Raum und Interieurs in Thomas Manns Erzählwerk
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Raum und Interieurs in Thomas Manns Erzählwerk

Materielle Kultur zwischen 'Welthäusern' und 'Urdingen'

  1. 320 Seiten
  2. German
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Raum und Interieurs in Thomas Manns Erzählwerk

Materielle Kultur zwischen 'Welthäusern' und 'Urdingen'

Über dieses Buch

Das 19. Jahrhundert sei "wohnsüchtig" gewesen, diagnostizierte Walter Benjamin einst. Das "Raumgefühl" (August Schmarsow) dieser Epoche prägt das literarische Werk Thomas Manns. Die Studie deutet Manns literarische Raumentwürfe nicht biographisch oder textimmanent, sondern begreift sie als Versuchsanordnungen zur materiellen Kultur, denen diskursanalytisch, wissensgeschichtlich und ideologiekritisch auf den Grund zu gehen ist. Dazu werden die in einschlägigen Werken Manns entworfenen Raumsemantiken in genauen Textlektüren profiliert: Die Arbeit untersucht etwa die Buddenbrooks im Hinblick auf zeitgenössische Diskurse um Interieurs und bürgerlichen Lebensstil; sie geht dem spatialisierten "Feindbegriff" (Reinhart Koselleck) des Barbarischen im Zauberberg nach und analysiert Topographien der Exilerfahrung in Joseph und seine Brüder. Ihr spezifisches Erkenntnisinteresse ermöglicht neue Einsichten auch zu vermeintlich "ausinterpretierten" (Helmut Koopmann) Texten.

