Handbuch Diskurs
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Handbuch Diskurs

  1. 601 Seiten
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Handbuch Diskurs

Über dieses Buch

Das Handbuch behandelt 'Diskurs' als linguistisches Konzept. Mit theoretischer Verankerung in einer Diskursanalyse nach Foucault ist darunter ein unauflösbarer Zusammenhang von linguistischen Aussagen und Praxisformen der Sprache zu verstehen, die Wissen gleichermaßen referenzieren und konstruieren. Da Diskurs aber nicht nur ein systematischer Terminus zur Hierarchisierung des sprachlichen Konstituentensystems ist, sondern auch und je nach Konzeption vor allem eine transversale Dimension der Sprache und ihrer Analyse bezeichnet, ergeben sich aus diskurslinguistischen Erkenntnisinteressen vielfältige innerdisziplinäre und interdisziplinäre Bezüge. Das Handbuch reflektiert diese Bezüge in vier Teilen. In Teil I. werden Basiskonzepte und Anschlusstheorien vorgestellt. In II. wird die Frage nach angemessenen Methoden der Diskurslinguistik durch sechs grundlegende methodische Angebote behandelt. In III. werden linguistische Ansätze der Analyse von Diskursen als dynamische, heterogene und auch agonale Konstellationen dargestellt. In Teil IV. wird die Materialität des Diskurses als wissensbezogene Kodierung von sozialen Aushandlungen und Überzeugungen behandelt. Der Band erfasst damit die gesamte aktuelle Diskussion der Diskurslinguistik.

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Information

I Basiskonzepte der Diskurslinguistik

Dietrich Busse

1. Diskurs und Wissensrahmen

Abstract: Der Begriff Diskurs im Sinne Foucaults ist eng mit dem Begriff der Episteme, d. h. dem gesellschaftlichen Wissen in seiner Gesamtheit, verbunden. Analyse von Diskursen ist daher immer Analyse der Episteme. Das ereignishafte Auftreten von Wissenselementen im Diskurs kommt dabei ebenso in den Blick wie die Bildung von Serien solcher Ereignisse, die daraus entstehenden Regelhaftigkeiten im Auftreten von Diskurselementen, und schließlich das Wirken diskursiver Formationen als Möglichkeitsbedingungen für das künftige Auftreten von Wissenselementen. Auf der Ebene des Wissens, das in Bezug auf die Texte eines Diskurs-Korpus und auf das Sprachverstehen als bedeutungsrelevantes und verstehensermöglichendes Wissen figuriert, verbindet sich die Analyse von Diskursen mit der Analyse der Sprache. Ein fruchtbares theoretisches Modell und der daraus erwachsende methodische Ansatz, der die Ebene der Sprache (Bedeutungen) und der Diskurse verbinden kann, ist die Analyse von Wissensrahmen (Frames). Der folgende Beitrag erläutert, wie Semantik, Rahmenanalyse des Wissens und Diskursanalyse ineinandergreifen, und welche Synergieeffekte aus diesem Zusammenwirken erwartet werden können.
  1. Das Wissen im Diskurs
  2. Wissen, Diskurs und Sprache
  3. Ein Rahmen-Modell für Wissen und Bedeutung
  4. Wissensrahmen und Diskurse
  5. Zur Leistungsfähigkeit des Wissensrahmen-Konzepts in der Analyse von Diskursen
  6. Literatur

