1 Einleitung
Ende Juli 2014 wurde der südamerikanische Staat Argentinien als zahlungsunfähig klassifiziert und gelangte so in den Fokus der internationalen Öffentlichkeit. Medienwirksam war dieses Ereignis aus mehreren Gründen. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts war Argentinien mit mehreren geradezu periodisch wiederkehrenden Krisen konfrontiert und hatte vor dem Zahlungsausfall von 2014 bereits sieben weitere erlebt. Der letzte lag erst dreizehn Jahre zurück und markierte den Schlüsselmoment einer schweren Krise, die die Nation Anfang des Jahrtausends erlebte und die weit über die Wirtschaft hinausreichte. Die selbsterklärte Zahlungsunfähigkeit im Jahr 2001 kam einer Kapitulation im Kampf gegen die fortschreitende Abwärtsbewegung gleich. Aufgrund der großen Bedeutung dieser Krise für das argentinische Selbstverständnis ruft das (Konzept Default unweigerlich den Horizont des historischen Kontexts von 2001 mit auf. Ein Merkmal ist dabei, dass auch in der argentinischen Auseinandersetzung stets der englische Fachterminus verwendet wird, so dass das polyseme (Lexem Default im Folgenden stets in seiner Bedeutung ‹Zahlungsausfall› gemeint ist.
Das Aufsehen um den Default im Sommer 2014 war auch deshalb groß, weil er anders als 2001 nicht durch einen Kollaps des Wirtschaftssystems ausgelöst wurde, sondern die Umsetzung eines Gerichtsurteils war. Er war die Folge eines langjährigen Rechtsstreits zwischen dem Staat Argentinien und einer Gruppe US-amerikanischer Hedgefonds, in dem es um die Rückzahlung von Schulden ging, die seit der letzten Krise nicht weiter getilgt worden waren. Die Hedgefonds hatten vor dem zuständigen Gericht in den USA geklagt, um die von ihnen geforderte Summe zu erhalten, und schließlich Recht bekommen. 1 Bis zu einer Einigung mit ihnen durfte Argentinien seine anderen Gläubiger nicht weiter bedienen. Dadurch kam es schließlich zu einem Zahlungsausfall, dessen Konsequenzen und Dauer nicht ersichtlich waren. Zudem traf er Argentinien zu einem Zeitpunkt ohnehin schwacher Wirtschaftsentwicklung und hoher Inflationsraten.
In den europäischen Medien löste der Fall Zeitungsberichte mit unter anderem folgenden Titeln aus:
Argentiniens Finanzkrise: Das Griechenland Südamerikas (Handelsblatt, 30. 07. 2014)
Frist abgelaufen: Argentinien steht vor der Staatspleite (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. 07. 2014)
La crisis de deuda de Argentina amenaza con daños a países vecinos (El País, 02. 08. 2014)
L’Argentine en défaut de paiement: la crise en six questions (Le Figaro, 31. 07. 2014)
Die Überschriften verdeutlichen, welches Gewicht den Ereignissen beigemessen wird. Der Vergleich mit Griechenland, die Zuschreibung einer «Staatspleite» und die Befürchtung von Auswirkungen auf die Nachbarstaaten zeigen deutlich, dass die Situation international bzw. aus der Sicht namhafter europäischer Publikationsorgane als Krise wahrgenommen und reflektiert wird. Im Kontrast dazu steht die öffentliche Berichterstattung in Argentinien selbst. Obwohl die Nation von der Situation unmittelbar betroffen ist, wird hier ein ganz anderes Licht auf die Ereignisse geworfen:
CFK: «Hoy es 31 de julio y el mundo sigue andando». (Página12, 31. 07. 2014)
Argentina está en condiciones de pilotear esta situación, que no es fácil. Nuestro país tiene muchísimas fortalezas: está parado en una posición sólida y posee el control de las principales variables de la economía. (Tiempo Argentino, 03. 08. 2014, El «default que no es default» y los riesgos del fallo Griesa)
