Mit der obigen Definition und dem damit identifizierten Gegenstand sind – wie gerade nur kurz angedeutet – vielfältige praktische Fragen verbunden, aber auch einschlägige linguistische Erkenntnishorizonte. Sie alle sollen in den folgenden Kapiteln in einigen zentralen Aspekten behandelt werden. Erschöpfend wird das an keiner Stelle gelingen können, orientierend und fokussierend aber hoffentlich schon. Der erste Punkt betrifft die Frage, welche sprachlichen Zweifelsfälle in der deutschen Gegenwartssprache existieren. Dazu kommt eine forschungspraktische Dimension: Welche Möglichkeiten gibt es überhaupt, eine solche Frage zu klären? Das ist eine theoretisch-methodologische Problematik, deren Erörterung für die empirische Ermittlung von sprachlichen Zweifelsfällen von großer Bedeutung ist (Kap. 1.1). Wenn wir wissen, wie man sprachliche Zweifelsfälle ermitteln kann, ist es interessant, einen ersten Überblick über die verschiedenen Klassen und Typen sprachlicher Zweifelsfälle im gegenwärtigen Deutsch zu skizzieren. Das umfasst auch die Reflexion über die Entstehungsursachen dieser sprachlichen Einheiten (Kap. 1.2). Darauf aufbauend lässt sich die Frage nach der Einordnung der sprachlichen Zweifelsfälle in eine realistische Theorie der Sprachkompetenz erörtern. Damit wird eine zentrale Fragestellung der modernen Sprachwissenschaft, gebrochen durch die Zweifelsfallperspektive, ins Spiel gebracht: Welche Rolle spielen Zweifelsfälle, wenn man den Aufbau der menschlichen Sprachfähigkeit wissenschaftlich rekonstruieren möchte? Einfacher gesagt: Über welches Vermögen verfügt ein Sprecher, wenn er mit einem sprachlichen Zweifelsfall konfrontiert ist? Was kann er? Was kann er nicht? Was sollte er können? (Kap. 1.3). Im weiteren werden die sprachlichen Zweifelsfälle in einem sprachnormativen Rahmen aufgegriffen. Denn die Frage nach richtiger bzw. falscher Sprache steht bei der alltagssprachlichen Thematisierung von Zweifelsfällen oft im Vordergrund, so gut wie immer im Hintergrund. Was ist denn nun die richtige Variante? Was ist die falsche? Und wie hängen eigentlich sprachliche Zweifelsfälle und Sprachfehler zusammen? Auch wenn in der Sprachwissenschaft solche normativen Fragen gerne unter den Tisch gekehrt werden, wäre eine Einführung in das Problem der sprachlichen Zweifelsfälle ohne die Thematisierung der sprachnormativen Dimension im höchsten Maße unvollständig (Kap. 1.4).
1.1Identifikation sprachlicher Zweifelsfälle
Welche sprachlichen Zweifelsfälle gibt es derzeit im Deutschen? Wie lassen sie sich realistisch in der Sprachwirklichkeit ermitteln? Die Beantwortung dieser Fragen ist für ein Buch über Zweifelsfälle von großer Bedeutung. Sie betreffen die Identifikation sprachlicher Zweifelsfälle. Dazu ist vorab der generelle Ausgangspunkt für derartige Ausblicke zu klären. Bei der Zweifelsfallidentifikation zählt im Prinzip jedes Individuum, das zur deutschen Sprachgemeinschaft gehört. Alle Menschen, die in einer bestimmten Kommunikationssituation über sprachliche Varianten nachdenken, stellen faktisch einen Beleg für die Existenz eines Zweifelsfalls dar. Von sprachwissenschaftlichem Interesse sind freilich weniger die vielen verstreuten Einzelfälle, sondern diejenigen Fälle und Typen, die bei vielen Sprechern immer wieder beobachtet werden können. Denn tatsächlich ist es so, dass sich die Zweifelsfälle nicht völlig zufällig über alle Sprechergruppen und alle Bereiche der Sprache verteilen. Von der Existenz eines Zweifelsfalls wird man also, analog zur üblichen wissenschaftlichen Sprachbetrachtung, sinnvollerweise erst dann sprechen können, wenn derselbe Fall (oder zumindest strukturell ähnliche Zweifelsfälle) bei vielen Sprechern wiederholt auftaucht. Nur dann kann man annehmen, dass hier tatsächlich die deutsche Sprache, sozusagen als überindividuelle Einheit, einen Zweifelsfall aufweist. Zweifelt lediglich eine Einzelperson, liegt noch kein relevanter Zweifelsfall vor. Dem widerspricht natürlich nicht, dass man als einzelner Sprecher sehr wohl ein gutes Gefühl dafür haben kann, an welchen Stellen vermutlich auch andere Sprecher zweifeln werden. Im Gegenteil: wenn wir auch für andere Sprecher mehr oder weniger treffsicher urteilen können, dass bestimmte Varianten für sie vermutlich einen Zweifelsfall darstellen, so wird damit die Annahme gefestigt, dass es sich bei sprachlichen Zweifelsfällen um einen überindividuellen, kollektiv greifbaren Bereich einer Sprache handeln muss. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei ferner ausdrücklich festgehalten, dass sprachliche Zweifelsfälle nichts mit Versprechern oder ähnlichen Planungsproblemen beim Kommunizieren zu tun haben.
