff jhn / vnnd der nacket schobe jhn inn bůsen« (FR 136). Versuche, mit verschiedenen Personen ins Gespräch zu kommen, um nach dem rechten Weg zu fragen, schließen sich an. Aber die Antwort des »h
de[n] alte[n] sch&&&&&ne[n] / hurtige[n]« (FR 136) Mannes, die Policarpus erhält, fällt dabei ebenso nichtssagend aus wie die Äußerungen des Köhlers, des Geistlichen und einer Frau. Während der vierten Tagereise fährt der Held mit einem Schiff, »das nicht da was«, über einen »grossen mechtigen / erschr
ckenlichen / tieffen / vnnd schiffreichen bach / da was kein wasser« (FR 137). Beim Rasenmähen schlägt er sich auf der fünften Tagereise schließlich den Kopf ab und muss ihm hinterherlaufen. Die sechste Tagesetappe führt den Protagonisten in ein Fleisch-Schlaraffenland. Dort trifft er auf einen Lautenspieler, dessen Musikinstrument so groß ist, dass der Held eine Viertelstunde lang durch den Lautenstern ins Innere des Instruments fällt, von wo er nur mithilfe einer Leiter gerettet werden kann. Erst darauf, im Rahmen der siebten Tagereise, wird Policarpus mit einer »růßigen l
cherechten kestenpfannen« zum »Fincken Ritter« geschlagen (FR 139). Damit mehr oder minder am Ziel seiner Reise angekommen, geht es wieder zurück. Mit einem »Windschiff« (FR 140) kehrt er schließlich auf der achten Tagereise heim, stürzt über dem Haus seiner Eltern ab, fällt durch alle Geschosse und wird am Ende, viel Unruhe in der Hausgemeinschaft verbreitend, von seiner Mutter geboren. Dies ist die Geschichte von den »seltzame[n] ding[en]« (FR 134), die der Held gesehen, erlebt und erzählt hat.
Die anonym bei Christian Müller in Straßburg wohl um 1560 erschienene Erzählung führt allerlei Kurioses wie Widersinniges zusammen: Wasser brennt und wird mit Stroh gelöscht; tiefe Bäche führen kein Wasser und müssen doch mit Schiffen, die es eigentlich nicht gibt, überquert werden; Blinde sehen und Nackte verstecken Gegenstände unter ihre Kleider. Die Welt wird nicht nur verdreht zu einem mundus inversus, ihre Kohärenz geht vielmehr ex negativo durch die permanente Negation geläufiger Verfahren der erzählerischen Konsistenzbildung hervor.3 Dabei wird eine Vielzahl topischer, bereits im Mittelalter verbreiteter Motive verschränkt.4 Das Disparate der Erzählung, das aus der erzählerischen »Verbindung des eigentlich Inkompatiblen«5 resultiert, ist in eine logisch inkonsistente Erzählhaltung eingespannt. Erzählt wird, so der Titel, die
History vnd Legend von dem treffenlichen vnnd weiterfarnen Ritter / Herrn Policarpen von Kirrlarissa / genant der Fincken Ritter / wie der drithalb hundert Jar / ehe er geboren ward / viel land duchwandert / vn̄ seltzame ding gesehen / vnd zů letst von seiner Můter f
r todt ligen gefunden / auffgehaben / vnd erst von newem geboren worden« (FR 134).
Der Erzähler berichtet also von Ereignissen, die er selbst Jahrhunderte vor seiner Geburt erlebt hat. Mit Blick auf das Erzählte und auf die Erzählhaltung wird im Fincken Ritter die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des Erzählens akut.6 Die manieristische Absurdität, die fiktional-intertextuelle Verspieltheit und Selbstreflexivität des Fincken Ritters lassen besonders drei Aspekte in den Fokus rücken: einen poetisch-literarischen Aspekt, der die sprachliche Gemachtheit und die evozierten raumzeitlichen Dimensionen der erzählten Welt umfasst, einen generischen Aspekt, der die Gattungsfrage berührt, und einen im weitesten Sinne historischen Aspekt, der die Positionierung des Textes innerhalb des literarischen und kulturhistorischen Feldes der Frühen Neuzeit betrifft. Die Frage nach dem Umgang mit Zeit, so der im Folgenden ausgeführte Gedanke, erweist sich als Klammer, durch die diese scheinbar separaten Felder verknüpft werden.
