Aus Tagebuch-Notizen und Kriegsbriefen
Persönliches
Ich bin am 1. August 1873 in Braunschweig geboren, also unter den Eindrücken des siegreichen Krieges gegen Frankreich herangewachsen.
Mein Vater starb im Januar 1877 als Kompaniechef im 4. Magdeburger Inf. Regt. 67, in welchem er die deutschen Einigungskriege von 64–66 und 70–71 mitgemacht hatte und als Regimentsadjutant bei Gravelot zu Pferde schwer verwundet war, in Braunschweig.304 Mein Großvater Nicolai war Prediger in Saalstedt bei Halberstadt,305 mein Urgroßvater Nicolai Justiz-Kriminalrat in Magdeburg, dessen Vater Justizrat in Alsleben. Von da an sind meine väterlichen Vorfahren ununterbrochen evangelische Geistliche bis auf den 1505 in der Grafschaft Mark geborenen Pfarrer und Inspektor der Waldegschen (...) Nicolai, welcher in der Reformation von der Pfarre in Herdecke bei Hagen in Westfalen vertrieben wurde und dessen Sohn Philipp, der bekannte geistliche Liederdichter, als Pastor in der Kirche in Unna, später in St. Katharinen in Hamburg tätig war.
Durch den frühen Tod meines Vaters kenne ich ihn nicht und bin ohne väterliche Erziehung aufgewachsen. Um so stärker hat mich auf meinem Lebensweg die Sehnsucht nach dem Vater erfüllt, mich mit Ehrfurcht und Ehrerbietung gegen Ältere geleitet und in den großen Männern, welchen ich in meiner Laufbahn nahetreten durfte, Erfüllung gefunden. Den Begriff des Vaters, welcher mich dabei leitete, erhielt ich nur aus dem Erzählen meiner früh verwitweten Mutter, also ein Bild ungetrübter Liebe.
Meine Mutter war die Tochter des Oberamtmann306 Rusche auf der 3600 Morgen großen Domäne Heteborn bei Halberstadt. Durch ihre väterlichen Vorfahren und ihre gleichfalls vom Lande stammende Mutter, geborene Raeke, hatte sie reines Bauernblut und war mit vielen Bauernfamilien im Raume Magdeburg und Halberstadt verwandt. In der landwirtschaftlichen Blüte vor und nach dem siegreichen Krieg in großen Verhältnissen verwöhnt aufgewachsen, traf sie gleichzeitig mit dem Tode meines Vaters ein wirtschaftlicher Zusammenbruch des Elternhauses. In bescheidenen Verhältnissen erzog sie aber meinen älteren Bruder307 und mich um so mehr in den Überlieferungen der Familie und war uns Vater und Mutter zugleich. Als meine Laufbahn mit der Versetzung nach Königsberg begann, erblindete sie. Indem sie seitdem in meiner Familie lebte, konnte ich ihr ihre Liebe und Treue dadurch vergelten, daß sie bei mir lebte und auch meinen Kindern und Enkeln unmittelbar Vorbild war.
Ich konnte dies nur, weil ich eine Frau gewann, welche dieses Opfer als selbstverständlich betrachtete. Sie war die Tochter meines Regiments-Kommandeurs in Göttingen, General der Inf. Kohlhoff. Dieser stammt aus Soldatengeschlecht in Ostpreußen. Seine Frau war die Tochter des Oberlandgerichts-Präsidenten Albrecht in Frankfurt a.M. und stammt aus alt-hannoverscher und Bremer Familie.
Mein einziger älterer Bruder, gleichfalls Offizier und während seiner ganzen Dienstzeit nur im Frontdienst308 ausschl. in der strengen Garnison Metz, starb kinderlos verheiratet an den Folgen des Weltkrieges.
Meiner Ehe entstammten 3 jetzt verheiratete Töchter. Ein Schwiegersohn ist Landwirt, einer Regierungsbeamter und einer Forstmann.
Ich bin also stark unter weiblichem Einfluß und zwar edelster Prägung aufgewachsen, um so stärker – glaube ich – war deshalb der Eindruck und die Wirkung alles ausgeprägten Männlichen um mich herum.
