„Der Mensch ist ein Thier, dessen Willen der Vernunft untergeordnet ist“
Diskurslexikographische Probleme und Lösungsansätze am Beispiel des Tier-Konzepts um 1800
Zusammenfassung: Der Beitrag behandelt am Beispiel des Wörterbuchprojekts Zentralbegriffe der klassisch-romantischen „Kunstperiode“ (1760–1840) einige Probleme der qualitativen historischen Diskurssemantik: die Bestimmung des zu behandelnden Diskurses, die Korpusbildung, die Lemmaauswahl, die Bestimmung von Wortbedeutungen (in Abgrenzung zu anderen Wortbedeutungen). Lösungsvorschläge, die hier in Methoden einer qualitativen Diskurssemantik mit einer prinzipiellen Offenheit zu quantitativen Ansätzen bestehen, werden anhand eines Probeartikels zu dem Lexem Tier entwickelt.
Schlüsselwörter: Hermeneutische Linguistik, Konstruktivismus, historische Lexikographie, historische Semantik, Goethezeitlexikographie, Begriffsgeschichte, Diskurs, Korpus, qualitative Diskurslinguistik, relationale Semantik
1Vorbemerkungen
Im Allgemeinen, insbesondere in der Laienöffentlichkeit, besteht die Meinung, eine Wissenschaft verfüge hinsichtlich ihrer Gegenstände über bestimmte feste, sichere und unbezweifelbare Grundkategorien, die ihr eine Bestimmung und daran anknüpfend die Erforschung ebendieser Gegenstände ermögliche. So wisse die Mathematik, was eine Zahl, die Medizin, was Krankheit, und die Sprachwissenschaft, was Sprache sei. Und auch für Teildisziplinen gelte dies, so dass beispielsweise die Lexikographie, die sich mit der Erfassung und Beschreibung von Wortschätzen befasst, Gewissheit haben müsse, was ein Wort, und speziell die semasiologische Lexikographie, was die Bedeutung eines Wortes sei, nach welchen Kriterien man einzelne Bedeutungen und Bedeutungsaspekte von Wörtern bestimmen und voneinander unterscheiden könne. Ohne hier auf einige der grundsätzlichen Schwierigkeiten näher einzugehen, vor welche die Kategorie ‚Wort‘ die Lexikologie und Lexikographie fortwährend stellt (vgl. hierzu beispielsweise Bär 2016a), sollen im Folgenden einige Probleme beleuchtet werden, mit denen es eine Sonderform von Lexikographie, nämlich die Diskurslexikographie, zu tun hat. Dabei handelt es sich, anders als in der klassischen Autorenlexikographie und auch in der gesamtsprach- oder sprachstadienbezogenen Lexikographie, vom Anspruch her nicht um die Beschreibung eines Wortschatzes in seinem vollen Umfang, sondern eines Teilwortschatzes: der ‚diskursrelevanten‘ Wörter. Dafür finden sich in der Forschung unterschiedliche Termini oder terminoide Ausdrücke mit teils leicht unterschiedlichem Fokus, so beispielsweise brisante Wörter (Strauß/Haß/Harras 1989), kontroverse Begriffe (Stötzel/Wengeler 1995), Schlüsselwörter (Hermanns 1994), Leitvokabeln (Böke/Liedtke/Wengeler 1996), Fahnenwörter (Hermanns 1982: 91–95) u. a. m.
Als Beispiel dient hier das diskurslexikographische Projekt Zentralbegriffe der klassisch-romantischen „Kunstperiode“ (www.zbk-online.de), kurz ZBK, und insbesondere der Artikel Tier. Das Projekt ist mehrfach beschrieben worden (zuletzt: Bär/v. Consbruch 2012; Bär 2014; Bär 2015a; Bär 2016b: 106–122), so dass hier einige wenige Umrisse genügen können.
2Gegenstand
Der Gegenstand des Wörterbuchs ist der kunst- und literaturreflexive deutschsprachige Diskurs der Jahrzehnte zwischen 1760 und 1840; im Folgenden ist aus Gründen der Einfachheit auch vom goethezeitlichen202 Literatur- und Kunstdiskurs die Rede.