Rhetorische Figuren des Widerspruchs charakterisieren die Evokation der erzählten Welt: Bach, Baum oder Schiff werden begrifflich aufgerufen, aber durch die ihnen zugeschriebenen, einer Alltagssemantik widersprechenden Eigenschaften zugleich in Frage gestellt. Denn der Bach (eigentlich ein kleines Fließgewässer) ist tief, breit und wasserlos; der Baum (eigentlich eine belebte Pflanze) ist steinern; und das Schiff (also ein greifbares Objekt) ist schlicht nicht vorhanden.7 Das Ergebnis dieser Strategie ist die Inkonsistenz der erzählten Welt. Die Verunsicherung über die ontische Beschaffenheit dieser Welt betrifft gleichermaßen ihre einzelnen Bestandteile wie ihre raumzeitliche Dimensionierung. Obwohl es eine Vielzahl von Ortsangaben gibt und die Erzählung durch die »Tagreysen« temporal gegliedert ist, fehlen der erzählten Welt die »Koordinaten räumlicher Ordnung ebenso wie ein gesicherter Ablauf der Zeit«.8 Das Geschehen vollzieht sich in einem »irrealen Raum« und einer »irrealen Zeit«.9 Der Protagonist hat nämlich »manich K
nigreich vnnd landschafften weit vnnd breyt durchzogen / vnd sie besehen«,
[e]ben zů denselben zeiten / als der groß Chan vonn Cathay / zů Straßburg inn der Růprechts Auwe regiert / vnnd Herr Johann von Monteuilla / Ritter auß Engelland / die gantze Welt / so weit der Hymmel blaw / vmbzogen ist. Da Priester Johann von Jndia / auff der Haller Wisen zů N
renberg / bey den Kemmetfegern / neben dem Kettenbrunnen zů Heidelberg / gegen des Babylonischen seyffenwebers hauß vber / ein Probst des Paradeyses war (FR 135).
Die Widersprüchlichkeit gründet in diesem Fall nicht darin, dass Dingen konträre Eigenschaften zugeschrieben werden, sie betrifft vielmehr Raum und Zeit als weltkonstituierende Kategorien.10 Der Geschichte mit ihrem achttägigen Reiseschema liegt eine »Pseudozeitlichkeit« zugrunde;11 die »völlig unsinnigen Zeit- und Ortsangaben« entziehen das Erzählte einem »rationalen Zugriff«12 und verweigern damit einen unmittelbar erfassbaren Sinn.13
Relativ vage fallen auf dem Titelblatt die paratextuellen Gattungsangaben aus: Eine »History« und »Legend« sei der Fincken Ritter (FR 134). Die Bezeichnung ›history‹, wenngleich im 16. Jahrhundert weit verbreitet, benennt keine Gattung im engeren Sinne. Ihre Bedeutung oszilliert – unabhängig davon, ob mit Blick auf Prosa- und Versdichtungen oder auf Malerei – zwischen realem und fiktivem Geschehen.14 Ähnliches lässt sich auch mit Blick auf die Benennung »Legend« attestieren: Obgleich sie in der Regel als Terminus für Heiligenviten fungiert, dient sie darüber hinaus dazu, eine ›Erzählung‹ im Allgemeinen zu bezeichnen. Bereits bei Martin Luther ist die vielsagende Umdeutung von »Legende« zu »Lugende« belegt, mit der die Verschiebung vom Realen zum Erlogenen einhergeht.15 Eine wohl Ende des 16. Jahrhunderts erschienene Ausgabe des Fincken Ritters nutzt diese Umdeutung, indem der Titel zu »Historia vn̄ lugendt« geändert und damit die Fragen nach dem kommunikativen Status des Textes sowie nach dem Status des Erzählten exponiert werden.16 Das Bewusstsein für stabile literarische Formen ist nicht so stark ausgebildet, dass paratextuelle Begriffe zur eindeutigen generischen Bezeichnung bereitstehen; zugleich muss das Wissen um literarische Formen insofern ausgeprägt sein, als die im Fincken Ritter eingesetzten Verfahren der Anspielung und der verfremdenden Abweichung nicht ins Leere gehen. Für das Gelingen dieses voraussetzungsreichen Spiels spricht der Druckerfolg des Textes.17
Mit dieser generischen Offenheit, die im 16. Jahrhundert die Standardsituation darstellt,18 hat sich die Forschung schwergetan. Zunächst in der Tradition des 19. Jahrhunderts als »Volksbuch« bezeichnet, zählt Bodo Gotzkowsky den Fincken Ritter aufg...
Inhaltsverzeichnis
Cover
Titelseite
Impressum
Vorwort
Inhalt
1 Einleitung
2 Zeit als Schlüsselkonzept frühneuzeitlicher Transformationsprozesse
3 Historische Narratologie
4 Erzählte Zeiten: Dimensionen der Relationalität
5 Temporale Heterogenität und ihre Beschreibung – eine Zusammenfassung
6 Generische Hybridität in Warbecks Die schön Magelona
7 Zeit und Liebe: Temporale Spannung im Ritter Galmy
8 Doppelte Spannung in der Historia Von D. Johann Fausten
9 Heterogene Raumzeiten in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch
10 Das zeitlose Abenteuer und die Verzögerung der Frist: Die Asiatische Banise
11 Numerische Ästhetik in der Insel Felsenburg
12 Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit – ein Rück- und Ausblick