Dem mir zugedachten späteren Studium entsprechend besuchte ich das heimische Domgymnasium in Halberstadt, während mein Bruder frühzeitig Kadett wurde. Als ich die Obertertia hinter mir hatte, rieten die Lehrer aber auch meiner Mutter, mich Kadett werden zu lassen. Dies war nur möglich bis zum Ablauf des 14. Lebensjahres. Ein besonderer Antrag meiner Mutter führte dahin, daß ich noch außerterminlich vor Ablauf meines 14. Lebensjahres in die Kadetten-Voranstalt Schloß Oranienstein b. Dietz an der Lahn einberufen wurde. Der Lehrplan hatte kein Griechisch, dagegen von der Untertertia ab Englisch. Infolgedessen kam ich in die Untertertia zurück, was zur Folge hatte, daß ich mit den im Gymnasium schon erworbenen Kenntnissen, besonders in Latein wenig Neues lernen mußte und trotzdem in den Zeugnissen meine wissenschaftlichen Leistungen mehrfach belobt wurden. Die wissenschaftliche Bildung stand – für uns Jungens wenigstens – im Hintergrund. Die natürliche Abneigung wurde bestärkt durch die Auswahl unserer Lehrer. Während wir selbst zur Sauberkeit und in den soldatischen Tugenden erzogen wurden, waren nur wenige unserer Lehrer uns hierin ein Vorbild. Aber auch die als Erzieher und teilweise daneben als wissenschaftliche Lehrer in Geschichte, Geographie und Rechnen ausgewählten Offiziere entsprachen nicht durchweg ihrer Aufgabe. Den stärksten erzieherischen Einfluß übte infolgedessen auf mich die Kameradschaft des Ganzen und die Freundschaft Einzelner aus, daneben die erst durch die Entfernung erweckte Liebe zur Mutter. Dem oft gehörten Einwand gegen die Kadettenerziehung, daß der Junge zu früh der Mutter entzogen wurde, kann ich aus eigenem Erleben nicht zustimmen. Wie wir im Ganzen früh durch Entbehren erzogen wurden, so auch in diesem Punkt. Die Kosten für mich und meinen Bruder betrugen, weil unser Vater fehlte und 3 Kriege als Offizier mitgemacht hatte, im Jahr für Unterricht, Unterkunft, Bekleidung und Verpflegung je 90 Mark. Unser Leben war entsprechend einfach gehalten. Die Freunde, welche ich auf dem Gymnasium verlassen hatte und auch die Altersgenossen, welche ich in befreundeten Berliner Familien nach meiner Versetzung zur Hauptkadettenanstalt von der Obertertia ab kennenlernte, wuchsen offensichtlich in geistig und materiell reicheren Verhältnissen auf. Im späteren Leben habe ich aber dankbar als Unterschied empfunden, was die Kadettenerziehung an früher Charakter- und Willensbildung mir gegeben hat. Unsere Erziehung war gewiß auf einen gewissen Stand gerichtet, einseitig, aber sie gab uns das, was wir brauchten, vor allem ein frühes Gefühl für Ehre und für das Bewußtsein, des Königs Rock zu tragen. Schon von der Sexta an war die Anrede der Lehrer und Vorgesetzten an uns das »Sie«, unter einander nannten wir uns in den Voranstalten, in der Hauptkadettenanstalt nur mit Freunden »Du«. Die bewußte Steigerung des Selbstbewußtseins wurde ausgeglichen durch strenge Unterordnung unter ältere Kameraden und die Vorgesetzten.
