Nicht-Naives Erzählen
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Nicht-Naives Erzählen

Folgen der Erzählkrise am Beispiel biografischer Schreibweisen bei Helmut Krausser

  1. 213 Seiten
  2. German
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Nicht-Naives Erzählen

Folgen der Erzählkrise am Beispiel biografischer Schreibweisen bei Helmut Krausser

Über dieses Buch

Was ist 'Naives Erzählen' und wieso gilt es als obsolet? Diese Arbeit untersucht die poetologischen Auswirkungen der modernen Erzählkrise auf die deutschsprachige Literatur der Jahrtausendwende am Beispiel einiger Romane Helmut Kraussers. Zum einen analysiert sie als ein Beitrag zur Helmut-Krausser-Forschung die auffällige Häufung biografischer Schreibweisen in seinem Werk. Zum anderen bestimmt sie dieses Werk als prototypisch für ein Schreiben nach der sogenannten 'Wiederkehr des Erzählens', eine literarische Prosa, die gegenüber den komplexeren Ansprüchen von literarischer (Post-)Moderne immer aufs Neue ihre 'Nicht-Naivität' zu beweisen hat. Gezeigt wird, welche konkreten Auswirkungen die Erzählkrise als regulierendes Diskursphänomen auf das 'Neue Erzählen' seit den 1990er Jahren immer noch hat.
Die Arbeit leistet einen substantiellen Beitrag zur Krausser-Forschung und markiert sowohl in ihren begriffsbestimmenden Teilen als auch vor allem im analytischen Teil selbst eine Forschungsposition zum Status des 'Neuen Erzählens' nach der Postmoderne.

