Das Handeln des Anderen
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Das Handeln des Anderen

Pikarischer Roman und Ökonomie im 17. Jahrhundert

  1. 462 Seiten
  2. German
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Das Handeln des Anderen

Pikarischer Roman und Ökonomie im 17. Jahrhundert

Über dieses Buch

Obwohl für das Verständnis der Texte hochrelevant, wurde die spannungsreiche Wechselbeziehung zwischen pikarischem Erzählen und ökonomischem Wissen der Frühen Neuzeit bisher nicht systematisch untersucht. Dies ändert die Arbeit, indem sie an Haupttexten der Gattung - vom "Lazarillo de Tormes" (1554) bis zu den ausgreifenden Romanprojekten H.J.C. von Grimmelshausens (um 1622–1676) und Johann Beers (1655–1700) – wesentliche Schnittstellen und Konfliktkonstellationen dieser Wechselbeziehung analytisch beleuchtet. Es zeigt sich, dass die Dynamik pikarischen Erzählens, die seine Faszinationskraft bis heute ausmacht, nicht zuletzt aus der in ihm performierten Durchkreuzung etablierter ökonomischer Ordnungsvorstellungen resultiert. In ihrem Handeln und Erzählen machen Picaros ein Anderes der Ökonomie sichtbar, das in engem Zusammenhang mit frühneuzeitlichen Prozessen des Wissenswandels einerseits und der sozialen Funktion von Romanliteratur andererseits steht.

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Information

1 Einleitung

Stehen wir hier vor der Pathologie der Systeme
oder vor ihrer Entstehung und Entwicklung?

