1 Sprechen und Handeln
Das „Miteinandersprechendsein“967 der Subjekte lässt sich, so Martin Heidegger in Rückgriff auf Aristoteles, als notwendige Eigenschaft wie Voraussetzung des Subjekts lesen:
So sehen Sie, daß in dieser Bestimmung […] ein fundamentaler Charakter des Daseins des Menschen sichtbar wird: Miteinandersein. Und zwar nicht etwa Miteinandersein im Sinne des Nebeneinandergestelltseins, sondern im Sinne des Miteinandersprechendseins in der Weise der Mitteilung, Widerlegung, Auseinandersetzung.968
„Mitteilung, Widerlegung, Auseinandersetzung“ als Diskursivierung und intersubjektive Kommunikation lassen sich für den zoon politikon im Sinne von Aristoteles jedoch nicht nur als grundlegende menschliche Eigenschaft begreifen – gleichwohl zeichnet sich der Mensch als zoon logon echon durch ebendiese aus –, sondern stellen zugleich die Grundbedingung des politischen Handelns und der politischen Existenz dar. Der Mensch wird jedoch erst im Sprechen, das Hannah Arendt auch als Handeln969 begreift, zum zoon politikon, wie Arendt in Abgrenzung zu Aristoteles zeigt: „Zoon politikon: als ob es im Menschen etwas Politisches gäbe, das zu seiner Essenz gehöre. Dies stimmt gerade nicht, der Mensch ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen.“970 Arendt sieht folglich das Politische im Menschen nicht als angeborene ‚Essenz‘, sondern als Eigenschaft, die erst durch Praktiken bzw. durch das Handeln hervorgebracht werden muss. Die Voraussetzung für die Exekution der Praktiken der politischen Subjektivierung ist ein Raum, in dem die (legitimen) politischen Sprechakte realisiert werden können; die Exklusion des Anderen aus dem Raum der Auseinandersetzung als politischer – und damit zu vernichtender – Feind im Sinne Carl Schmitts ist hierbei zu vermeiden.971 Vielmehr soll sich der Raum der Diskussion und Subjektivation, der „Erscheinungsraum“972 im Sinne Arendts, durch einen konstruktiven politischen „Agonismus“973 auszeichnen, wie Chantal Mouffe in Abgrenzung zu Schmitt herausstellt, bei dem „die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen“.974
Die Möglichkeit, in einem „gemeinsamen symbolischen Raum“,975 so Mouffe, die Stimme erheben zu dürfen bzw. überhaupt mit einer Stimme versehen und gehört zu werden, bedarf der politischen Ermächtigung des Subjekts, ist aber zugleich von den Machtstrukturen des politischen Raums abhängig: Der Entzug der Stimme des Subjekts durch den Anderen oder die Unmöglichkeit, überhaupt eine Stimme zu erwerben, können folglich als machtvolle Instrumentarien der politischen Entmündigung und – mit Aristoteles und Heidegger – als Verlust der menschlichen Subjekthaftigkeit gelesen werden.