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Information

Jahr
2018
ISBN drucken
9783110582635
eBook-ISBN:
9783110584110

1Einleitung

In dieser Arbeit werden die Auswirkungen der modernen Erzählkrise auf die deutschsprachige Literatur der Jahrtausendwende am Beispiel einiger Romane Helmut Kraussers untersucht. Helmut Krausser (*11. Juli 1964) ist einer der produktivsten Schriftsteller seiner Generation. Sein publiziertes Werk umfasst derzeit vierzehn Romane, eine Biografie, zwei Erzählbände, drei weitere längere Erzählungen, vier Lyrikbände, über ein Dutzend Bühnenwerke (inkl. einer bearbeitenden Übersetzung von Shakespeares Julius Cäsar), diverse Opernlibretti und mehrere Hörspiele. Hinzu kommen zahlreiche kleinere schriftstellerische Projekte (etwa ein Kinderbuch) und unselbstständige Publikationen, Songtexte für seine ehemalige Band Genie&Handwerk aus den 1980er Jahren, ein zwölfteiliges Tagebuchprojekt, für das Krausser von 1992 bis 2004 jeweils einen Monat pro Jahr zur nachmaligen Publikation Tagebuch führte, sowie ein weiterer Tagebuchband von 2014. In letzterem sind Teile seiner drei ansonsten nicht zugänglichen Vorlesungen zu finden, die er 2007 während seiner Poetikprofessur in München gehalten hat. Darüber hinaus betätigt sich Krausser seit einiger Zeit wieder als Musiker, dieses Mal nicht als Sänger und Texter der Post-Punk-Band Genie&Handwerk, sondern unter anderem als Komponist klassischer Kammermusik.
Diese Vielseitigkeit, die Spannweite seines Werks, und der offensichtliche Wille, künstlerisch und literarisch möglichst viele Stile, Gattungen und Bereiche abzudecken, machen Krausser zu einem der interessantesten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Obwohl Krausser kaum Literaturpreise gewinnt – bisher zählen dazu der Tukan-Preis 1993 der Stadt München für seinen Durchbruchsroman Melodien1 und der Prix Italia 1999 für das Hörspiel Denotation Babel2 – kann er auf eine seit über 25 Jahren gewachsene Leserschaft vertrauen und von seiner Kunst leben. In den letzten Jahren ist sein Werk von der Literaturwissenschaft auch als Forschungsgegenstand immer wieder und teilweise intensiv rezipiert worden. Die beiden größeren Monografien, die sich mit Kraussers Werk beschäftigen – Torsten Pätzolds Textstrukturen und narrative Welten (2000) und Matthias Pauldrachs Die (De-)Konstruktion von Identität in den Romanen Helmut Kraussers (2010) –, sahen sich noch einer relativ kleinen Anzahl von Forschungsbeiträgen zu Krausser gegenüber: Pätzold spricht davon, Krausser sei „literaturwissenschaftlich kaum beachtet worden“ (Pätzold 2000, 171); Pauldrach hält fest, es existiere „zu Helmut Krausser kaum wissenschaftliche Literatur“ (Pauldrach 2010, 17), kann aber immerhin schon auf einige Diplomarbeiten3 verweisen, auf „einzelne Dissertationen und Monographien“ (Pauldrach 2010, 17), die Krausser in einzelnen Kapiteln behandeln, sowie auf den von Claude D. Conter und Oliver Jahraus herausgegebenen Sammelband Sex – Tod – Genie (2009) und den inzwischen erschienenen text+kritik-Band Helmut Krausser (2010), herausgegeben von Tom Kindt. Als weitere Monografie ist seit Pauldrachs Bestandesaufnahme einzig Martin Rehfeldts Literaturwissenschaft als interpretierende Rezeptionsforschung (2017) hinzugekommen, das Rehfeldts Rezeptionstheorie an Kraussers Werk erprobt. Inzwischen sind Kraussers Texte zwar regelmäßig Gegenstand von literaturwissenschaftlichen Aufsätzen, trotzdem ist die Sekundärliteratur zu Krausser immer noch mit Vollständigkeitsanspruch überschaubar.
Diese Arbeit setzt sich zwei Dinge zum Ziel. Erstens wird das Phänomen der Erzählkrise, das ein inzwischen standardisiertes ideengeschichtliches Erklärungsmuster gewisser Aspekte der literarischen Moderne darstellt, in seiner Wirkmächtigkeit ernstgenommen: Gezeigt wird, dass die Erzählkrise die poetologischen Diskussionen der deutschsprachigen Literatur seit gut hundert Jahren prägt, teilweise dominiert – trotz der diversen in diesem Zeitraum ausgerufenen epochalen und poetologischen Zäsuren. Anhand von Helmut Kraussers Texten wird dargelegt, welche konkreten Auswirkungen die Erzählkrise als regulierendes Diskursphänomen auf die Literatur seit den 1990er Jahren immer noch hat. Zu diesem Zweck möchte ich das sogenannte (Nicht-)Naive Erzählen als analytische Kategorie etablieren.
Zweitens versteht sich die Arbeit vor allem als Beitrag zur Krausserforschung. In ausführlichen Analysekapiteln werden Texte von Krausser in ihrer Machart, ihrer bisherigen Rezeption und ihrer Position im jeweiligen poetologischen Feld ausgeleuchtet. Wo meine Analysen dabei bisherige Forschungsergebnisse bündeln, tun sie dies mit Fokus auf ein bei Krausser häufig vorkommendes Phänomen, das von der Forschung bisher kaum behandelt wurde: den diversen biografischen Schreibweisen, die Krausser über Jahre hinweg in fiktionalen, und zuletzt auch faktualen Kontexten zum Einsatz brachte. Schwerpunkte der bisherigen Forschung zu Krausser liegen in Werkanalysen, seinem Verhältnis zur Postmoderne sowie seinen intertextuellen Verfahrensweisen. Biografik bei Krausser ist bisher nur sehr spärlich behandelt worden. Obwohl Biografik und biografische Schreibweisen in Kraussers Schreiben vielerorts anzutreffen ist, geriet sie bisher fast nirgends als eigenständig behandeltes Thema in den Blick.
Bei den in dieser Arbeit analysierten Texten handelt es sich teilweise um von der Literaturwissenschaft verhältnismäßig vielbesprochene Romane Kraussers, etwa Melodien (1993), Der große Bagarozy (1997) oder Eros (2006). Diese wurden bisher aber nirgends hinsichtlich ihrer biografischen Erzählanteile gesondert betrachtet. Hinzu kommen jüngere, von der Forschung teilweise noch kaum oder gar nicht wahrgenommene, genuin biografisch erzählende Texte wie Die kleinen Gärten des Maestro Puccini (2008), das dazugehörige Die Jagd nach Corinna (2007) und die Biografie Zwei ungleiche Rivalen – Puccini und Franchetti (2010). Kraussers Verhältnis zur Erzählkrise wurde trotz zahlreichen Beiträgen zur Postmoderne ebenfalls noch nicht gesondert behandelt.