Was aus sprachwissenschaftlicher Sicht unter einem Diskurs zu verstehen sein könnte, ist, in Auseinandersetzung mit den Arbeiten Michel Foucaults, in den letzten knapp 25 Jahren immer wieder diskutiert worden (vgl. z. B. Busse/Teubert 1994; Hermanns 1994; 1995; Busse 2003; Warnke 2007; Warnke/Spitzmüller 2008; Spitzmüller/Warnke 2011; Felder 2012; Busse/Teubert 2013; Felder 2013; Angermuller u. a. 2014; Niehr 2014). Nach Kämper (2008: 689–690) ist ein Diskurs „eine Serie öffentlicher themenkohärenter, kommunikativer Akte“, die sich „in einem oder mehreren Leitkonzepten verdichten“, die „von Diskursbeteiligten realisiert werden“, die „in unterschiedlichen textuellen Mustern bzw. kommunikativen Praktiken“ sowie „in spezifischen lexikalischen Beständen repräsentiert sind“. Zu ergänzen wäre: Diskurse sind kulturraum- und zeitspezifisch und weisen potentiell intertextuelle Vernetzungsstrukturen auf (vgl. Hermanns 1995: 88; Wengeler 2003: 195; Bär 2016b: 106–107). Römer (2017: 42–50) arbeitet heraus, dass in der Forschung zwei verschiedene Auffassungen bezüglich der Frage zu finden sind, um welche Art von kommunikativen Akten es sich handelt: um Mengen von Texten (Textkorpora) oder um Mengen von Aussagen (Aussagenkorpora). Eine Aussage ist „irgendwo zwischen Wort-, Satz- und Textebene anzusiedeln“ (Jung 2000: 27); sie „kann in einem ganzen Text ausführlich erläutert werden, das Resümee eines Textabschnitts bilden [...] oder aber in einzelnen Wörtern (insbesondere Komposita und/oder Metaphern) lediglich impliziert sein“ (ebd.). Dieser Ansatz ist aus der Sicht einer konsequent hermeneutischen Diskurslinguistik (vgl. Bär 2016c: 288–289) vor allem deshalb attraktiv, weil er es ermöglicht, Diskurse nicht als objektsprachliche, sondern als metasprachliche Größen zu fassen. Unter Aussagen können dann nämlich Propositionen verstanden werden: beschreibungssprachliche Neufassungen – in wortwörtlicher Wiedergabe oder auch in Paraphrase – objektsprachlicher, d. h. in einem Untersuchungskorpus vorliegender Äußerungen (vgl. Bär i. V.). Ein Diskurs ist damit keine objektive historische Gegebenheit, sondern ein hermeneutisches Konstrukt (Bär 2016b: 108; 2016c: 288–289), ein „Forschungsartefakt“ (Busch 2007: 150; Römer 2017: 42) – was allerdings keineswegs identisch damit ist, Diskurse für willkürlich behauptete Größen zu halten. Für ihre Konstitution stehen von der Korpusbildung an bis hin zur Interpretation der einzelnen sprachlichen Äußerungen und ihrer Subsumtion unter Aussagen (im obigen Sinne) komplexe, epistemologisch ausführlich reflektierte Methoden zur Verfügung (für Überblicke vgl. Busch 2007; Gardt 2007; Spitzmüller/Warnke 2011; Gardt 2012; 2013; Niehr 2014; Bär 2016c).
Einen Diskurs als Aussagenkorpus zu fassen, bedeutet: Er erscheint nicht als eine Menge von Texten, sondern eher als ein komplexes Netzwerk funktionaler (grammatischer, semantischer, pragmatischer) Beziehungen zwischen einzelnen Bestandteilen von Texten – was selbstverständlich impliziert, dass dem Diskurs (will sagen: seiner Beschreibung, seiner Konstitution) ein Textkorpus zugrundeliegt. Bildlich ausgedrückt: Ein Diskurs ist ein aus dem Ozean (dem Textkorpus) gezogenes Netz aus Tangfäden (sprachlichen Zeichen), in dem sich weiterer Tang und manches mehr verfangen hat. Die Tangfäden entstammen selbst dem Ozean, nicht aber ihre Verknüpfung. Man zieht mit dem Netz nichts aus dem Ozean, was nicht in ihm ist; was man aber konkret herauszieht, hängt davon ab, wie engmaschig man das Netz geknüpft hat, und übrigens auch davon, wo man es auswirft.
Der goethezeitliche Kunst- und Literaturdiskurs als Gegenstand der ZBK erscheint als ein heterogener Makrodiskurs, der sich sowohl zeitlich als auch qualitativ (inhaltlich-ideologisch) und faktionell (erkennbar anhand zeitgenössischer Selbst- und Fremdzuschreibungen) in mehrere Subdiskurse untergliedern lässt, die teilweise klar unterscheidbar sind, teilweise auch fließend ineinander übergehen. Zu nennen sind mindestens: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang, Klassizismus, Idealismus, Romantik, Vormärz. Diese Subdiskurse sind ebensowenig objektive Größen wie der Ge...