Zweifelsfälle gehören zur Sprache
Sprachliche Zweifelsfälle werden hier also als Einheiten verstanden, die in einem starken Sinn zur deutschen Sprache gehören, genauso wie der Buchstabe <ß>, die Verbletztstellung in subjunktionalen Nebensätzen, das Flexionsparadigma von gehen oder das Wort Pipifax. Zur Verdeutlichung der Problematik lässt sich das sogar noch etwas verschärfen. Denn die eben getroffene Existenzaussage gilt nicht nur für Zweifelsfälle, sondern im selben Sinne auch für die Varianten, aus denen Zweifelsfälle definitionsgemäß immer bestehen müssen. Die Varianten, die einen Zweifelsfall konstituieren, sind Bestandteile der deutschen Sprache. Es sind keine abseitigen Phantasieprodukte einzelner Sprecher, sondern real existierende Einheiten, aus denen sich die deutsche Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer komplexen Art und Weise zusammensetzt. Dass es Varianten gibt, über die man in Zweifel geraten kann, verrät uns also einerseits etwas über die zweifelnden Sprecher, andererseits aber auch etwas über die deutsche Sprache und die Art und Weise, wie ihre Architektonik von der sie tragenden Sprachgemeinschaft begriffen wird. Kurz gesagt: Zweifelsfallanalyse ist Sprachanalyse unter besonderer Berücksichtigung von Sprecherperspektiven.
So weit, so trivial. Aus diesen vorläufigen Klärungen ergibt sich jedenfalls eine erste Antwort auf die Frage, wie man ermitteln kann, welche Zweifelsfälle es im Deutschen gibt: Wer wissen möchte, welche sprachlichen Zweifelsfälle zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Sprache existieren, muss erheben, über welche sprachlichen Formen viele Sprecher tatsächlich ins Grübeln geraten und sich nicht einfach für eine der anstehenden Varianten entscheiden können. Zugespitzt gesagt: Wer als Sprachwissenschaftler nur isoliert und kontextlos ein einzelnes Variantenpaar in den Blick nimmt, wird ohne weitere empirische Befunde oder argumentative Überlegungen nicht entscheiden können, ob ein Zweifelsfall vorliegt oder nicht. Einen theoretischen Zugang zur Existenz von sprachlichen Zweifelsfällen gibt es nicht. Vielmehr müssen dazu stets empirische Ermittlungen oder zumindest realistisch gehaltene Vermutungen über real zweifelnde Sprecher herangezogen werden.
Ermittlung von sprachlichen Zweifelsfällen
Der Königsweg zur Ermittlung der Zweifelsfälle einer Sprache läge demnach darin, das gesamte Sprachverhalten sämtlicher Sprecher sowohl auf schriftlicher als auch auf mündlicher Basis permanent zu beobachten. Dann könnte man diejenigen Situationen aussondern, in denen die Sprachproduktion stockt und über zwei Varianten nachgedacht wird. Eine solche Perspektive ist natürlich unrealistisch. Auch mit den modernsten technischen Hilfsmitteln wird niemand diese riesige Datenmenge erheben können, um Zweifelsfälle sozusagen flächendeckend zu identifizieren. Dazu kommen rechtliche Hindernisse, weil man das Einverständnis aller abgehörten Menschen voraussetzen müsste. Also ist nach anderen Wegen zu suchen, um das Zweifelsfallpotenzial einer Sprache auszuloten.