Michel Serres: Der Parasit

1.1 Markt und Literatur: Cervantes beobachtet die novela picaresca

Im ersten Teil seines Don Quijote lässt Cervantes Quijote auf eine Figur treffen, die in vielerlei Hinsicht die Aufmerksamkeit des Lesers erregt. Schon die Umstände der Begegnung tragen dazu bei. In Begleitung Sancho Pansas durchquert Don Quijote die Sierra Morena, als er auf eine in Ketten gelegte Gruppe von Sträflingen stößt. Neugierig fragt er die Wächter, was die Männer denn verbrochen hätten. Auf die Antwort, es handele sich um zum Galeerendienst Verurteilte, erbittet Quijote das Recht, jeden Einzelnen zu befragen. Es wird ihm gewährt, und Quijote wendet sich an die Gefangenen, die ihm bereitwillig von ihren „Schelmenstücken [...] erzehlen“.1 So hört Quijote allerlei Schauriges von Diebstahl, Bestechung, Zuhälterei, Hexerei und Inzest, bis die Reihe schließlich an einen kommt, der „uff eine besondere Art / als die andern / gebunden und verwahrt“2 ist. Staunend erkundigt sich Quijote nach dem Grund dieser Maßnahme und erfährt, dass der Mann „allein mehr mißhandlungen vnd Vnthaten vff sich hette / als die andern zugleich allzusammen“, außerdem sei er „also gar ein verruchter Schelm“, dass die Wächter „sich jmmer befahen vnnd in furchten stehen müsten / daß er jhnen etwa entrinnen vnd davon lauffen möchte.“3 Wie berechtigt die Furcht ist, wird am Ende der Episode deutlich. Aus einer katastrophalen Fehlinterpretation ritterlicher Ethik heraus verlangt Quijote die Freilassung der Gefangenen. Als ihm diese verwehrt wird, zettelt er ein Handgemenge an, in dessen Verlauf die Gauner sich befreien können und – nachdem sie ihren verwirrten Helfer mit Steinen niedergestreckt haben – „alleine / voneinander abgetheilet / vnd ein jedweder nur absonderlich vor sich selbs“ in den Untergrund der cervantinischen Diegese entschwinden.4
So entkommt schließlich auch der ‚verruchte Schelm‘, dessen Auftritt Cervantes nicht ohne poetologische Hintergedanken in seinen Roman einbaut. Denn wie sich im Gespräch mit Quijote herausstellt, ist der Gefesselte, den die Wächter als den „weit beschriehene[n] Gines von Passamont“ vorstellen,5 nicht nur ein gerissener Gauner. Er ist auch Autor eines Buches, das seine Lebensgeschichte enthält. Anders als die anderen Sträflinge sieht er sich daher nicht bemüßigt, Quijote Auskunft über seine Taten zu geben: „Wolt jhr ja meines Lebens wissenschafft vnd erkundigung einziehen / so wisset / daß ich Gines von Passamont bin / dessen Leben durch diese meine Daumen ist beschrieben vnd zu Papier gebracht worden.“6 Das Buch, so erfährt Quijote, habe Ginés vor Antritt seiner Strafe „vmb zwey hundert halbe Orthe [Silbertaler, S. Z.]“7 im Gefängnis versetzt, wo er es – sobald die zehn Jahre Galeerendienst vorüber seien – um jeden Preis auszulösen gedenke.
Ja antwortete Gines, vnnd hoff es auch wider an mich zu lösen / vnnd wann es schon uff zwey hundert Ducaten verpfändet stünde. Ists dann so gut? fragte Don Kichote. Ja freylich so gut / antwortete Gines, daß der Lazarillo von Tormes schlecht Werck dagegen ist / vnd zwar ins gemein alle andere / welche von derogleichen Sachen jemahls Bücher geschrieben / oder auch ins künfftige schreiben werden.8
Die Forschung hat diese Stelle als Kernstück cervantinischer Romanreflexion identifiziert.9 Beruft sich Ginés auf den Lazarillo de Tormes (1554) als Referenztext seiner Vida, so stellt er diese in eine literarische Reihe, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts, nicht zuletzt durch Mateo Alemáns zweibändige Vida de Guzmán de Alfarache (1599/1604), in Spanien und Europa rasant an Bedeutung gewinnt. Dass andere, ältere Formen romanhaften Erzählens damit ins Hintertreffen geraten, macht Cervantes am Ausgang der Episode diegetisch augenfällig: Don Quijote, der fanatische Leser von Ritterromanen, liegt am Boden; Ginés, der schreibende Picaro, zieht triumphierend von dannen.10
