Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid
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Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid

  1. 504 Seiten
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Mathematische Modellierung bei Platon zwischen Thales und Euklid

Über dieses Buch

Wissenschaftliche Mathematik ist eine der wichtigsten Kulturleistungen des antiken Griechenland. Doch wann und wo genau hatte sie ihren Ursprung? Die Einschätzung der Antike, zwischen Thales und Euklid habe Platon eine maßgebliche Rolle gespielt, gilt als Fiktion. Diese Studie wirft einen neuen, modelltheoretischen Blick auf die Zeugnisse und erweist im Gegenteil, dass in der Tat Platon als Schöpfer von axiomatisch-deduktiver Mathematik gelten muss.
Grundlage der Analyse ist eine Neubewertung des Diagramms als zentralen Charakteristikums griechischer Mathematik aus modelltheoretischer Perspektive. Eine Untersuchung der Quadratverdopplung im Menon und zur Würfelverdopplung (Delisches Problem) zeigt, dass eine theoretische Mathematik erstmals für Platon bezeugt ist. Dass weiter auch nur Platon ein Motiv hatte, sie zu erfinden, ergibt sich aus der Explikation von Platons Theorie der mathematischen Modellierung anhand des Liniengleichnisses in Verbindung mit dem Nachweis, dass der Timaios als deren praktische Umsetzung fungiert.
Die Studie bietet wissenschaftshistorisch neue Einsichten zur Entstehung von Mathematik, philosophiehistorisch zu Platons Ontologie und Epistemologie und modelltheoretisch zu Theorie und Praxis von Modellierung.