Die Auszüge entsprechen nicht dem, was man von Nachrichten in einer ungewissen wirtschaftlichen Lage erwarten würde. Cristina Fernández de Kirchner, zu der Zeit argentinische Präsidentin, proklamiert zum Zeitpunkt des Eintritts in die Zahlungsunfähigkeit Normalität, indem sie darauf verweist, dass sich die Welt auch jetzt weiterdrehe. Der zweite Ausschnitt verweist auf die Stärke Argentiniens und dessen Fähigkeit, Kontrolle über die herausfordernde Situation zu behalten. Statt Ausnahmezustand und Krisenstimmung spiegeln die Ausschnitte Entdramatisierung und die Ausrichtung auf eine baldige Lösung, die mit der eigenen Kraftanstrengung begründet wird. Die gleiche Situation wird also unterschiedlich gedeutet. Im argentinischen Diskurs wird eine brisante Situation nicht als Krise präsentiert, obwohl dies aus deutscher bzw. europäischer Sicht naheliegt. Dies ruft eine Reihe von Thesen auf:
Krisen sind konstruiert
Die Unterschiede in der Berichterstattung zeigen, dass sich die Existenz einer Krise nicht abschließend aus den gegebenen Umständen erklären lässt, auch wenn dies unserer Alltagsauffassung entspricht. Krisen resultieren also nicht automatisch aus außersprachlichen Fakten wie etwa einer schlechten wirtschaftlichen Konjunkturlage. Vielmehr werden Krisen erst dann Realität, wenn einem Sachverhalt dieser Status verliehen wird. Dementsprechend sind Krisen das Ergebnis von Deutungen und Bewertungen, die in kollektiven Prozessen ausgehandelt werden. Sie sind konstruierte Phänomene, die in Diskursen entstehen. Dabei wird die wirklichkeitskonstituierende Funktion von Sprache ersichtlich (cf. Gardt 2003, 286), «denn Sprache ist das einzige Medium, mit dem wir uns über Entitäten wie ‹Krisen› differenziert verständigen können. Sprache ist das Medium, durch das wir erfahren, was zu einem Zeitpunkt X als ‹Krise› wahrgenommen wird» (Wengeler/Ziem 2010, 335, Hervorh. i. O.). Diese Auffassung macht Krisen zu einem relevanten Forschungsgegenstand für die Sprachwissenschaft. Ihre Leistung zur Erforschung des Phänomens ist, dass sie neben der (Darlegung, dass Krisen sprachliche Konstruktionen sind, auch nachvollziehen kann, wie, also mit welchen diskursiven Verfahren und Techniken dies erfolgt.
Krisen sind kulturell gestaltete Phänomene und damit ein Kristallisationspunkt für kulturelle Unterschiede
Eine zweite These, die sich aus dem Vergleich der europäischen und der argentinischen Darstellung des Zahlungsausfalls ergibt, ist, dass Krisenkonzepte nicht universell sind. Es gibt also keineswegs nur eine einzige Art, schwierige Sachlagen zu deuten. Die unterschiedliche Wahrnehmung lässt sich auf kulturell geprägte Konzepte von Krisen zurückführen, die sich in ihrer sprachlichen Konstruktion manifestieren. Krisen sind daher kulturell gestaltete Wahrnehmungsphänomene (cf. Mergel 2012a, 13). Die Deutung von potenziellen Krisensituationen hängt maßgeblich von der Kulturgemeinschaft ab, in der sie erfolgt, sowie von den bisherigen Krisenerfahrungen, die die Grundlage für die Auseinandersetzung mit ähnlichen Gegebenheiten in der Zukunft bilden. Die kulturelle Geprägtheit von Krisen kann sich auf unterschiedliche Weise zeigen. Zum einen wird sie darin ersichtlich, dass Krisendiskurse unterschiedliche Gestalt annehmen. Zugleich kann sie auch bewirken, dass das Deutungsangebot «Krise» abgelehnt wird, wie das Beispiel des argentinischen Default-Diskurses zeigt. Damit sind Krisen Kristallisationspunkte für kulturelle Unterschiede.
An dieser Stelle ist der Einwand denkbar, die Darstellung des Zahlungsausfalls erfolge einmal aus einer Außen- und einmal aus einer Innenperspektive. Doch dies reicht als Erklärung für die Unterschiede nicht aus, denn gerade aus der Perspektive unmittelbarer Betroffenheit läge es näher, die Situation negativer und dramatischer wahrzunehmen, was jedoch nicht der Fall ist.
