1 Einführung und Übersicht
Die drei Bände der Buchreihe „Grundlagen der Elektrischen Energieversorgung“ behandeln die Inhalte meiner Vorlesungen „Grundlagen der elektrischen Energieversorgung“, „Elektrische Energieversorgung I“ und „Elektrische Energieversorgung II“ an der Leibniz Universität Hannover und sind um einige notwendige mathematische und physikalische Grundlagen ergänzt worden. Alle drei Bände sind auf die grundlegende Behandlung von stationären und quasistationären Zuständen des Elektroenergiesystems fokussiert und sollen anhand von detaillierten Beschreibungen und Darstellungen das Verständnis fördern und das notwendige Rüstzeug zur Verfügung stellen, um selbständig entsprechende Frage- und Problemstellungen aus der Planung und Führung von elektrischen Energiesystemen behandeln zu können.
Im ersten Band „Grundlagen, Systemaufbau und Methoden“ wird das notwendige Grundlagenwissen für das Verständnis der Inhalte der oben genannten Vorlesungen und für die in Band 2 und 3 entwickelten Betriebsmittelmodelle, Berechnungsmethoden sowie des Betriebsverhaltens des Gesamtsystems aufbereitet und erläutert. Hierfür werden in den Kapiteln 2 bis 12 die Grundlagen zur Zeigerdarstellung, Wechselstromlehre, Mehrpoldarstellung, Wärmelehre, etc. dargestellt. Die Ausführungen in den Kapiteln 13 bis 18 stellen zum einen die Energiewandlungskette und die Möglichkeiten der Bereitstellung der Elektroenergie sowie verschiedene Grundbegriffe der Energiewirtschaft dar. Zum anderen sollen die Ausführungen einem besseren Verständnis des Aufbaus und der Topologie des Gesamtsystems und der Funktionen der einzelnen schaltenden und nicht schaltenden Betriebsmitteln in den verschiedenen Netzebenen sowie der darauf basierenden Schalt- und Umspannanlagen dienen. Ein besonderer Schwerpunkt dieser Darstellung des notwendigen Grundlagenwissens bilden die den ersten Band abschließenden Beschreibungen zur mathematischen Behandlung von symmetrischen und unsymmetrischen Drehstromsystemen mit Hilfe der Symmetrischen Komponenten in den Kapiteln 19 und 20.
Der zweite Band „Betriebsmittel und ihre quasistationäre Modellierung“ behandelt die Herleitung und Beschreibung der Betriebsmittelmodelle und ihrer Ersatzschaltungen in den Symmetrischen Koordinaten. Im Einzelnen wird auf die aktiven Betriebsmittel Synchronmaschine, Asynchronmaschine und Ersatznetz sowie auf die passiven Übertragungselemente Leitungen, d. h. Freileitungen und Kabel, Transformatoren, Drosselspulen und Kondensatoren detailliert eingegangen. Die Ersatzschaltungen sind die Basis für die Berechnung und Analyse von eingeschwungenen stationären und quasistationären Betriebszuständen in Elektroenergiesystemen und für die Auslegung der Betriebsmittel sowie für die Analyse des grundsätzlichen Betriebsverhaltens und der elektrischen Eigenschaften in fehlerfreien als auch in gestörten Betriebszuständen, auf die in den einzelnen Kapiteln vertiefend eingegangen wird.
Im dritten Band „Systemverhalten und Berechnung von Drehstromsystemen“ werden dann aufbauend auf den Betriebsmittelmodellen und den Grundlagen aus den ersten beiden Bänden die wichtigsten Themen im Rahmen der Netzplanung und Netzführung sowie für die Auslegung der elektrischen Betriebsmittel und Schalter behandelt. Dies umfasst die Berechnung von 3-poligen Kurzschlüssen und von unsymmetrischen Quer- und Längsfehlern, die Bestimmung der Übertragungsverhältnisse in NS- und MS-Netzen mit einfachen Netztopologien, die Analyse der Winkelstabilität bei kleinen und großen Störungen (statische und transiente Stabilitätsanalyse), die Berechnung der Vorgänge im Rahmen der Frequenzregelung in Insel- und in Verbundsystemen (Frequenzstabilität), die Auslegung der Betriebsmittel und Schalter im Rahmen der Untersuchung der thermischen und mechanischen Kurzschlussfestigkeit sowie die Eigenschaften, Vor- und Nachteile der Sternpunktbehandlung in den unterschiedlichen Netzebenen. Die Darstellungen dieser Themen erfolgt sehr detailliert und mit Fokus auf die Vermittlung eines grundlegenden Verständnisses des Systemverhaltens und des Zusammenspiels aller Betriebsmittel.
Mein besonderer Dank bei der Erstellung der drei Bände gebührt meinen wissenschaftlichen Mitarbeitern, den Herren Blaufuß, Breithaupt, Garske, Goudarzi, Huisinga, Kluß, Lager, Dr.-Ing. Leveringhaus, Neufeld, Pawellek, Sarstedt und Schäkel, die u. a. durch wertvolle Anmerkungen und Korrekturlesen zum Gelingen beigetragen haben, sowie Herrn Wagenknecht und den Hilfswissenschaftlern (HiWi) des Fachgebiets Frau Kengkat, Herrn Witt und Herrn Wenzel, die mich durch die Erstellung und Überarbeitung von zahlreichen Zeichnungen unterstützt haben. Besonders hervorheben möchte ich die Unterstützung durch Herrn Blaufuß, der sehr gewissenhaft die Erstellung des Gesamtdokuments koordiniert und die damit verbundenen Schwierigkeiten gemeistert hat, und die unermüdliche Tätigkeit von Herrn Wagenknecht bei der Anfertigung von Ersatzschaltungsbildern, Zeigerbildern, etc. Ebenso gilt mein Dank den in den Quellen genannten Unternehmen, Verbänden und Personen, die mir Zeichnungen und Bilder zur Veranschaulichung der Betriebsmittel zur Verfügung gestellt haben.