Die Mehrzahl der Kadetten ging nach Besuch der Obersekunda und dem Fähnrichsexamen als Fähnriche in die Armee. Nur Einzelne, meist körperlich noch nicht Taugliche, wurden Primaner und traten nach 2 Jahren mit dem Abitur gleichfalls als Fähnriche in die Armee. Einige nach Beurteilung ihrer Vorgesetzten Geeignete wurden nach dem Fähnrichexamen wieder in die Selekta einberufen. Hier waren sie als Unteroffiziere Vorgesetzte der anderen Kadetten und genossen die Ausbildung einer Kriegsschule und traten nach 1 Jahr als Offiziere ins Heer. Die Selektaner hatten also vor den Altersgenossen schon hierin einen Avancementvorteil von ½ Jahr. Wie Falkenhayn, Hindenburg und Ludendorff war auch ich Selektaner und wurde am 22. März 1893 am Geburtstag des alten Kaisers309 Leutnant im Infanterie-Regiment in Göttingen310 mit 19 Jahren.
Etwa vorhandener Hochmut wurde von vornherein dadurch gedämpft, daß mein Regimentskommandeur bei meiner Meldung mir eröffnete, er täte mich zu meinem Besten zum strengsten Hauptmann des Regiments. Das Zusammengehämmertwerden trotz früher Ehren und Auszeichnung nahm also seinen Fortgang. Und als ich mich bei der Kompanie meldete und ein alter Feldwebel mit Vollbart und dem Eisernen Kreuz von 70311 vor mir Jungem stramm stand, wurde dies innerlich bestärkt durch das Bewußtsein, was es heißen würde, so jung und unerfahren Vorgesetzter zu sein. Als 3. kam hinzu, daß ich das Glück hatte, eine Garnison erhalten zu haben, welche Universitätsstadt war, wo also der Offizier – zumal der junge – gegenüber den gleichaltrigen Studierenden in seiner Haltung auf sich achten mußte. Das Schicksal, trotz aller Erfolge immer wieder in Ehrerbietung Größeren gegenüber der eigenen Unvollkommenheit sich bewußt zu bleiben und daraus die innere Kraft zu stetigem Streben zu Besserem und Tüchtigerem zu behalten, ist mir auf meinem Weg durch den Generalstab bis unter Hindenburg und Ludendorff treu geblieben. Ihm verdanke ich die Kraft meiner Leistung. Als ich 2 Jahre Offizier war, gab mich mein Kommandeur als Erzieher für das Kadettenkorps ein. So ehrenvoll dies für mich war, so wenig Lust hatte ich, die feste Bahn der eigenen Erziehung so früh zu verlassen. Eine von mir eingeforderte wissenschaftliche Arbeit fertigte ich entsprechend oberflächlich an und ich danke meinem Schicksal, daß sie mich vor einer Verwendung als Erzieher von Kindern in meinem jungen Alter bewahrt hat.
Ich habe oft an dieses Erleben zurückdenken müssen, als ich nach dem Weltkrieg in der nationalen Jugendbewegung führend tätig war und wenn ich heute die Hitlerjugend betrachte. Ich habe in der Jugendbewegung nach dem Weltkrieg viele hervorragende und als Vorbild für die Anderen geeignete junge Menschen erlebt. Ich habe mich aber stets bemüht, während meiner zweijährigen Tätigkeit als Führer der Jugend in der Provinz Brandenburg gerade den jungen Führern ein Führer zu sein und sie davor zu bewahren, zu lange dies leichte Führeramt wahrzunehmen, oder daraus durch Hochmut und Arroganz sich selbst gegen die notwendige Erziehung zu verschließen. Ich fand nur bei Wenigen Verständnis und auch bei Gleichaltrigen nicht die notwendige Kraft, das Führeramt für die Jugend zu staffeln und zu steigern, besonders gefährlich in einer Zeit als die Erziehung des Heeres mit seinem Aufbau und Wechsel von Befehlen und Unterordnen fehlte.
Ich glaube, daß heute, wo dieses wieder vorhanden ist, die Erziehung der Hitlerjugend dazu beitragen wird, jung schon hervortretenden Führernaturen die notwendige Schulung zu geben.