1 Das Wissen im Diskurs

Der Begriff Diskurs in dem Sinne, wie er von Foucault mit großer (interdisziplinärer) Wirkungsmacht definiert wurde, und das von seinen Arbeiten ausgehende Verständnis von Diskursanalyse (die Foucault selbst indes gar nicht so genannt hat) sind untrennbar und im innersten Kern verbunden mit der Rolle des Wissens (das bei Foucault stets als gesellschaftliches bzw. gesellschaftlich vermitteltes gedacht ist) und mithin der Wissensanalyse, weshalb Foucault für die ihm vorschwebende Form von Analyse Bezeichnungen wie Genealogie oder Archäologie des Wissens vorgezogen hat. Auch die übrigen Kernbegriffe seines Ansatzes sind im weitesten Sinne wissensanalytische Begriffe. Dies gilt für das zentrale diskursive Element, die enoncé, ein in der Verwendungsweise Foucaults komplexer Terminus, der am adäquatesten wohl – cum grano salis – mit „Wissenselement“ zu erläutern wäre (Siehe dazu die ausführliche Begründung dieser Deutung in Busse 1987, 227 ff.). Dies gilt aber auch für alle weiteren Begriffe, die an diesem Begriff hängen, wie enonciation (Erscheinen oder Auftreten einer enoncé), Aussagenfeld, Serie von diskursiven Ereignissen (im Sinne von Ereignissen des Auftretens der enoncé in konkreten Diskursen), Regelmäßigkeit des Auftretens von enoncés in Diskursen und/oder Aussagefeldern und Möglichkeitsbedingung für das Auftreten von enoncés in Diskursen und/oder Aussagefeldern. Wenn Foucault (1969, 141; dt. 156) den Diskurs bestimmt als „eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören“, dann bezieht er sich damit auf Wissenssysteme und Felder des Wissens. Sein Begriff der Aussagefunktion ist ein Begriff, der auf die Verortung einzelner auftretender Elemente im gesamten Feld des Wissens zielt. Wesentlich ist nicht die einzelne Aussage, der einzelne Gegenstand, die einzelne Theorie, sondern die Position, die sie in einem Netz diskursiver Beziehungen einnehmen.
Was wir an den Tag bringen wollen, ist das epistemische Feld, die episteme, in der die Er-kenntnisse […] ihre Positivität eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die […] die der Bedingungen ist, durch die sie möglich werden. (Foucault 1966a, 13; dt. 24)
Foucaults eigene Studien zur „Geburt des ärztlichen Blicks“, zu „Wahnsinn und Gesellschaft“, zur „Ordnung der Dinge“ (eigentlich eine Wissenschaftsgeschichte), zum Diskurs des Gefängnisses (in „Überwachen und Strafen“), zu „Sexualität und Wahrheit“ waren sämtlich gemeint als Analysen von Wissenssystemen und Wissensbewegungen. Nicht umsonst trägt sein theoretisches und methodologisches Hauptwerk den Titel „Archäologie des Wissens“.
Diskursanalyse im Sinne Foucaults ist also vorrangig eine Analyse des Wissens, von Wissenselementen, von Feldern und Systemen des Wissens, vom faktischen Auftreten, von den Auftretenswahrscheinlichkeiten, den Regelmäßigkeiten und den daraus abgeleiteten Bedingungen für die Möglichkeit des Auftretens von Wissenselementen in einem Feld der Episteme (des gesellschaftlichen Wissens) – oder, wie Foucault es in einer zentralen und viel zitierten Aussage formuliert hat:
