1 „Race Suicide or Remedy“? Die Debatten um Ehescheidung in der Progressive Era, 1890 – 1920
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte die amerikanische Soziologie die Familie als geeigneten Forschungs- und Analysegegenstand, der auch dazu diente, die Wissenschaftlichkeit und Aussagefähigkeit der eigenen, noch jungen Disziplin zu untermauern. Erst 1905 hatte sich die American Sociological Association als nationaler Soziologenverband gegründet, um den Zusammenhalt und Austausch der Wissenschaftler zu befördern.109 Bereits auf ihrer dritten Jahreskonferenz im Jahr 1908 in Atlantic City, New Jersey, befassten sich die versammelten amerikanischen Soziologen dann mit der Frage, wie die moderne Gesellschaft die Familie verändere. In seiner Eröffnungsansprache verlieh der damalige Präsident des Soziologenverbandes und Mitbegründer der US-amerikanischen Soziologie, William G. Sumner110, dem großen Interesse vieler Soziologen an der Familie beredt Ausdruck. Er erklärte, dass sich die US-amerikanische Familie in einem fundamentalen Wandlungsprozess befinde, so dass traditionelle Geschlechter- und Generationenbeziehungen vielfach keine Gültigkeit mehr beanspruchen könnten:
Perhaps the family still shows more fluctuation and uncertainty than any other of our great institutions. Different households now differ greatly in the firmness of parental authority and the inflexibility of filial obedience. Many nowadays have abandoned the old standards of proper authority and due obedience. The family has to a great extent lost its position as a conservative institution and has become a field for social change.111
Zugleich warnte Sumner, obwohl persönlich ein Vertreter konservativer Familienwerte und Befürworter stabiler, patriarchaler Familienstrukturen, jedoch vor übertriebener Besorgnis angesichts des skizzierten Wandlungsprozesses. Trotz aller Herausforderungen – sichtbar vor allem in steigenden Ehescheidungszahlen – sei die Familie als Institution selbst nicht bedroht.112
Sumners Beobachtung von Wandel der Familie und die sich daran anschließende Diskussion der Soziologen sind von mehrfacher Bedeutung für die Thematik dieser Studie. Erstens reagierten die Vertreter dieser jungen Disziplin auf eine wichtige zeitgenössische Diskussion, die in den USA etwa seit 1890 geführt wurde: die Debatte um mögliche Auswirkungen von Ehescheidung auf Familienwerte, Familienstruktur und den Zusammenhalt der Gesellschaft allgemein.113 Obgleich die gesamte Veranstaltung unter dem Thema „The Family“ stand, drehte sich jedoch ein Großteil der Referate um die Scheidungsproblematik.114 Zweitens war tatsächlich ein starker Anstieg der Scheidungszahlen in den USA seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu verzeichnen. Verlässliche Daten hierzu bot die erste landesweite Scheidungsstatistik, der sogenannte Wright-Report, dessen zwei Teile 1889 respektive 1909 publiziert wurden.115 Drittens und letztens waren die Sozialwissenschaften, insbesondere die in Atlantic City versammelten Soziologen, gerade dabei, ihren Anspruch als neue Leitwissenschaft zu formulieren. Die Ableitung gesellschaftsrelevanter Interpretationsangebote aus statistischen Daten, wie im Falle der Scheidungspraxis und der daraus gezogenen Rückschlüsse auf den Zustand „der amerikanischen Familie“ an sich, unterstrich dieses Ansinnen. Auf der Basis von Statistiken, Umfragen und Modellen veröffentlichten zahlreiche Soziologen engagierte Analysen der Auswirkungen der Moderne auf Struktur und Werte der modernen Gesellschaft, insbesondere der Familie, und begannen, den Theologen ihre bisherige Deutungshoheit streitig zu machen.116 Diesen Paradigmenwechsel hatte schon Albion Small, Lehrstuhlinhaber für Soziologie in Chicago und neben Sumner einer der Pioniere der US-Soziologie, 1910 in einem Grundlagenwerk herausgestellt: „Our generation is whitness that the case MEN VERSUS MEN’S PROBLEMS has taken a change of venue from the theological court to the sociological.“117