Krisen sind der Ort, an dem Identitäten entwickelt und affirmiert werden
Krisen sind Kristallisationspunkte für Identitätskonstruktionen. Sie stellen bestehende Ordnungen in Frage und durchbrechen scheinbar verlässliche Abläufe. So kommt es in Krisenzeiten in der Regel zu einer Dekonstruktion der Ist-Identität und dem Aufbau einer neuen Soll-Identität (cf. Kämper 2012, 252). Ausgehend davon sind Krisendiskurse zugleich Identitätsdiskurse. Diese theoretisch etablierte Feststellung ist in der Vergangenheit kaum zur Grundlage empirischer Studien geworden. 2 Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Deutung von potenziellen Krisensituationen stellt sich die Frage, wie Identitätsgestaltung in Diskursen abläuft, in denen die Brisanz der Lage entschärft wird. Die vorliegende Arbeit wird aufzeigen, dass nationale Identitätsaushandlung ein zentrales Kennzeichen des argentinischen Default-Diskurses ist. Diese zeichnet sich durch einen stark affirmativen Charakter aus. Das bestehende Selbstbild wird nicht dekonstruiert, vielmehr wird ein positiv aufgeladenes Selbstbild aktualisiert und bestätigt. Die Art, wie eine schwierige Situation wahrgenommen wird, wirkt sich also auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Selbstreflexion aus. Daraus folgt, dass auch die Identitätskonstruktion, die in Krisendiskursen stattfindet, kulturell bestimmt ist.
Die andere Seite der Krise und ihre diskurslinguistische Analyse
Den öffentlichen Diskurs Argentiniens prägt eine Form der Auseinandersetzung mit dem Zahlungsausfall, dessen Ergebnis ist, dass die Umstände als überwindbare Herausforderung erscheinen. Ein solcher lösungsorientierter Umgang mit einer schwierigen Sachlage wird in vielen wissenschaftlichen Disziplinen mit dem (Begriff Resilienz beschrieben. Unter Resilienz versteht man allgemein eine Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen, die sich in einem aktiven Bewältigungsverhalten zeigt (Wustmann Seiler 2015, 46). Bringt man den Resilienzbegriff und die diskursive Konstruktion des Zahlungsausfalls zusammen, folgt daraus, dass Resilienz, ergänzend zur bisherigen Forschung, als eine Form des sprachlichen Handelns verstanden werden kann, bei dem eine außersprachliche Situation in ihrer Krisenhaftigkeit dekonstruiert und darüber zugleich überwunden wird. Sprachliches Handeln folgt immer Normen und Traditionen, wie es im Paradigma der Diskurstraditionen hinreichend verankert ist (cf. Koch 1997; 2008; Oesterreicher 1997; Lebsanft/Schrott 2015a; Schrott 2014; 2015a). Kulturelle Wissensbestände dienen als Richtschnur für die Art und Weise, wie eine Diskursgemeinschaft über Themen und Gegenstände spricht oder schreibt (cf. Schrott 2015a, 121). Dementsprechend beruht auch die Konstruktion des Zahlungsausfalls auf Wissensbeständen, die sich in der Auseinandersetzung mit Krisen und potenziellen Krisensituationen in Argentinien in der Vergangenheit verfestigt haben. Übertragen auf den Default-Diskurs heißt das, dass hier Diskurstraditionen erscheinen, die als Diskurstraditionen der Resilienz bezeichnet werden können.
Die vorliegende Arbeit führt die Auffassung von Krisen als Ergebnisse kulturell gestalteter Deutungen und das Konzept der Resilienz mit den Beobachtungen am argentinischen Diskurs zusammen und will folgende Fragestellung beantworten:
Wie gestaltet sich der diskursive Aushandlungsprozess, bei dem eine Situation, die von außen als Krise wahrgenommen und gedeutet wird, als überwindbare Herausforderung konstruiert wird?
Von besonderem Interesse sind dabei die sprachlich-diskursiven Muster, die dazu beitragen, dass die Situation in ihrer Krisenhaftigkeit entschärft wird. Sie werden als Manifestationen von Resilienz und als Hinweise auf entsprechende kulturelle Wissensbestände aufgefasst. Die Arbeit zielt also darauf ab, Resilienzmuster zu identifizieren und über sie Aufschluss über die kulturellen Wissensbestände zu erhalten, die ihnen zugrunde liegen.
Bislang wurden in linguistischen Forschungen stets Kontexte ausgewählt, die der öffentlichen Meinung nach oder aus der Sicht der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Krisen waren (wie z. B. die Ölkrise 1973 oder die Finanzkrise 2008/2009) und in Ergänzung zu anderen Disziplinen nun auch diskurslinguistisch analysiert wurden. Die vorliegende Arbeit wählt einen anderen Weg. Mit der Analyse des argentinischen Default-Diskurses erweitert sie die bisherige diskurslinguistische Krisenforschung um die andere Seite der Krise, indem sie einen Diskurs analysiert, in dem sich eine andere Art der Deutung zeigt, als sie den europäischen Gewohnheiten entspricht. Verbunden damit will sie in den Vordergrund stellen, dass Krisen kulturell gebundene Größen sind.