Andeutungsweise lässt sich hier über vieles nachdenken. Eine Möglichkeit bestände z.B. darin, in realen Kommunikationssituationen nach Anhaltspunkten zu suchen, die als (erste) Hinweise auf die Existenz von Zweifelsfällen gedeutet werden könnten. So gibt es beispielsweise bestimmte, sozusagen retrospektiv gerichtete Formulierungen, die zumindest in vielen Fällen zeigen, dass die Kommunikation stockt, weil ein Sprecher bzw. Schreiber über alternative Formulierungen nachdenkt. Solche Formulierungen sind etwa (Oder) wie heißt es richtig…, (Oder) wie heißt das nochmal…, (Oder) wie sagt man das nochmal?, (Oder) wie muss man das nochmal sagen, (Oder) sagt man das jetzt anders oder ähnlich. Nach solchen zweifelsfallindizierenden Formulierungen lässt sich dann, was schriftliche Kommunikation angeht, relativ leicht mit elektronischen Suchmaschinen fahnden, um die entsprechenden Kommunikationssituationen näher zu analysieren und eventuellen Zweifelsfällen auf die Spur zu kommen. Hat man so verschiedene Fälle ermittelt, könnte man mit weiteren Klassifizierungen und Fallanalysen fortsetzen. Allerdings dürfte es mit einem solchen Zugriff immer noch recht schwer fallen, eine nennenswerte, womöglich repräsentative Anzahl von (typischen) Zweifelsfällen zu identifizieren und daran tragfähige Folgeuntersuchungen durchzuführen. Denn üblicherweise erfolgt unsere Kommunikation eben ohne das Stocken, das die Existenz von Zweifelsfällen anzeigen könnte.
Sprachberatungsstellen und sprachliche Zweifelsfälle
Es geht aber auch einfacher. Denn hier kommt uns für das Deutsche der Umstand zugute, dass seit einiger Zeit Anlaufstellen existieren, wo sich die sprachlichen Zweifelsfälle sozusagen institutionell greifbar verkörpern. Gemeint sind die verschiedenen Sprachberatungsstellen, bei denen man telefonisch, per E-Mail oder postalisch um Auskunft bitten kann, wenn man sich vor sprachliche Probleme gestellt sieht. An erster Stelle ist hier die Sprachberatung der Redaktion des Duden-Verlags zu nennen. Er gilt bekanntlich in der Sprachgemeinschaft als erste Instanz in allen sprachlichen Fragen. Die staatlich geförderte Gesellschaft für deutsche Sprache unterhält ebenfalls eine Sprachberatungsstelle. In der Zeitschrift Der Sprachdienst wird regelmäßig über die Arbeit dieser Stelle berichtet, manchmal auch im Rahmen umfangreicherer Erhebungen und Auswertungen (Frilling 2004, 2005). Mittlerweile werden daraus auch ausgewählte Fragen und Antworten auf einer Internet-Seite präsentiert (GfdS 2016).1 Auch die Stiftung Deutsche Sprache bietet eine Anlaufstelle für die praktische Sprachberatung.2
Daneben haben sich an einzelnen Universitäten auch sog. grammatische Telefone oder ähnliche Abteilungen etabliert, bei denen man sich in sprachlichen Zweifelsfällen beraten lassen kann. Zur Zeit gibt es ein entsprechendes Angebot an den Hochschulen in Aachen, Duisburg-Essen, Innsbruck (Kienpoitner 2002), Regensburg, Siegen, Vechta, sowie vom Verein Deutsche Sprache und dem Deutschen Sprachrat. Zwischenzeitlich wieder eingestellt wurden die Grammatischen Telefone an den Universitäten Potsdam und Halle. Dasselbe Schicksal ereilte – soweit ersichtlich – die Sprachberatung des Wahrig- bzw. Wissen-Media-Verlags, die aus der 1998 entstandenen Bertelsmann-Sprachberatung hervorgegangen war (Riegel 2007: 43). In der Zwischenzeit sind darüber hinaus noch Internet-Foren und -Portale entstanden, die ähnliche Funktionen besitzen wie die traditionellen Sprachberatungen. Sie tragen aber – mit der Ausnahme des besonders einschlägigen Angebots der Universität Gießen3 – meistens einen weniger institutionalisierten Charakter.4