1.1Fragestellung: Nicht-Naives Erzählen bei Helmut Krausser

In seinen für die Publikation geschriebenen Tagebüchern, hier dem Tagebuch des April 2004, positioniert sich Krausser rückblickend mit folgenden Worten im poetologischen Feld der Literatur der 1990er Jahre:
In der Musik hat sich das Verlangen nach Tonalität weitgehend durchgesetzt, ehemals als reaktionär geltende Positionen sind nun federführend, die Avantgardisten von einst verkriechen sich in entlegensten Burgen, die sie krampfhaft verteidigen, obwohl deren Existenz kaum noch jemanden interessiert oder auch nur auffällt. Zu Beginn der Neunziger standen Erzähler noch unter dem Verdacht des Publikumsopportunismus. Heute eine kaum mehr vorstellbare Diskussion. (Krausser 2006, 226)
Das war 2004, mehr als zehn Jahre nach Kraussers Erfolgsroman Melodien, der in Anlehnung an Patrick Süskind und Umberto Eco in eine ‚Wiederkehr des Erzählens‘ genannte Phase der neueren deutschsprachigen Literatur eingeordnet werden kann (vgl. Abschnitt 2.3). Krausser zieht mit der obigen Aussage eine durchaus typische Bilanz der 1990er Jahre – typisch daran ist die Aufteilung des literarischen Lagers in sprachfixierte Avantgardisten gegenüber meist nicht weiter definierten ‚Erzählern‘ (vgl. Abschnitt 2.4), typisch ist vor allem die darin immer noch zum Ausdruck kommende Skepsis gegenüber letzteren. Der erste Teil dieser Untersuchung widmet sich deshalb der Darstellung dieses Phänomens: Einer bestimmten Literatur haftet seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert der Ruf an, naiv zu erzählen. Erzähltexte, die ihre Faktur und Fiktionalität nicht ständig zur Disposition stellten, galten lange als nicht salonfähig. Kraussers Urteil, diese Diskussion schon 2004 als ‚kaum mehr vorstellbar‘ zu bezeichnen, war wohl etwas vorschnell, denn sie wurde und wird damals wie heute unter sich zwar stets ändernden Voraussetzungen, aber mit erstaunlich rekurrenten Argumenten immer wieder geführt. Auch in Kreisen des Literaturbetriebs in den späten 1990er Jahren war diese Denkfigur noch tonangebend: „Wenn man sich, noch dazu als Verlagslektor, zu einer ‚Renaissance des Erzählens‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zustimmend äußert, steht man unter Verdacht […] aus rein kommerziellen Erwägungen banale, historisch längst erledigte Formen wiederbeleben zu wollen […]“ (Hielscher 1998, 35), und sie blieb, so eine These dieser Arbeit, in wenn auch veränderter Form zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts aktuell. Das damit angesprochene Problem betrifft das modernistische Misstrauen gegenüber realistischen Erzähltechniken sowie der narrativen Konfiguration von Ereignissen. Es geht um die Zweifel an der Darstellbarkeit der Welt durch Sprache, also um die spätestens seit der Klassischen Moderne geläufigen Bedenken, dass „das Erzählen der Realität nicht gerecht zu werden vermag“ (Kindt 2008, 215). Zu diesem genuin modernistischen Problem kann man sich als (nach-)moderne/r Autorin oder Autor literarisch unterschiedlich verhalten: Man kann es entweder ignorieren und einfach realistisch weitererzählen (wie es die Masse der Literatinnen und Literaten auch im zwanzigsten Jahrhundert stets getan hat). Oder man kann es theoretisch und poetologisch ernst nehmen und versuchen, diese ‚Unzulänglichkeit‘ der Sprache in literarischen Verfahren mitzureflektieren – dieses Erzählverhalten charakterisiert die Klassische Moderne mit ihren diversen, u. a. erkenntnistheoretisch