Die Ermöglichung oder die Verunmöglichung der Realisierung des Erscheinungsraums als gemeinsamer Raum der politischen Interaktion und damit der politischen Subjektivation, der nicht per se vorhanden ist, sondern der Realisierung bedarf, ist ebenfalls von politischen Ermächtigungen oder Entmächtigungen abhängig: Der „nur potentiell“976 in jeder Gruppe von Menschen vorliegende Erscheinungsraum kann durch restriktive Instrumentarien verunmöglicht werden; nicht zuletzt, da der temporäre wie prekäre Raum der Handlungen der Subjekte bedarf und nicht grundsätzlich „immer und überall vorhanden“977 ist:
Ein Erscheinungsraum entsteht, wo immer Menschen handeln und sprechend miteinander umgehen; als solcher liegt er vor allen ausdrücklichen Staatsgründungen und Staatsformen, in die er jeweils gestaltet und organisiert wird. Ihn unterscheidet von anderen Räumen, die wir durch Eingrenzungen aller Art herstellen können, daß er die Aktualität der Vorgänge, in denen er entstand, nicht überdauert, sondern verschwindet, sich gleichsam in nichts auflöst, und zwar nicht erst, wenn die Menschen verschwunden sind, die sich in ihm bewegten […], sondern bereits, wenn die Tätigkeiten, in denen er entstand, verschwunden oder zum Stillstand gekommen sind.978
Die politisch ‚unsichtbar‘ gemachten Menschen, denen keine Stimme im politischen Diskurs zugestanden wird und deren Subjektivation im Erscheinungsraum verunmöglicht wird, können, so Jaques Rancière, durch die politische und literarische Aktivität wieder sichtbar gemacht werden: „Sie macht sichtbar, was unsichtbar war, sie macht diejenigen als sprechende Wesen hörbar, die nur als lärmende Tiere verstanden werden.“979
Rancières Diagnose, die sich auch als politische Maxime begreifen lässt und die ‚Hörbarmachung der sprechenden Wesen‘ verfolgt, lässt sich auch in dem 2013 erschienen Text Die Schutzbefohlenen von Elfriede Jelinek nachvollziehen. Jelineks Text setzt sich mit der Flüchtlingspolitik auseinander und ist als dezidiert politischer Text zu verstehen, der jedoch nicht eine Strategie des politischen wie literarischen Engagements verfolgt – und etwa eine ‚starke‘ Autorposition installiert, durch die politische Haltungen der Autorin kommuniziert werden –, sondern mit dem Versuch der ‚Hörbarmachung‘ der Unsichtbaren und Unhörbaren durch die Verleihung einer bzw. mehrerer Stimmen den vormals Exkludierten eine Position im politischen Diskurs verleiht und sie präsent macht bzw. die Unmöglichkeit der sprachlichen (Re‐)Präsentation deutlich macht. Der Text sammelt kontingente wie disparate Stimmen, die weder durch die Form – das Drama weist nicht den typischen Aufbau oder die vorantreibende Handlung durch Sprechakte auf – noch durch die gelegentlich auftauchende ‚Erzählinstanz‘ geordnet und auf ein Telos hin ausgerichtet werden; letztlich ‚erzählen‘ der Text und damit die Flüchtlinge von der „Unfähigkeit zu erzählen“.980 Zudem lässt sich der Text als intertextuelles Mosaik verstehen, das auf andere Texte rekurriert und Friktionen zwischen diesen ausstellt. Als Quellen verweist Jelinek am Schluss des Textes auf:
Aischylos: „Die Schutzflehenden“
Bundesministerium für Inneres, Staatssekretariat für Integration: „Zusammenleben in Österreich“
Ovid: „Metamorphosen“
Und eine Prise Heidegger, die muß sein, denn ich kann es nicht allein.981
Das Ziel der intertextuellen Verweise ist jedoch weniger ein metatextuelles Spiel oder ein intertextuelles Konstrukt im Sinne Julia Kristevas982 als vielmehr eine mit Gérard Genette983 und Michail Bachtin984 zu beobachtende literarische Operation, die durch die ‚Hörbarmachung‘ der Stimmen der ‚Unhörbaren‘ und ‚Unsichtbaren‘ sowie die Erzeugung der Friktionen zwischen den Texten eine politische Reflexion in Gang setzt – bereits der Titel Die Schutzbefohlenen verweist auf das erste Flüchtlingsdrama, auf Aischylosʼ Die Schutzflehenden, zurück und macht mit dem deutlichen intertextuellen Verweis die politischen Verschiebungen sichtbar. Das Politische des Textes manifestiert sich also nicht durch die Installation einer starken Autorposition, von der aus politisches Engagement betrieben werden kann, sondern durch die Form, die die polyphonen Stimmen durch die intertextuellen Reibungen sicht- und hörbar macht.