Die Ironie, die Cervantes der Begegnung der beiden unterlegt, entfaltet sich auf allen Ebenen des Erzählens. Sie ist präsent auf dessen Oberfläche, wenn Ginés in einer Fesselung vor den Leser tritt, die alle Maßstäbe exekutiver Praxis sprengt.11 Sie beherrscht aber auch die Tiefenschichten des poetologischen Diskurses. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Buch zu, das Ginés als nonplusultra seiner Gattung anpreist. Wie die Forschung betont hat, legt Cervantes großen Wert darauf zu zeigen, dass das pikarische Buch von seinem Autor nicht zu trennen ist: „In the picaresque [...] book and author become one, as in the case of Ginés, whose reductio ad absurdum of this textual strategy has been noted many times.“12 Geht es in dieser Hinsicht bei der Vida de Ginés de Pasamonte nicht nur um ein (fiktives) Buch, sondern gewissermaßen um das Konzept pikarischer Literatur schlechthin, so kommt dem Umstand, dass Cervantes dieses Buch mit einer eigenen Geschichte ausstattet, gesteigerte Bedeutung zu. Es lohnt sich, diese Geschichte genauer zu betrachten.
Wie zitiert, erzählt Cervantes von einem Pfandhandel mit dem pikarischen Manuskript, aus dem Ginés zweihundert halbe Silbertaler bezogen hat.13 Dass das Geschäft zustande gekommen ist, setzt einen Akt der Spekulation auf die Wertbeständigkeit des verpfändeten Objektes voraus. Nur unter der Bedingung, dass die Vida de Ginés de Pasamonte – dann wohl als Druck – auf dem Markt reüssieren wird, ist der Tausch für den anonymen Pfandnehmer lukrativ. Von vornherein steht das Buch damit im Zusammenhang einer monetären Wertbestimmung, in deren Folge sich die Axiologie vom literarischen in den merkantilen Bereich verschiebt. Deutlich wird dies, wenn Ginés sein Buch anpreist, indem er ihm einen virtuellen Preis zuschreibt, den er jederzeit zu bezahlen gewillt wäre („vnnd wann es schon uff zwey hundert Ducaten verpfändet stünde“). Sein Gegenüber Don Quijote durchschaut diese rhetorische Taktik nicht. Das macht ihn anfällig für deren persuasive Wirkungen. Mit seiner Frage „Ists dann so gut?“ beweist er nicht nur seine Ahnungslosigkeit in merkantilen Dingen, sondern bestätigt auch die von Ginés vorgegebene Identifizierung literarischer und monetärer Axiologie. Ob er will oder nicht, im Gespräch mit Ginés wird Quijote selbst zum Teilnehmer eines literarischen Marktes; er verfällt dessen Rhetorik, ohne zu ahnen, dass damit letzthin sämtliche der sozialen (und poetologischen) Geltungen auf dem Spiel stehen, die er als Ritter repräsentiert.
Schreibt Cervantes seinem Diskurs von der novela picaresca auf diese Weise eine Struktur des Kommerziellen ein, so lässt sich dies in einen größeren Zusammenhang der Beobachtung von Literatur und Markt im cervantinischen Œuvre einordnen.14 Der von Cervantes polemisch beleuchteten Position des Pikaresken kommt man dabei näher, betrachtet man sie im Kontrast zu der im Don Quijote an anderer Stelle entfalteten Konzeption ‚hoher‘ Poesie. Im zweiten Teil des Romans lässt Cervantes Quijote ein weiteres Mal zum Teilnehmer eines Literaturgespäches im Irgendwo des spanischen Hinterlandes werden. Diesmal allerdings sind die Vorzeichen andere. Im Vorgriff auf den Durchbruch zur Klarsichtigkeit, der ihm auf dem Totenbett gelingen wird, spricht Quijote vernünftig und versteht es, seinen Gesprächspartner, einen um seinen passioniert dichtenden Sohn besorgten Edelmann, zu überzeugen.15 Im Kern seiner Rede entfaltet Quijote dabei ein Lob der Poesie, das deren Anderes, das Geld und den Markt, schonungslos mitbenennt:
Die Dichtung, Herr Hidalgo, ist meiner Meinung nach wie eine zarte Jungfer, noch arm an Jahren und reich an Schönheit, zu deren Zierde, Putz und Schmuck eine Vielzahl anderer Jungfern bereitstehen, das heißt, die anderen Wissenschaften, und sie muss sich ihrer aller bedienen, und alle werden erst durch sie geadelt. Aber diese Jungfrau will nicht betatscht, nicht durch alle Gassen gezerrt, will nicht auf Marktplätzen oder in Palastwinkeln vorgeführt werden. Sie ist aus einer so feinen Alchimie-Essenz, dass der Eingeweihte sie in feinstes Gold von unschätzbarem Wert verwandeln kann. […] Keineswegs darf sie käuflich sein […].16