motivierten ‚Krisen‘ ja unter anderem als solche. Diese Erzählkrise hatte weitreichende, keineswegs nur fiktionale Literatur betreffende Konsequenzen für den Darstellungsmodus ‚Erzählen‘ im gesamten zwanzigsten Jahrhundert: Insbesondere wurde Narrativität in den Geschichtswissenschaften4 problematisiert, wie etwa Hayden Whites stark rezipierte Thesen5 zeigen (vgl. Abschnitt 2.2.2). Das seit der Klassischen Moderne als ‚Krise des Erzählens‘ bezeichnete Unbehagen gegenüber traditionellem Erzählen ist auch in der Postmoderne und der Gegenwartsliteratur noch wirksam. Die sogenannte ‚Wiederkehr des Erzählens‘, die in Abschnitt 2.3 ausgeführt wird, lässt sich auch nur vor dem Hintergrund des oben skizzierten Unbehagens verstehen. Da ‚traditionelles‘ Erzählen nach wie vor als ‚naiv‘ gilt, müssen sich Autorinnen und Autoren, die demonstrieren wollen, dass sie poetologisch, historiografisch und erkenntnistheoretisch dem aktuellen Reflexionsniveau entsprechen können, literarisch gegen diesen Vorwurf verwahren. Dieser poetologischen Situation wird die Arbeit nachspüren. Dazu wird zunächst geklärt, wodurch das oben skizzierte Misstrauen gegen „jedes naive, realistische Erzählen“ (Rohde 2010, 192) motiviert ist.
Bisher wurde es in der Forschung unter zwei Schlagworten verhandelt: Demjenigen der modernistischen Erzählkrise, aber auch demjenigen der ‚Fiktionskritik‘, welche aber weniger zweideutig als ‚Kritik an Fiktionalität‘ bezeichnet werden sollte.6 Der zweite Aspekt (‚Kritik an Fiktionalität‘) betrifft ein besonders in den 1960er und -70er Jahren verbreitetes Misstrauen gegenüber fiktionalem Erzählen bzw. die Frage, ob dieses noch gesellschaftlich relevant sein könne. Als Reaktion kam es zu einer Vielzahl von ,dokumentarischen‘ Literaturformen7 (Dokumentartheater, Milieureportagen etc.). Dieser zweite Punkt – die Fiktionskritik – spielt im gegenwärtigen poetologischen Diskurs nahezu keine Rolle mehr und wird auch in dieser Arbeit wenig Beachtung finden. Da allerdings einige der prominentesten Literaturgattungen (allen voran der Roman) sowohl fiktional als auch narrativ sind, wurden diese beiden Aspekte in der Diskussion der vergangenen Jahrzehnte in theoretischen Abhandlungen über die Erzählkrise oft (und oft zum Nachteil von Klarheit) vermischt.
Meine Fragestellung ist, inwiefern die topisch gewordene ‚Erzählkrise‘ des frühen zwanzigsten Jahrhunderts auch Ende des zwanzigsten und zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts die Produktionsästhetik bzw. die Poetologien von deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftstellern beeinflusst (hat) und inwiefern die in diesem Rahmen eingesetzten Erzählverfahren dazu dienen, sich im literarischen Feld zu positionieren. Pointiert gefragt: Was ist ‚naives Erzählen‘, wieso gilt es als obsolet und inwiefern prägt es um die Jahrtausendwende immer noch die poetologische Reflexion über zeitgemässes Erzählen? Hier ist besonders darauf hinzuweisen, dass ich nicht die kritische Abwertung des Begriffs naiv übernehme, sondern damit eine seit langem die poetologischen Diskussionen bestimmende Wendung übernehme und als analytische Kategorie rekonstruiere und verfügbar mache. Die ‚Erzählkrise‘ ist inzwischen zur Formel geworden, um die Auswirkungen der erkenntnistheoretischen Neuerungen im frühen zwanzigsten Jahrhundert (erkenntnistheoretischer Skeptizismus, Konstruktivismus) auf Narrativität als Darstellungsmodus zu benennen. Da sich