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Information

1Einleitung

1.1Griechische Mathematik: Perspektiven auf ihre Entwicklung

Wissenschaftliche Mathematik dominiert die moderne Zivilisation. Sie ist eine der bedeutendsten Errungenschaften der antiken griechischen Kultur. Dort erlangte sie ihre klassische Form, in der sie in der frühen Neuzeit wiederaufgenommen und mutatis mutandis noch heute betrieben wird. Dies gilt insbesondere für die bahnbrechende, für keine andere Kultur unabhängig bezeugte methodologische Innovation, mathematisches Wissen in allgemeinen Sätzen auszudrücken und in dieser Form zu beweisen sowie diese Sätze logisch miteinander zu verbinden und zu konsistenten Systemen zusammenhängenden Wissens, ‚Theorien‘, zu vereinigen.1 Diese Theorien verbinden sich in der griechischen Mathematik mit drei spezifischen Merkmalen:
erstens der Entdeckung genereller Sätze und idealer Objekte (wie Zahlen und Figuren), über die man generelle Sätze aufstellen kann; zweitens der Entdeckung von Beweistechniken, d. h. von empirie- und autoritätsunabhängigen Begründungsverfahren; drittens der Entdeckung eines Zusammenhangs solcher Sätze, der ein (deduktives) Satzsystem ermöglicht.2
Zu den ersten fassbaren Manifestationen dieses radikal neuen Ansatzes in der Mathematik gehören Aristoteles’ Wissenschaftstheorie in den Zweiten Analytiken und als praktische Gegenstücke die zwei astronomischen Traktate des Autolykos von Pitane sowie kurze Zeit später Euklids Elemente, Letztere bis weit in die Neuzeit hinein zugleich der paradigmatische Ausdruck von Mathematik und Wissenschaft und gewiss eines der meistgedruckten und -verbreiteten Bücher in der Menschheitsgeschichte überhaupt, übertroffen nur durch die Bibel.3 Angesichts der zeitlichen Zusammenhänge ist die metatheoretische Struktur der griechischen Fachmathematik spätestens seit etwa der Mitte des 4. Jhs v. Chr. etabliert;4 seitdem ist sie im Prinzip dieselbe geblieben, und zwar bis weit in die Moderne hinein. Die Griechen können als die Erfinder von Mathematik und, insoweit Mathematik bzw. eine axiomatisch-deduktive Verfasstheit die Grundlage ist, Wissenschaft im Allgemeinen gelten.5
Während dieser Sachverhalt grundsätzlich, wenn auch nicht in Hinsicht auf die Details6 unstrittig ist, gilt dies von unserem Bild davon, wie diese spezifische Form von Mathematik entstanden ist, wie also die Entwicklung von der voraristotelischvoreuklidischen Form der griechischen Mathematik hin zur aristotelisch-euklidischen Form verlaufen ist – ja: letztlich sogar, ob es eine derartige Entwicklung denn überhaupt gegeben hat –, unglücklicherweise nicht: Weder sind aus der Zeit vor Euklid und Autolykos fachmathematische Schriften überliefert noch aus der Zeit vor Aristoteles theoretische mathematik- und / oder wissenschaftsphilosophische Traktate. Alles, was auf uns gekommen ist, sind vereinzelte Fragmente und vor allem Testimonien, Letztere oftmals erst Jahrhunderte nach dem bezeugten Inhalt verfasst. Die Verfasstheit der frühesten griechischen Mathematik liegt im Dunkeln:
The question of the origins of Greek mathematics has always been considered to be an extremely difficult one. […] But, as has been a continual source of regret ever since, there is an almost total lack of sources concerning the early phases of this process.7