Was die Aussagekraft dieser Sprachberatungen für die Existenz sprachlicher Zweifelsfälle angeht, so sollte man sich der Tatsache bewusst sein, dass die dortigen Anfragen sicher nur den Gipfel eines Eisbergs bilden. Denn längst nicht bei jedem Zweifelsfall resultiert die sprachliche Irritation in einem Anruf bei einem grammatischen Telefon. Der Regelfall dürfte eher sein, dass man sich ohne weitere Konsultation, aber mit einem mulmigen Gefühl für eine der Varianten entscheidet. Oder man schlägt in irgendwelchen sprachbezogenen Ratgebern nach und versucht sein Problem auf diese Art und Weise zu klären. Auch kurze Internet-Recherchen, Korrektur-Software oder eine Befragung anderer Personen dürften zu den üblichen Möglichkeiten gehören, die Irritationen bei sprachlichen Zweifelsfällen zu bewältigen. Nicht zuletzt kann man dem jeweiligen Problem vollständig aus dem Weg gehen und eine alternative sprachliche Formulierung nutzen, also sozusagen einen dritten Weg wählen. Trotz dieser relativierenden Perspektiven bleibt der Befund, dass die Anfragen von Ratsuchenden bei den Sprachberatungen durchaus als symptomatisch für das Zweifelsfallpotenzial gelten können, das der deutschen Sprache derzeit innewohnt.
Die Erkundigungen, die bei den Sprachberatungsstellen eingehen, wurden in verschiedenen Hinsichten genauer ausgewertet. Diese Analysen reichen mitunter bis in die sprachlichen Verhältnisse der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Sie sind also teilweise schon etwas älter, spiegeln aber wahrscheinlich immer noch die generellen Tendenzen, die für die empirische Identifikation von sprachlichen Zweifelsfällen von Bedeutung sind. Im Jahre 2002 wurde ausdrücklich konstatiert, dass sich die Verhältnisse in den letzten fünfzig Jahren offensichtlich kaum verändert haben (Müller 2002).
Zunächst zeigen die Erhebungen, dass die Anfragen bei den Sprachberatungsstellen nicht immer Zweifelsfälle betreffen. Wer etwa wissen möchte, woher das Wort Kinkerlitzchen kommt oder ob man sein Kind Cola nennen darf, steht nicht vor einem Zweifelsfall. Denn hier geht es nicht um Sprachvarianten, zwischen denen sich ein Sprecher nicht entscheiden kann, sondern um fehlendes Wissen bei Fragen, die keine Formulierungsvarianten betreffen. Vor diesem Hintergrund wurden in der Literatur gelegentlich „Suchfragen“ bzw. Fragen nach „Sachinformationen“ („W-Fragen“) von „Entscheidungs-“ bzw. „Vergewisserungsfragen“ („E-Fragen“) unterschieden. Im einen Fall ist „Neugier“ als Grundmotivation für die Anfrage anzunehmen, im anderen ein „Sprachproblem“ (Riegel 2007: 55; Kolde 1976). Nur bei den „Sprachproblemen“ kann man sinnvollerweise von der Existenz sprachlicher Zweifelsfälle sprechen.
Was die Verteilung der Anfragen im Sprachspektrum angeht, so sticht ins Auge, dass die meisten Anfragen graphematischer Natur sind. Die Angaben schwanken zwischen ca. 34% (Frilling 2005: 71) und ca. 58% aller Anfragen (36% Orthographie + 22% Interpunktion) (Mackowiak/Steffen 1991: 519, ganz ähnlich Cölfen 1996: 11, Höhne 1990: 91, zum Vergleich auch Nutzerdaten der Duden-Grammatik bei Hennig 2010: 3...