diese von erkenntnistheoretischem Skeptizismus gespeiste Kritik an Narrativität einerseits und Fiktionalität andererseits entzündet, scheint besonders eine literarische Gattung geeignet, dieses Phänomen literaturgeschichtlich für die letzten Jahrzehnte zu verorten und seine Auswirkungen auf die Poetologie der Gegenwartsliteratur sichtbar zu machen: die Biografie, und zwar besonders in fiktionalen Kon- und Kotexten. Anhand des zeitgenössischen Autors Helmut Krausser, der in seinem fiktionalen Werk oft biografische Erzählverfahren einfließen lässt, wird diese Fragestellung untersucht werden. Im Folgenden wird dabei häufiger von Poetologien und von Poetiken die Rede sein. Mit Poetik ist hier „ein explizit normierendes System poetischer Regeln, das in geschlossener Form […] schriftlich niedergelegt wird“ (Fricke 2007, 101), gemeint, während Poetologie (entgegen Frickes Vorschlag im Reallexikon) im Wesentlichen eine implizite Poetik bezeichnet, also den „Inbegriff jener immanenten dichterischen Regeln oder Maximen, denen ein Autor […] bzw. ein poetischer Text […] bzw. ein literarisches Genre […] stillschweigend folgt […]“ (Fricke 2007, 100 f.).
Meine Hypothese ist, dass der erkenntnistheoretische Skeptizismus des modernistisch geprägten Erzählens ab den 1980er Jahren zwar einen Funktionswandel (im Sinne nicht-naiv eingesetzter ‚realistischer‘ Erzähltechniken) durchlebt hat, das erkenntnistheoretische Problem (und damit der Anspruch, ‚nicht-naiv‘ zu erzählen) aber auch für die Erzählweise von Schriftstellerinnen und Schriftstellern um die Jahrtausendwende virulent bleibt. Daran anknüpfend gehe ich davon aus, dass eine der wichtigsten aus der Moderne nachwirkenden poetischen Wertungskategorien diejenige der ‚Adäquatheit‘ von Wirklichkeitsdarstellung hinsichtlich jeweils aktueller Erkenntnistheorie ist (vgl. Abschnitt 2.1.1.2). Dieser relationale Wertungsbegriff kann, so soll gezeigt werden, anhand des aus der Literaturkritik entlehnten Begriffs des nicht-naiven Erzählens, analytisch (und nicht nur literaturkritisch) fruchtbar gemacht werden. Anhand von Helmut Kraussers Texten kann man nachzeichnen, wie in der Diskursform Literatur konstruktivistische und skeptizistische Wirklichkeits- und Erzählmodelle geprüft, spielerisch entworfen und schliesslich von einem skeptizistischen in einen ‚affirmativen‘ narrativen Konstruktivismus transformiert werden. Dies ist meine Kernthese zu den behandelten Krausser’schen Texten: In ihnen wird in vollständigem Bewusstsein modernistischer Erzählskepsis der Versuch unternommen, kohärente, ‚lesbare‘ (vgl. Barthes 1987, 8–10) Erzählungen zu schreiben, da sich Narrativität inzwischen – und eben im Gegensatz zu modernistischen Positionen (vgl. unten Abschnitt 2.2.2) – als unhintergehbarer Wahrnehmungsmodus präsentiert.
Meine Methode fußt auf einer angelsächsisch geprägten Narratologie und einer strukturalistisch informierten Hermeneutik, welche sich mit Narrativität als Kulturpraxis,8 als kognitives Instrument zur Wahrnehmungsorganisation9 und als historischer bzw. historiografischer Diskursform beschäftigt. Den Vorteil meiner Herangehensweise sehe ich in der Kohärenz der Fragestellung, die die einzelnen Phänomene einerseits ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Danksagung
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Nicht-Naives Erzählen und moderne Erzählkrise(n)
  8. 3 Werkanalysen
  9. 4 Schlusswort
  10. 5 Literaturverzeichnis
  11. Personenregister