Die Arbeit erweitert die bisherige Forschung auch dahingehend, dass sie das Konzept der Resilienz in die linguistische Analyse von Krisendiskursen einbringt und es dabei als Deutungsschema begreift, das sich in einer bestimmten Weise des sprachlichen Handelns in Krisensituationen zeigt. Dadurch ist mit der empirischen Analyse auch ein theoriebildender Anspruch verbunden. Dem hier skizzierten Vorhaben liegt eine wissenschaftliche Haltung zugrunde, die Sprache als kulturelle Größe und folglich Sprachwissenschaft als Kulturwissenschaft versteht (cf. Gardt 2007a). Dementsprechend sind sprachliche Muster zugleich kulturelle Muster und können nur vor ihrem Entstehungshintergrund angemessen interpretiert werden.
Der öffentliche Diskurs Argentiniens, auf den in der vorliegenden Arbeit über den Ausschnitt Pressediskurs zugegriffen wird, weist besondere Charakteristika auf. Sein deutlichstes Kennzeichen ist eine starke Polarisierung, die sich in einer Aufspaltung in zwei Lager zeigt. Jedes Lager zeichnet sich durch seine Ausrichtung gegenüber der Regierung aus: Regierungstreue und regierungskritische Medien stehen in schroffer Opposition zueinander. Da die Regierung ein zentraler Akteur im Rechtsstreit mit den Hedgefonds ist, ist davon auszugehen, dass die Konstruktion des Zahlungsausfalls von der Ausrichtung der Medien beeinflusst ist. Die Datengrundlage wurde daher so gewählt, dass das Analysekorpus beide Seiten abbildet und Aufschluss darüber geben kann, inwieweit der Zahlungsausfall Teil der politischen Debatte ist oder ob er ihr vielmehr übergeordnet ist. Ebenso wird die Analyse zeigen, ob eine resiliente Auseinandersetzung im gesamten Diskurs oder nur in Teilen nachzuweisen ist.
An dieser Stelle ist auf einige Grenzen der Arbeit hinzuweisen. Resilienz wird hier als deskriptiver Begriff herangezogen, der es ermöglicht, verschiedene Arten von Diskursen zu einem krisenhaften Ereignis zu differenzieren und die Gestaltung des Default-Diskurses zu beschreiben. Ein normativer Resilienzbegriff im Sinne einer «besseren» Art, mit Krisensituationen umzugehen, wird hingegen abgelehnt. Ebenso wenig zielt die Arbeit auf eine Bewertung des Umgangs der Nation Argentinien mit ihrer Auslandsverschuldung oder der verschiedenen Positionen, die im Diskurs aufscheinen.
Die vorliegende Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut. In Kapitel 2 werden die zentralen Ankerpunkte der deskriptiven linguistischen Diskursanalyse und des Konzepts der Diskurstraditionen ausgeführt. Sie geben der empirischen Analyse den theoretisch-methodischen Rahmen. Eine Darstellung des hier nur knapp angesprochenen Zusammenhangs der Kategorien Krise, Sprache und Identität sowie ein Überblick über die Fragestellungen und Herangehensweisen der bisherigen diskurslinguistischen Krisenforschung dienen als Ausgangspunkt für die Erweiterung um eine stärker kultursensible Perspektive auf Krisendiskurse.
Kapitel 3 widmet sich der Operationalisierung des Resilienzkonzepts für die linguistische Diskursanalyse. Ausgehend von den Resilienzbegriffen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen wird das Konzept zunächst theoretisch an die linguistische Fragestellung adaptiert. Die Annahme, dass sich Resilienz im sprachlichen Handeln in potentiellen Krisensituationen manifestiert und dies auf entsprechende kulturelle Wissensbestände zurückzuführen ist, die ich Diskurstraditionen der Resilienz nenne, ist grundlegend, um das Konzept auf Diskurse zu übertragen. Ein weiterer zentraler Schritt der Operationalisierung ist die Bildung von Analysekategorien, um die Manifestationen von Resilienz zu erfassen. Dies erfolgt in einem hermeneutisch-interpretativen Verfahren direkt am Datenmaterial und bewegt sich damit in einem Wechsel von Theoriebildung und empirischer Korpusanalyse. Das Ergebnis sind aus dem Korpus extrahierte Muster, die als Diskurstraditionen der Resilienz fungieren und den Diskurs als Resilienzmarker und Resilienzfiguren strukturieren, die im Diskurs die Funktion von Schlussregeln haben.
Das vierte Kapitel erläutert als historische Kontextualisierung die Hintergründe, die Ende Juli 2014 zum Zahlungsausf...