Die Leser bitte ich abschließend, mir die beim Lesen festgestellten Fehler, Korrekturvorschläge und gerne auch Ergänzungsvorschläge unter
[email protected] mitzuteilen.
2 Stationäre und quasistationäre Zustände des Elektroenergiesystems
Elektroenergiesysteme werden idealerweise mit sinusförmigen nennfrequenten Spannungen und Strömen konstanter Amplitude und Phasenlage betrieben. Man spricht dann von eingeschwungenen stationären Zuständen des Elektroenergiesystems.
Tatsächlich entstehen etwa durch Nichtlinearitäten von Betriebsmitteln, wie z. B. nichtlineare Magnetisierungskennlinien von Transformatoren, oder durch nichtlineare Verbraucher Verzerrungen der einfrequenten Spannungen und Ströme. Diese nichtlinearen Betriebszustände können mit Hilfe der Fourier-Analyse behandelt werden, und die Vorgänge können in einen Grundschwingungsanteil und Oberschwingungsanteile zerlegt werden, wobei die Überlagerung dieser jeweils stationären Vorgänge den resultierenden stationären Zustand des Elektroenergiesystems beschreibt.
Durch plötzliche Störungen des stationären Zustands, z. B. durch Fehler (Kurzschlüsse oder Unterbrechungen) oder Schalthandlungen, entstehen Ausgleichsvorgänge, die das System von dem ursprünglichen stationären Zustand in einen anderen stationären Zustand, der nach Abklingen der Ausgleichsvorgänge eintritt, überführen. Ein plötzlicher Übergang ist aufgrund der im System vorhandenen kleinen und großen Energiespeicher (Induktivitäten, Kondensatoren, rotierende Massen, etc.) nicht möglich. Die Ausgleichsvorgänge sind durch vielfältige freie Anteile gekennzeichnet, die in linearen Systemen durch die Eigenwerte und Eigenvektoren des Systems bestimmt werden. Man unterscheidet hier zwischen schnellen (elektromagnetischen), mittelschnellen (elektromagnetomechanischen) und langsamen (elektromechanischen) Anteilen in den Ausgleichsvorgängen. Diese Anteile sind in der genannten Reihenfolge mit immer größeren Netzbereichen verknüpft und klingen zunehmend, entsprechend der Größe ihrer Eigenwerte, langsamer und damit im Kurzzeitbereich (Millisekunden), Mittelzeitbereich (Sekunden) und Langzeitbereich (Minuten) ab. Die Änderungsgeschwindigkeiten unterscheiden sich um mehr als eine Größenordnung. Die Vorgänge können deswegen auch als weitgehend voneinander entkoppelt angesehen werden. Das System weist einen sogenannten Multizeitskalencharakter auf [33].
Quasistationäre Zustände sind Vorgänge, bei denen die elektromagnetischen und elektromagnetomechanischen Anteile in den Ausgleichsvorgängen vernachlässigt werden können, weil sie auf die interessierenden Fragestellungen, wie z. B. die transiente Stabilität (siehe Band 3, Kapitel 5), nur einen geringen Einfluss haben. Die dann nur noch zu berücksichtigenden langsamen Anteile führen dazu, dass sich die Amplituden und Phasenwinkel der elektrischen und magnetischen Netzgrößen in Relation zur Grundschwingungsfrequenz nur langsam („quasistationär“) ändern. Die Frequenz kann aufgrund der langsameren Phasenwinkeländerungen als konstant angesehen werden. Für die Beurteilung von quasistationären Vorgängen reicht die Betrachtung der die sinusförmigen Vorgänge einhüllenden Hüllkurven bzw. die Betrachtung der Effektivwerte und ihrer Änderungen aus.
Stationäre und quasistationäre (langsam veränderliche) Zustände in Elektroenergiesystemen sind damit durch einfrequente sinusförmige Spannungen und Ströme gekennzeichnet und können durch ruhende Effektivwertzeiger beschrieben werden (siehe Kapitel 3). Die nach plötzlichen Störungen tatsächlich auftretenden freien Gleichanteile und höherfrequenten Komponenten der zwischen den beiden stationären Zuständen vor und nach der Störung vermittelnden Ausgleichsvorgänge werden damit nicht nachgebildet und vernachlässigt. Mit quasistationären Modellen können nur die elektromechanischen Vorgänge berechnet werden. Plötzliche Störungen sind somit an Sprüngen der Hüllkurven und der Phasenwinkel zu erkennen.
Die Unterschiede zwischen stationären und quasistätionären Zuständen sind in Tabelle 2.1 zusammengefasst.
Tab. 2.1: Stationäre und quasistationäre Zustände
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stationäre Zustände |
quasistationäre Zustände |
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| Effektivwert |
konstant |
langsam veränderlich |
| Kreisfrequenz
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konstant |
konstant |
| Phasenwinkel |
konstant |
langsam veränderlich |
|
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