Die Aussageanalyse ist also eine historische Analyse, die sich aber außerhalb jeder Interpretation hält: sie fragt die gesagten Dinge nicht nach dem, was sie verbergen, […] sondern […], was es für sie heißt, erschienen zu sein — und daß keine anderen an ihrer Stelle erschienen sind. (Foucault 1969, 143; dt. 159)
Diese Aussage Foucaults, dass es in der Diskursanalyse vor allem anderen darauf ankomme, herauszufinden, was es für ein Ding, einen Gegenstand des Diskurses, und mithin ein Element des Wissens heißt, (a) überhaupt erschienen zu sein, und (b) dass kein anderes an seiner Stelle im Diskurs (im System des Wissens) erschienen ist, weist der Episteme, dem System des (gesellschaftlichen) Wissens in einer Zeit, den Strukturen dieses Wissens, den Regeln und Regelmäßigkeiten des Auftauchens von Wissenselementen, den Beziehungen zwischen Wissenselementen, den Funktionen ihres Auftretens im Diskurs und zu bestimmten Zeitpunkten und in bestimmten (historischen bzw. gesellschaftlichen) Situationen einen zentralen Stellenwert für das zu, was eine Diskursanalyse ausmacht und von allen anderen Formen von Analyse im Feld von Sprache, Denken und Wissen unterscheidet. Die Differenz zu anderen Ansätzen beschrieb er wie folgt:
Man sucht unterhalb dessen, was manifest ist, nicht das halbverschwiegene Geschwätz eines anderen Diskurses; man muß zeigen, warum er nicht anders sein konnte, als er war; worin er gegenüber jedem anderen exklusiv ist, wie er inmitten der anderen und in Beziehung zu ihnen einen Platz einnimmt, den kein anderer besetzen könnte. (Foucault 1969, 40; dt. 43).
Diskursanalyse, oder, wie Foucault vorgezogen hat zu sagen: „Analyse der Episteme“, Analyse des „Archivs“, Bestimmung des „historischen Apriori“ (Foucault 1969, 167; dt. 184), „Genealogie“ (Foucault 1971, 61; dt. 41 ff.), „Archäologie“ (Foucault 1969, 179; dt. 195 ff. Dort auch ausführlich zu den Eigenschaften der ‚Archäologie‘), hat also das Wissen selbst zum Gegenstand.
Die Analyse der diskursiven Formationen, der Positivitäten und des Wissens in ihren Verhältnissen zu den epistemologischen Figuren und den Wissenschaften haben wir […] die Analyse der Episteme genannt.“ (Foucault 1969, 249; dt. 272).
Mein Gegenstand ist […] nicht die Sprache, sondern das Archiv, das heißt die Existenz von zusammengetragenen Diskursen. Die Archäologie, so wie ich sie verstehe, […] ist die Analyse des Diskurses in seiner Form als Archiv. (Foucault 1967, 8; dt. 169 f.).
Was die Archäologie zu beschreiben versucht, ist nicht die Wissenschaft in ihrer spezifischen Struktur, sondern der durchaus andersartige Bereich des Wissens. (Foucault 1969, 255; dt. 278).
Dies muss nun auch eine Diskursanalyse berücksichtigen, die sich linguistischer Mittel bedienen möchte. Wenn Diskursanalyse im Sinne Foucaults in erster Linie oder an herausragender Stelle Wissensanalyse ist, dann muss eine linguistische Diskursanalyse (‚nach Foucault‘) das Verhältnis von Sprache, diskursiven Strategien und Wissen in den (analytischen) Blick nehmen. Das heißt aber auch: sie muss sich theoretisch und methodisch mit dem Begriff des Wissens auseinandersetzen und (linguistische bzw. linguistisch reflektierte) Instrumente zu seiner Erschließung und Beschreibung nutzen oder entwickeln.