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Information

1Einleitung und Problemstellung

Thomas Manns ‚wohnsüchtiges‘ Zeitalter
„[A]uch mir sagte er voraus, daß ich ewig […] an den Lift gebunden bleiben und nie den
Betrieb des Welthauses unter einem anderen Gesichtswinkel als diesem speziellen und
beschränkten kennenlernen würde.“
Aus: ‚Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‘.
„‚Urdinge, klassische Tatsachen, Sie rühren, junger Mann, mit Ihrem gewandten kleinen
Wort an heilige Gegebenheiten‘ […].“
Aus: ‚Der Zauberberg‘.
Dass man das 20. Jahrhundert dereinst als „Zeitalter des Raumes begreifen“1 würde, antizipierte vielleicht am prägnantesten und am hellsichtigsten Walter Benjamin. Diese Antizipationsleistung konstituiert sich nicht in einem abstrakten Theoriegebäude, einem in irgendeiner Weise ‚Benjamin’schen‘ Raumbegriff. Sie konstituiert sich in verstreuten Reflexionen und Gedankensplittern, im scharfen Blick auf den „Möbelstil“,2 die „Dinge“3 und generell die Raumkonzeptionen des schon aus Benjamins Sicht nächstälteren, des 19. Jahrhunderts. Das „Wohnen“, so Benjamins Beobachtung, müsse schlechterdings als „Daseinszustand des neunzehnten Jahrhunderts begriffen werden“:4 In jenem „wohnsüchtig[en]“5 Säkulum verliere der Raum, spezifisch der bewohnte und gestaltete Raum des bürgerlichen Interieurs und der modernen Großstadt, gleichsam seine Unschuld und werde zum Gegenstand kulturwissenschaftlichen Interesses. Das „wohnsüchtig[e]“ 19. Jahrhundert
begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument […] in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. […] Wohnen als Transitivum – im Begriff des ‚gewohnten Lebens‘ […] – gibt eine Vorstellung von der hastigen Aktualität, die in diesem Verhalten verborgen ist. Es besteht darin, ein Gehäuse zu prägen.6
Erst in dieser Gemengelage „betritt der Privatmann den geschichtlichen Schauplatz“ und grenzt den „Lebensraum“ von der „Arbeitsstätte“ ab: „Der erste konstituiert sich im Interieur. Das Kontor ist sein Komplement.“7 Und in dieser Gemengelage, das zeigen Benjamins Überlegungen anschaulich, wird Räumlichkeit ebenso bedeutungsschwer wie prekär.
Für Benjamin entwickelt sich also das „Wohnen“ im 19. Jahrhundert zum genuinen „Daseinszustand“, zum aufwendig konstruierten und inszenierten „Futteral“ des Privatmanns, das mit Prozessen der Identitätsbildung verschränkt ist (schließlich soll der Akt des Wohnens „ein Gehäuse […] prägen“). Diese Entwicklung erweist sich einerseits als intellektuell und ästhetisch produktiv: Sie ermöglicht eine „spatialization of historical time“,8 die Verräumlichung der subjektiven (Zeit-)Erfahrung. Die „Projektion des zeitlichen Verlaufes in den Raum“9 eröffnet Deutungs- und Bewältigungspotenziale im Umgang mit der erschütternden Erfahrung der Moderne. Dementsprechend kann Benjamin in seiner ‚Berliner Kindheit um neunzehnhundert‘ gezielt „das autobiographische Subjekt […] in den Hintergrund“ versetzen und „an seiner statt räumliche Gegebenheiten sprechen“10 lassen. Auf diese Weise werden Räume oder „Raumbilder“ zu Medien der Wissenskonstitution – eine Tendenz, die Benjamin schon für die Raum- und „Geschichtsauffassung des XVII. Jahrhunderts“ ausmacht: „[D]er zeitliche Bewegungsvorgang [wird] in einem Raumbild eingefangen und analysiert. Das Bild des Schauplatzes […] wird Schlüssel des historischen Verstehns.“11
Andererseits birgt solche starke semantische und epistemologische Aufladung des Raumes Krisenpotenzial. Sie stellt hohe Anforderungen an den sich im Raum orientierenden Menschen, der sein „Gehäuse zu prägen“ hat. Neben das Moment einer potenziell erkenntnis- und identitätsstiftenden Verräumlichung tritt folglich die Gefahr der Paralyse, insbesondere in Form des Interieurs und des „Möbelstil[s] der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts“.12 Der als „Futteral“ eingerichtete Raum, der mit seinen schützenden „Sammethöhlen“, „Gehäusen“, „Schoner[n]“, „Läufer[n]“, „Decken und Überzüge[n]“13 die Kontingenz der entfesselten Moderne bannen soll, kann ebenso gut zum locus terribilis, zum Ort des „Schrecken[s]“ werden, zum paradigmatischen Schauplatz der nicht zufällig im 19. Jahrhundert aufkommenden literarischen Gattung des „Kriminalroman[s]“:14
Die Anordnung der Möbel ist zugleich der Lageplan der tödlichen Fallen und die Zimmerflucht schreibt dem Opfer die Fluchtbahn vor. […] Das bürgerliche Interieur der sechziger bis neunziger Jahre mit seinen riesigen, von Schnitzereien überquollenen Büfetts, den sonnenlosen Ecken, wo die Palme steht, dem Erker, den die Balustrade verschanzt und den langen Korridoren mit der singenden Gasflamme wird adäquat allein der Leiche zur Behausung. ‚Auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden.‘ Die seelenlose Üppigkeit des Mobiliars wird wahrhafter Komfort erst vor dem Leichnam. […] Dieser Charakter der bürgerlichen Wohnung, die nach dem namenlosen Mörder zittert, wie eine geile Greisin nach dem Galan, ist von einigen Autoren durchdrungen worden, die als ‚Kriminalschriftsteller‘ […] um ihre gerechten Ehren gekommen sind.15
Gerade die „Dinge“, die den Raum strukturieren, werden in diesem Zusammenhang bedrohlich:
Aus den Dingen schwindet die Wärme. Die Gegenstände des täglichen Gebrauchs stoßen den Menschen sacht aber beharrlich von sich ab. In summa hat er tagtäglich mit der Überwindung der geheimen Widerstände […], die sie ihm entgegensetzen, eine ungeheure Arbeit zu leisten. Ihre Kälte muß er mit der eigenen Wärme ausgleichen, um nicht an ihnen zu erstarren und ihre Stacheln mit unendlicher Geschicklichkeit anfassen, um nicht an ihnen zu verbluten. Von seinen Nebenmenschen erwarte er keine Hilfe. […] [A]lle fühlen sich als Vertreter einer aufsässigen Materie, deren Gefährlichkeit sie durch die eigene Roheit ins Licht zu setzen bestrebt sind.16
Benjamins Diagnosen sind also ambivalent. Er konstatiert einen Bedeutungsgewinn des Parameters ‚Raum‘ im 19. Jahrhundert, sowohl in seinen eng umrissenen Erscheinungsformen – als mit „Dingen“ vollgestopftes ‚bürgerliches‘ Interieur – wie auch mit Blick auf das Phänomen der modernen Großstadt. Benjamin erkennt mithin den Parameter ‚Raum‘ lange vor dem sogenannten spatial turn als wichtiges Objekt kulturwissenschaftlicher Analyse: Der intensivierte Raumbezug des „wohnsüchtig[en]“ 19. Jahrhunderts impliziert eine zunehmende, von der Sphäre adlig-höfischer Repräsentation losgelöste und in den Bereich einer ‚bürgerlichen‘ Privatheit verlagerte Verstrickung spatialer Strukturen in Prozesse der Bedeutungsgenese, der Erzeugung von Identität und Wissen. Diese Prozesse können auch scheitern oder in die Irre führen, wenn Räume in „seelenlose[r] Üppigkeit“ erstarren und die „aufsässige[] Materie“ sich nicht in eine sinnvolle Ordnung bringen lässt.
Benjamins eingehendes Nachdenken über Räume ist exemplarisch für Herausforderungen und Fragen, die sich ab dem 19. Jahrhundert stellen und die man mit Walter Prigge unter den Überbegriff einer „Epistemologie des Raumes“ gruppieren könnte: „Die irreduzible symbolische Qualität von räumlichen Repräsentationen alltäglicher sozialer Realitäten“, das „Städtische als die entscheidende Episteme der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur“, sowie der „Riß zwischen den Räumen subjektiver Erfahrung und objektiver Erkenntnis“ – „[w]ie läßt sich dieses Knäuel von Problemstellungen einer Epistemologie des Raumes entwirren?“17 Auch die vorliegende Arbeit wird dieses „Knäuel“ nicht gänzlich „entwirren“ können. Sie wird aber die Frage nach dem Aufkommen einer neuartigen „Epistemologie des Raumes“ im 19. Jahrhundert aus anderer Perspektive stellen: aus der Perspektive einer diskurs- und wissensgeschichtlich interessierten Literaturwissenschaft, für die in diesem Fall nicht wie bei Benjamin der „Kriminalroman“ das ästhetische Paradigma eines verstörend neuen und potenziell problematischen Raumsensoriums bildet, sondern das Erzählwerk des wohl bekanntesten und kanonischsten deutschsprachigen Autors, den das „wohnsüchtig[e]“ Zeitalter hevorbrachte – das Erzählwerk Thomas Manns.