Die hier zu diskutierenden Soziologen-Debatten um die Familie müssen nicht nur in die fachinternen Diskurse um Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit eingeordnet werden, sie können auch als Beitrag zur Verhandlung der Herausforderungen der „Moderne“ in den USA, zur „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) und zur Relevanz von Konzepten und Praktiken des „social engineering“ (Thomas Etzemüller) analysiert werden.118 Der Aufstieg der Soziologie zur Leitwissenschaft und die Formierung eines neuen Sozialexpertentypus waren jedoch nicht die einzigen gravierenden Veränderungen zwischen der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts und der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts, welche die Vorstellungen von Familie in der US-Gesellschaft beeinflussten. Zugleich kristallisierte sich ein neues Verständnis von Geschlechterrollen und insbesondere von den Rechten der Frauen heraus. Einerseits veränderte die Verankerung des Frauenwahlrechts in der Verfassung im Jahr 1920 als 19. Amendment to the Constitution die Handlungsmöglichkeiten von Frauen nachhaltig. Andererseits begannen – neben der traditionsreichen Frauenwahlrechtsbewegung des späten 19. Jahrhunderts, die „new women“ der 1920er Jahre – eine neue Schicht gut ausgebildeter, berufstätiger, unabhängiger Frauen – breiter gefasste Forderungen nach Selbstbestimmung und kultureller Unabhängigkeit zu formulieren, als es noch die Vertreterinnen der Frauenwahlrechtsbewegung des späten 19. Jahrhundert getan hatten.119 Im Verein mit Sozialwissenschaftlern, Sozialreformern und liberalen Intellektuellen begannen diese Frauen, die rigiden viktorianischen Moralvorstellungen ebenso in Frage zu stellen wie das patriarchale, auf der Unterordnung der Frau basierende Gesellschaftsmodell – was längerfristige normative Umorientierungen zur Folge hatte.120 Diese Wandlungsprozesse verliefen nicht konfliktfrei und linear, sondern durchaus widersprüchlich und heterogen, wie sich insbesondere am Beispiel der Debatten um Ehescheidung in der Progressive Era zeigen lässt.121
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Scheidung von ihren Gegnern nicht nur als moralisches Problem, sondern als vor allem anti-soziale Maßnahme verstanden, da sie die Familie und damit das Fundament der Gesellschaft bedrohe.122 Zudem manifestierte sich in der öffentlichen Auseinandersetzung um Ehe und Scheidung ein Konflikt um die Rolle der Frau. Die These der Scheidungsgegner, dass vor allem die Frau für die Aufrechterhaltung von Familie und Ehe verantwortlich sei, kollidierte mit dem Postulat der Scheidungsbefürworter, dass auch Frauen das Recht auf die Beendigung einer untragbar gewordenen Beziehung hätten. Die Debatte um Ehescheidung lag quer zu den politischen Lagern und den Geschlechterdichotomien. In beiden Lagern fanden sich Konservative und Liberale, Frauen und Männer, mit einem leichten Übergewicht an Sozialwissenschaftlern bei den Scheidungsbefürwortern und Kirchenmännern bei den Scheidungsgegnern. Im Kern wurde hier eine Auseinandersetzung um das Recht des Individuums (oftmals: der Frau) versus desjenigen der Gemeinschaft geführt. Aufschlussreich ist hier die Rolle der Soziologen, die dem Recht auf Scheidung einerseits öffentlich „wissenschaftliche Reputation“ verliehen, andererseits mit ihren Diagnosen gesellschaftliche Ängste vor den Folgen zusätzlich schürten.123 Es bleibt zu klären, inwiefern sich aus der Debatte um den Stellenwert von „public“ – „private“, Individuum – Gemeinschaft und aus der sukzessiven Marginalisierung der Scheidungsgegner Rückschlüsse auf erste vorsichtige Modernisierungen des Familienbildes zu Beginn des 20. Jahrhunderts ziehen lassen.