Nach 3 Jahren Leutnantszeit schloß mit meiner Ernennung zum Btl. Adjutanten meine eigentliche Tätigkeit in der Front ab. Ich wurde nur noch einmal als Hauptmann 2 Jahre Frontsoldat. Ich kehrte zurück als Hauptmann nach 13jähriger Tätigkeit außerhalb der unmittelbaren Front. Kameraden nannten mich den Hauptmann mit dem Leutnantsherzen und zweifellos war ich durch das abwechslungsreiche Erleben frischer und leistungsfähiger als die Kameraden, welche die Zeit im Frontdienst verbrachten. Und doch glaube ich, daß das größte Soldatentum in diesem stillen, pflichttreuen, sich immer wieder Bescheiden im Frontdienst besteht. Im Weltkrieg habe ich mehrfach meine Frontverwendung erbeten. Sie wurde mir nicht bewilligt. So blieb mir auch die Krönung des Frontsoldatentums, der Frontdienst vor dem Feinde verschlossen.
Als Btl. Adjutant wurde mir noch etwas neues Erzieherisches zuteil, der Vertrauensmann zu sein zwischen dem Kommandeur und dem Offizierkorps. In diese Zeit fiel auch meine Verlobung mit der Tochter meines Regimentskommandeurs. Bei allem menschlichen Glück war auch dies mir eine Anerkennung meines Vorgesetzten.
Mit meiner Verheiratung zusammen fiel das Kommando zur Kriegsakademie. Verlobt sein und alles andere, neben ernster Erziehung schreitende, jugendliche Erleben in einer schönen Garnisonstadt und in einem ausgesuchten Offizierkorps verschuldeten es, daß ich das Examen zur Kriegsakademie zweimal ablegen mußte. Auch dies war ein wertvoller Dämpfer etwa vorhandener Übermütigkeit.
Ich meldete mich zu dem Hörsaal der Kriegsakademie, zu dessen Lehrplan Russisch gehörte und legte darin mein Dolmetscherexamen ab. Die Kriegsakademiezeit umfaßte 3 Jahre. Das 1. schloß für uns Infanteristen mit einem ¼ jährigen Kommando zur Feldartillerie, das 2. mit einem ¼ jährigen Kommando zur Kavallerie und das 3. mit einem solchen zur Marine ab. Da mein Armeekorps bei Ablauf meines 3. Jahres Kaisermanöver hatte, habe ich leider von der Marine nie etwas Dienstliches erlebt. Die Kommandos zur Artillerie und Kavallerie weiteten aber den Blick sowohl als Mensch wie als Soldat. Die 4. Ulanen312 in Thorn, bei welchen ich meine Übung ableistete, gehörten zur 35. Division, deren Kommandeur mein Schwiegervater inzwischen geworden war. Als wir nach Ablauf des Kommandos wieder in Berlin waren, berief eines Tages der Direktor der Kriegsakademie, General Litzmann, uns in den Bibliothekssaal und sprach mir vor den Kameraden seine Anerkennung aus für meine hervorragende Konduite, die ich mir bei den 4. Ulanen geholt hätte. Die Bewunderung meiner Kameraden konnte ich mit dem Hinweis dämpfen, daß mein Schwiegervater Divisionskommandeur der 4. Ulanen war. So sehr ich mich immer dagegen gewehrt habe, irgendwelcher Konnektion mein Fortkommen zu verdanken, so bin ich mir doch stets bescheiden bewußt gewesen, wenn ungesucht mir auch hierin das Schicksal wohlwollte.
Den Abschluß des 3. Jahres der Kriegsakademie bildete eine Generalstabsreise, jeder der 3 Hörsäle des Jahrganges für sich. Die 50 Offiziere unseres Hörsaales waren zu je 10 einem Major des Generalstabes untergeordnet, für mich der Major Lequis, welcher 1918 mit seiner Division in das revolutionäre Berlin einmarschierte. Die Leitung der Reise unseres Hörsaales hatte Oberstleutnant Frhr. v. Seckendorff. Sie diente ein letztes Bild von den Fähigkeiten und der Persönlichkeit jedes Einzelnen zu geben, neben anstrengendem Ritt, strategischen und taktischen Aufgaben im Gelände und wissenschaftlichen im Quartier wurde Kameradschaft gepflegt. Der Tag war lang und die Nacht kurz. Am Abend des ersten Tages erkrankte Major Leq...