1.1‚Soziale Effektivität‘ und ‚seelenlose Üppigkeit‘

Die ‚Erfindung‘ eines neuen ‚Raumgefühls‘ im 19. Jahrhundert
Die aktuelle Forschung datiert die ‚emergence of the interior‘ ähnlich wie Benjamin, der den „Privatmann“ mit seinem „Interieur“ im 19. Jahrhundert auftreten lässt. Erst seit dem „beginning of the nineteenth century“, so Charles Rice, werde der Begriff „interior“ überhaupt in der Bedeutung „[t]he inside of a building or room, esp. in reference to the artistic effect“18 verwendet. Inneneinrichtungen gab es zuvor natürlich auch, aber das Interieur des 19. Jahrhunderts als „bourgeois manifestation“ zeugt von jenem janusköpfigen neuen Raumgefühl, das Benjamin mal als Mittel „historischen Verstehns“, mal als Trigger „seelenlose[r]“ Stasis begreift: Das Interieur des 19. Jahrhunderts
conceptualized a particular emerging and developing consciousness of and comportment to the material realities of domesticity, realities which were actively formed in this emergence, and which […] could also become transformed and destabilized through it.19
Das bewohnte Interieur bildete sich, wie zuvor das gemalte im Zuge der „Entdeckung des Raumklimas“ durch die Interieurmalerei, als „eigener Geltungsbereich“ heraus, der die „Strukturen des Seins absicher[n]“20 sollte, diese „Strukturen“ aber auch – analog zu Benjamins Beobachtungen – gefährden konnte. Oder, in Penny Sparkes prägnanter Zusammenfassung:
By the eighteenth century a model of bourgeois privacy and domesticity […] had spread across Northern Europe. It was joined at that time by the idea of ‚comfort‘, which had originated in the aristocratic French interior. A century later the concepts of privacy, domesticity and comfort had converged to fulfil the needs of the new middle-class population which had arrived on the back of industrialization and urbanization […]. The translation of those values into visual, material and spatial form resulted in the emergence of the nineteenth-century domestic interior.21
Das Wohnen, das also „gerade in der bürgerlichen Kultur“ des 19. Jahrhunderts „einen einschneidenden Bedeutungswandel“22 erfuhr, wurde in jener Zeit zur „kulturelle[n] Metapher“, sodass es „eine besondere Präsenz“23 erlangte. Nicht nur die „physische Schutzfunktion der Wohnung“24 war fortan von Belang, sondern vor allem das Potenzial des Innenraums als Arena von Identitätsstiftung und Selbstinszenierung.
Mit der ‚emergence of the interior‘ erhielt das ‚kulturelle Wissen‘ des 19. Jahrhunderts – die „Gesamtmenge dessen, was eine Kultur […] über die Realität annimmt […]; d. h. […] die Menge aller von dieser Kultur für wahr gehaltenen Propositionen“25 – eine Vielzahl neuer Abschattungen, was den Parameter ‚Raum‘ und dessen Semantik betrifft. In Anlehnung an Albrecht Koschorkes These von der „Schließung des Horizonts“26 in und ab der „nachromantischen Literatur“27 kann man mit Saskia Haag festhalten, dass dem „nun durch feste Elemente gegliedert[en], beschränkt[en] und in die Immanenz zurückgeführt[en]“ Raum „eine neuartige motivische und epistemische Relevanz“28 zukam: ebenjene epistemische Relevanz, die Benjamin früh erkannt und auch problematisiert hatte. In diesem Kontext, da sich um die Beschaffenheit des von Menschen gestalteten und bewohnten Raumes ein regelrechter „Diskurskomplex“29 entwickelte, wurde Thomas Mann geboren und sozialisiert – ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Dank
  6. Inhalt
  7. 1 Einleitung und Problemstellung
  8. 2 Funktion und Dysfunktion des bürgerlichen Interieurs in ‚Buddenbrooks‘
  9. 3 ‚Buddenbrooks‘ und die Anfänge der Wohnsoziologie
  10. 4 ‚Kult‘ und ‚show‘ im Großherzogtum
  11. 5 Barbaren im entzeitlichten Raum
  12. 6 Wüste, Garten, Zelt
  13. 7 Rudimente des ‚Unpolitischen‘ im Spätwerk
  14. 8 Zusammenfassung und Ausblick
  15. Bibliographie
  16. Register