Das Problem besteht aber nicht nur darin, dass die spärlichen Zeugnisse einen nur stark eingeschränkten Blick auf die frühe Entwicklung erlauben. Mindestens ebenso gravierend ist, dass die Zeugnisse die frühe griechische Mathematik fast ausschließlich aus der späteren, aristotelisch-euklidischen Perspektive beschreiben. Damit aber sind, wie man fürchten muss, gerade die entscheidenden Informationen zur historischen Entwicklung verlorengegangen: Griechische Wissenschaftsgeschichtsschreibung sieht bekanntlich kein Problem darin, die Vergangenheit als kontinuierlich-lineare Entwicklung hin auf den gegenwärtigen Zeitpunkt zu beschreiben, und zwar unkritisch aus der Perspektive des Jetzt heraus. Welche generellen Probleme hieraus entstehen, demonstriert eine instruktive Parallele im Bereich der Philosophie, nämlich Aristoteles’ notorisches Referat der ihm vorangehenden griechischen Philosophie im ersten Buch der Metaphysik: Nicht nur sieht Aristoteles in sich selbst ihr natürliches, teleologisch gedeutetes Ziel und führt entsprechend selektiv die Doktrinen früherer Philosophen an, sondern er expliziert diese auch dezidiert in den eigenen Begrifflichkeiten.8 Mit ähnlichen Schwierigkeiten muss man entsprechend auch im Bereich von Mathematik und Wissenschaft rechnen, insbesondere in Angesicht des Umstands, dass ein Großteil der relevanten Zeugnisse mittel- oder unmittelbar auf den Peripatos zurückgeht, nicht zuletzt auf die von Eudemos von Rhodos verfasste (und selbst nur in Fragmenten erhaltene) Geschichte der Geometrie.9
Ein instruktives Beispiel macht die Problemlage deutlich: Zahlreiche Testimonien weisen dem frühen griechischen Philosophen Thales in der ersten Hälfte des 6. Jhs. v. Chr.10 mehrere konkrete mathematische Erkenntnisse zu, unter anderem ein Theorem zu ähnlichen Dreiecken und die Einsichten, dass ein Kreis durch den Durchmesser halbiert wird, dass die Winkel an der Basis eines gleichschenkligen Dreiecks gleich groß sind und dass Scheitelwinkel gleich groß sind:11
[157] τὸ μὲν οὖν διχοτομεῖσθαι τὸν κύκλον ὑπὸ τῆς διαμέτρου πρῶτον Θαλῆν ἐκεῖνον ἀποδεῖξαί φασιν. – [250 f.] Τῷ μὲν οὖν Θαλῇ τῷ παλαιῷ πολλῶν τε ἄλλων εὑρέσεως ἕνεκα καὶ τοῦδε τοῦ θεωρήματος χάρις. λέγεται γὰρ δὴ πρῶτος ἐκεῖνος ἐπιστῆσαι καὶ εἰπεῖν, ὡς ἄρα παντὸς ἰσοσκελοῦς αἱ πρὸς τῇ βάσει γωνίαι ἴσαι εἰσίν, ἀρχαϊκώτερον δὲ τὰς ἴσας ὁμοίας προσειρηκέναι. – [299] Τοῦτο τοίνυν τὸ θεώρημα δείκνυσιν, ὅτι δύο εὐθειῶν ἀλλήλας τεμνουσῶν αἱ κατὰ κορυφὴν γωνίαι ἴσαι εἰσίν, εὑρημένον μὲν ὡς φησὶν Εὔδημος ὑπὸ Θαλοῦ πρώτου, τῆς δὲ ἐπιστημονικῆς ἀποδείξεως ἠξιωμένον παρὰ τῷ στοιχειωτῇ. – [352] Εὔδημος δὲ ἐν ταῖς γεωμετρικαῖς ἱστορίαις εἰς Θαλῆν τοῦτο ἀνάγει τὸ θεώρημα. τὴν γὰρ τῶν ἐν θαλάττῃ πλοίων ἀπόστασιν δι’ οὗ τρόπου φασὶν αὐτὸν δεικνύναι τούτῳ προσχρῆσθαί φησιν ἀναγκαῖον.
[157] Dass der Kreis durch den Diameter zweigeteilt wird [sc. Euklid, Elem. 1, def. 17], soll jener Thales als erster gezeigt haben. – [250 f.] Dank gilt dem alten Thales für viele Entdeckungen, speziell aber auch für dieses Theorem [sc. Euklid, Elem. 1, 5]. Man sagt, dass er als erster gewusst und gesagt habe, dass also die Winkel an der Basis eines jeden gleichschenkligen Dreiecks gleich groß sind, auch wenn er in etwas altertümlicher Weise die gleich großen Winkel als ‚ähnlich‘ bezeichnet hat. – [299] Dieses Theorem [sc. Euklid, Elem. 1, 15] zeigt, dass, wenn sich zwei gerade Linien schneiden, die Scheitelwinkel gleich groß sind; es wurde, wie Eudemos sagt, zwar zuerst von Thales entdeckt, aber erst beim Autor der Elemente [sc. Euklid] einer wissenschaftlichen Demonstration für würdig erachtet. – [352] Eudemos führt in der Geschichte der Geometrie dieses Theorem [sc. Euklid, Elem. 1, 26] auf Thales zurück, denn er sagt, dass für die Art und Weise, wie er den Abstand von Schiffen auf dem Meer gezeigt haben soll, die Benutzung dieses Theorems notwendig sei.