2 Wissen, Diskurs und Sprache

Vor allem die wissensanalytische Zielsetzung war es, die Foucaults Diskursbegriff (zu Beginn seiner Rezeption im deutschen Sprachraum) für eine ebenfalls wissensanalytisch orientierte Begriffsgeschichte und historische Semantik interessant machte. Begriffe, Zeichen, Texte, Diskurse sollten dabei nicht für sich erforscht werden, sondern waren (und sind) vorrangig in ihrer Funktion, (gesellschaftliches) Wissen zu bündeln und zum Ausdruck zu bringen, von Interesse. Dieses Interesse fand (über den Versuch der Klärung der epistemischen Grundlagen für Bedeutungswandel) auch in die Zielsetzungen und Methoden einer modernen, kulturanalytisch orientierten Linguistik Eingang. (Die ‚Diskursanalyse nach Foucault‘ hat sich dann zu einem der wichtigsten und am weitesten verbreiteten Ansätze einer modernen kulturanalytisch orientierten Semantik in der Linguistik entwickelt. Siehe für diese Rolle und Zusammenhänge ausführlicher Busse 2014.)
Die enge Verbindung von Diskursanalyse und Wissensanalyse setzt voraus, dass (a) auch aus linguistischer Perspektive eine ernsthafte theoretische Auseinandersetzung mit dem Wissensbegriff und eine Untersuchung des Verhältnisses von Sprache und Wissen stattfindet, sowie (b) dass ernsthafte und systematische Überlegungen dazu angestellt werden, welche Modelle und Methoden bei der Aufschließung von Wissenselementen und Wissensstrukturen aus sprachwissenschaftlicher Sicht besonders zielführend sind. Es liegt nahe, dafür in solchen Zweigen der modernen Linguistik nach Anregungen zu suchen, in denen überhaupt das hinter der Verwendung sprachlicher Elemente stehende Wissen als solches zum Thema bzw. Untersuchungsgegenstand gemacht wurde. Solche Ansätze finden sich nun nicht wie Sand am Meer, sie sind im Gegenteil ziemlich rar gesät. Wenig überraschen dürfte, dass man bei dieser Suche am ehesten im Kontext der sog. kognitiven Linguistik (insbesondere der kognitiven Semantik) fündig wird.
Der Punkt, an dem Wissen, Diskurs und Sprache in Berührung kommen, und damit zugleich der Punkt, der den Zugriffsbereich für eine wissensanalytisch orientierte und linguistisch reflektierte Diskursanalyse markiert, ist dasjenige, was man unter dem Begriff des verstehensrelevanten Wissens zusammenfassen kann. Da Sprachverstehen und verstehensrelevantes Wissen am ehesten im Kontext der (linguistischen) Semantik in den Blick geraten, kann man auch vom bedeutungsrelevanten Wissen sprechen. Das bedeutungsrelevante Wissen ist dabei immer auch das bedeutungsermöglichende bzw. verstehensermöglichende Wissen; ohne es ist Verstehen oder Aktivieren dessen, was man in der Linguistik ‚Bedeutung‘ (von Wörtern, Sätzen, Texten) nennt, nicht möglich. Dabei wird deutlich, dass man sich mit solchen Überlegungen im Bereich einer Semantik bewegt, die in erster Linie interpretativ und verstehenstheoretisch ausgerichtet ist.
Der Gedanke, das verstehensrelevante Wissen in den Mittelpunkt jeder semantischen Analyse zu rücken, wurde (zunächst im Rahmen der historischen Semantik und Begriffsgeschichte) erstmals in Busse (1987) explizit artikuliert (dort noch als „bedeutungsrelevante epistemische Momente“, Busse 1987, 305) und dann in Busse (1991) (im Kontext der Idee einer „explikativen Semantik“) im Zuge der Einführung von Wissensrahmen/Frames in die Überlegungen explizit eingeführt (Busse 1991, 78 ff., 121 f., 139 ff.) und in Hinblick auf eine heuristische Typologie dieses Wissens (Busse 1991, 139 ff.) explizit ausgeführt. (Vgl. zu letzterem auch Busse 1997a, 19 und passim.) – Ziem (2008a, 129 ff. und 150 ff.) hat später systematisch auf diesem Gedanken aufgebaut. – Vergleichbare Überlegungen hatten bereits zuvor Fillmore (1985) dazu veranlasst, seinen Ansatz der frame-analytischen Semantik als „understanding semantics“ oder „interpretive semantics“ zu charakterisieren. Freilich rückt bei ihm das bedeutungsrelevante Wissen nie als solches (theoretisch oder methodisch) in d...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Diskurslinguistik – Verdichtete Programmatik vor weitem Horizont
  6. I Basiskonzepte der Diskurslinguistik
  7. II Methodische Anker der Diskurslinguistik
  8. III Dynamik und Varianz in der Diskurslinguistik
  9. IV Diskurskodierungen
  10. Register