Zur sozialhistorischen Konturierung der publizistischen Debatten um Ehescheidung und ihre moralischen sowie gesellschaftlichen Folgen bietet ein erstes Teilkapitel eine kurze Einführung zur Entwicklung der Ehescheidung in den USA im 19. und 20. Jahrhundert. Im Anschluss wird ein zweites Teilkapitel die publizistischen Ehescheidungsdebatten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts untersuchen und dabei insbesondere die Frage aufwerfen, welche Wertverschiebungen sich in diesen Debatten in Bezug auf die Familie ausmachen lassen. Im weiteren Verlauf der Darstellung wird analysiert, inwiefern sich das nationale Familienideal in den USA zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Resultat der Ehescheidungsdebatten veränderte und welche Rolle den Sozialexperten und ihren Analysen des sozialen Wandels dabei zukam.
Die Quellen, die im Folgenden untersucht werden, umfassen zunächst die Schriften amerikanischer Soziologen und Humanwissenschaftler wie Edward A. Ross, James P. Lichtenberger und George Howard. Ebenfalls im Fokus stehen die Soziologin Charlotte Perkins Gilman, der Geistliche und Sozialstatistiker Samuel W. Dike sowie die von ihm gegründete Divorce Reform League. Hinzu kommen Veröffentlichungen der American Sociological Association und für die zeitgenössische Scheidungsdiskussion bedeutende Presseorgane wie die Tageszeitung New-York Tribune und die Zeitschriften Atlantic Monthly sowie North American Review.
1.1 Die Entwicklung der Ehescheidungsrate in den USA des 19. und 20. Jahrhunderts
Die erste aktenkundige Scheidung in der Neuen Welt wurde bereits 1639 in Plymouth ausgesprochen.124 In der Folgezeit vertraten die Kolonien eine jeweils sehr unterschiedliche Scheidungspraxis, wobei sich ein deutliches Nord-Süd-Gefälle herausbildete, da sich die nordöstlichen Kolonien um Massachusetts durch eher liberalere Verfahren auszeichneten, wohingegen der Süden Scheidungen nur im Ausnahmefall gewährte. Im Gefolge der Declaration of Independence und des Unabhängigkeitskrieges nahmen die Scheidungszahlen in den Einzelstaaten stetig zu, obwohl unterschiedliche Rechtsgrundlagen und Scheidungsformen einen Vergleich erschweren. So reichte die Bandbreite vom strikten Verbot der Scheidung in South Carolina und Ehebruch als einzigem möglichen Scheidungsgrund (New York) bis hin zur Zulassung einer Vielzahl von möglichen Scheidungsgründen (in New Hampshire galten zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht weniger als 14 Scheidungsgründe, in Iowa waren es neun125) und der Anwendung von sogenannten „omnibus clauses“126, welche die Scheidung vollständig in den Ermessensspielraum der Richter stellten. Ferner gab es drei potentielle Formen der sanktionierten Trennung, deren häufigste die Scheidung vor Gericht war („juridical divorce“), gefolgt von der Scheidung durch einen Akt des Gesetzgebers („legislative divorce“127) und der von den meisten Kirchen sanktionierten Variante der Scheidung, der rechtlich geregelten Trennung der Ehepartner („divorce of bed and board“).
Festzuhalten ist erstens, dass sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Überzeugung auszubreiten begann, Scheidung sei ein Bürgerrecht in einer demokratischen Gesellschaft. Zweitens änderten sich allmählich die Voraussetzungen der Ehe als Versorgungsinstitution: Durch die Entstehung der Marktwirtschaft verlor die Familie einen Teil ihrer Bedeutung als Produktionseinheit, eine wachsende Mobilität und ein erster Trend zur Individualisierung taten ein Übriges.128 Zeitgenössische Beobachter diagnostizierten zudem bereits in den 1850er und 1860er Jahren einen Scheidungsboom, der sie massiv verunsicherte.129 Dies stand im strikten Gegensatz zur Entwicklung in Europa, wo Scheidung in vielen Staaten vollständig verboten oder wie in Großbritannien auf eine räumliche und wirtschaftliche Trennung der Ehepartner beschränkt war. Diese erste Ehescheidungsdiskussion in den USA wurde flankiert von einer Debatte über die ökonomische und rechtliche Position der Frau in de...