Angesichts von Testimonien wie diesen ergibt sich das in Antike wie Moderne verbreitete Bild von Thales als demjenigen, der die Geometrie in Griechenland eingeführt hat und also der erste Mathematiker oder sogar Wissenschaftler des Abendlandes war.12 Dabei wird Thales in einem ungebrochenen Kontinuum von Euklid bis zurück zu den Ägyptern gesehen, von denen wiederum die Geometrie ursprünglich erfunden worden sei (Entsprechendes gilt für die Arithmetik, die auf die Phönizier zurückgeführt wird):13
ὥσπερ οὖν παρὰ τοῖς Φοίνιξιν διὰ τὰς ἐμπορείας καὶ τὰ συναλλάγματα τὴν ἀρχὴν ἔλαβεν ἡ τῶν ἀριθμῶν ἀκριβὴς γνῶσις, οὕτω δὴ καὶ παρ’ Αἰγυπτίοις ἡ γεωμετρία διὰ τὴν εἰρημένην αἰτίαν εὕρηται. Θαλῆς δὲ πρῶτον εἰς Αἴγυπτον ἐλθὼν μετήγαγεν εἰς τὴν Ἑλλάδα τὴν θεωρίαν ταύτην καὶ πολλὰ μὲν αὐτὸς εὗρεν, πολλῶν δὲ τὰς ἀρχὰς τοῖς μετ’ αὐτὸν ὑφηγήσατο, τοῖς μὲν καθολικώτερον ἐπιβάλλων, τοῖς δὲ αἰσθητικώτερον.
In derselben Weise, wie bei den Phöniziern die genaue Kenntnis der Zahlen ihren Anfang nahm aufgrund von Handel und Verträgen, wurde auch bei den Ägyptern die Geometrie aufgrund der genannten Ursache [sc. der regelmäßigen Neuvermessung des Landes aufgrund der Nilschwemme] gefunden. Zuerst hat Thales im Zuge seiner Reise nach Ägypten diese Wissenschaft nach Griechenland gebracht. Vieles hat er selbst herausgefunden, und in vielem hat er denen nach ihm die Anfänge gewiesen, wobei er die einen Dinge in einer eher allgemeinen Weise, die anderen in einer eher perzeptuellen Weise anging.
Wenngleich sich hieraus ein prima vista plausibles Bild der Entwicklung der Mathematik in der frühen Zeit ergibt – nicht zuletzt wird mit der praktischen Landvermessung ein hinreichender Grund für die Erfindung einer Technik wie der Geometrie geliefert, die einen solchen Zusammenhang ja schon im Namen konserviert –, ergeben sich bei einem zweiten Blick Zweifel und Fragen. Sie beginnen damit, dass die Informationen zu Thales’ mathematischen Erkenntnissen und damit auch die Grundlage der Bewertung seiner Bedeutung für die Entwicklung der Mathematik insgesamt offensichtlich nicht aus erster Hand stammen. Vielmehr spiegeln sie die Perspektive einer späteren Zeit wider, frühestens diejenige des späten 4. Jhs. v. Chr.: Die angeführten Zeugnisse stammen aus einem Kommentar des spätantiken Philosophen Proklos (5. Jh. n. Chr.) zum ersten Buch von Euklids Elementen;14 Proklos seinerseits zitiert in Bezug auf Thales’ mathematische Entdeckungen die Geschichte der Geometrie des Aristoteles-Schülers Eudemos von Rhodos; und diese operiert wiederum im Rahmen des aristotelisch-euklidischen Theorienbestandes.15
Im Ergebnis wird Thales von Proklos exakt dasjenige mathematische Wissen zugesprochen, von dem er gerade in seinem Euklid-Kommentar handelt, und zwar in mehr oder weniger exakt derselben Form wie bei Euklid. Nur in den seltensten Fällen scheinen Unterschiede auf, etwa in den zitierten Testimonien in terminologischer Hinsicht bezüglich der Bezeichnung von Winkeln als ‚gleich groß‘ oder ‚ähnlich‘.16 Doch diese Ausnahme bestätigt gerade den ersten Eindruck: Derartige Unterschiede werden von Proklos (und offenkundig Eudemos) ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Vorwort
  5. Inhalt
  6. 1 Einleitung
  7. 2 Original und Abbild: Eine modelltheoretische Perspektive
  8. 3 Mathematische Diagramme und die Praxis der Modellierung
  9. 4 Verdoppeln und Verdoppeln: Das mathematische Quadrat im Menon
  10. 5 Verdoppeln ohne Verdoppeln: Platon und das Delische Problem
  11. 6 Die Welt als Linie: Mathematische Modellierung im Liniengleichnis der Politeia
  12. 7 Die Welt als Linien: Mathematische Modelle im Timaios
  13. 8 Ergebnisse
  14. Literaturverzeichnis
  15. Indizes