Das Bild von der poesía, die von den Wissenschaften als Zofen umringt ist, schließt an ein allegorisches Erzählprogramm an, das dem gelehrten frühneuzeitlichen Leser aus der Lehrsatire De nuptiis Philologiae et Mercurii des Martianus Capella (5./frühes 6. Jh. n. Chr.) geläufig gewesen sein dürfte.17 Im Sinne seines Gegenstandes wandelt Quijote das Modell des Martianus jedoch in wesentlichen Punkten ab. Zum einen tauscht er die Figur der Philologia durch die der Poesie aus – spitzt den Diskurs also auf die Dichtung zu –, zum anderen greift er in Martianus’ Darstellung der inneren Ökonomie der Wissenschaften und Künste ein. In De nuptiis Philologiae et Mercurii begegnen sich die allegorischen Figuren in einer höfischen Haushaltung, die den Schauplatz der titelgebenden Hochzeit darstellt. Philologia und Mercurius treten bei Martianus in eine – mutmaßlich fruchtbare – societas coniugalis ein und werden damit zu Kronzeugen einer Ökonomie des Wissens, in der es nicht zuletzt auf das commercium artium, den „Wechselverkehr der Künste“, ankommt.18 In Quijotes Entwurf dagegen fehlt das Motiv der Hochzeit. (Seine poesía ist keine Braut, sondern eine unverheiratete Jungfrau, die sanft, doch souverän über die Wissenschaften herrscht (bei Martianus kommen die artes liberales anlässlich der Hochzeit bloß zu Besuch). Aus dem Bild gedrängt ist damit das Prinzip des Mercurius, dessen mythologisch wie etymologisch gegebene Nähe zur Sphäre des Marktes (merx, mercatus, commercium etc.) mit Quijotes Poesie-Auffassung nicht vereinbar ist.
Diese nämlich speist sich aus einem genuin antichrematistischen Impuls.19 Dort, wo in Quijotes Sicht das Geld regiert – in den Gassen, Winkeln und auf den Marktplätzen –, läuft der jungfräuliche body enclosed 20 der poesía Gefahr, zum Opfer niederster Affekte zu werden. Entsprechend deutlich dient die von Quijote entworfene Ökonomie von Dichtung und Wissen(schaften) der Vermeidung dieser Bedrohung. An die Stelle der auf horizontale Wechseldynamiken ausgerichteten Logik des Austausches (commercium) rückt Quijote das vertikale Prinzip einer Herrschaft der Dichtung über die Wissenschaften, wobei erstere letzteren erst zu ihrem Adel verhilft. Leitend sind dabei Begriffe und Denkmuster aus der hermetischen Tradition.21 Wie die Alchemie (alquimia) soll die Dichtung das Material, das sie vorfindet, läutern, bis es in ihr zu vollkommener Reinheit gelangt: zu „feinste[m] Gold von unschätzbarem Wert“ wird. Was sich in diesem Prozess vollzieht, lässt sich als Ausschließung des monetären und merkantilen Komplexes aus dem poetologischen System beschreiben. Zum einen geht es Quijote um die Logik der Schätzbarkeit, die im Produkt poetischer Steigerung überwunden ist; das Gold der poesía ist ganz buchstäblich von unschätzbarem Wert (de inestimable precio), steht als Medium für merkantile Tauschbeziehungen also nicht zur Verfügung.22 Zum anderen formuliert Quijote im Rückgriff auf den hermetischen Diskurs einen epistemologisch wie sozial wirksamen Exklusivitätsanspruch der Dichtung. Nicht die Masse auf den Märkten, sondern der Dichter als „Eingeweihte[r]“ besitzt das Wissen, aus dem wahre Dichtung entsteht. Nur in seinen Händen ist die (Jungfrau poesía vor Zugriffen Unbefugter sicher.
Vor diesem Hintergrund lässt sich die cervantinische Polemik gegen die novela picaresca in ihrer poetologischen Tiefenschärfe ermessen. Wenn Cervantes die Vida de Ginés de Pasamonte in den Kontext von Geld und Markt stellt, markiert er eine Alteritä...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Vorwort
  6. Inhalt
  7. 1 Einleitung
  8. 2 Aufstieg des Parasiten: Historia von Lazarillo de Tormes
  9. 3 Rettung der Heilsökonomie: Albertinus’ Landstörtzer Gusman
  10. 4 Vom Bauernhaus zum Weltmarkt: Grimmelshausens Simplicianischer Zyklus
  11. 5 Der Andere als Kameralist: Beers kluge Picaros
  12. 6 Offenes Ende: Pikarisches Erzählen vor und nach 1700
  13. Literaturverzeichnis
  14. Register