1.1.1 Die Anordnung der Fabeltexte in der Hauptvorlage Aesopus Dorpii
Der sogenannte Aesopus Dorpii, die „wichtigste lateinische Fabelanthologie der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts“, so Adalbert Elschenbroich, beruht auf der Zusammenarbeit eines niederländischen Humanistenkreises. Initiatoren waren der Professor der Theologie, Martinus Dorpius in Löwen, und der Buchdrucker Thierry Martens.63 Die Sammlung besteht in ihren frühen Ausgaben ab dem Jahr 1513 aus Fabelbearbeitungen von Guilielmus Hermannus Goudanus und Hadrianus Barlandus64 und einigen weiteren Anfügungen.65 Im Laufe weiterer Ausgaben hat die Anzahl der Autoren stets zugenommen. Im Korpus der Ausgaben ab 1521 – dies ist die erste Ausgabe, die aufgrund ihres Textbestandes als Vorlage für den Esopus gelten kann – sind folgende Fabelautoren und -bearbeiter vertreten:
Guilielmus Goudanus. Hadrianus Barlandus. Erasmus Roterodamus. Aulus Gellius. Laurentius. Angelus Politianus. Petrus Crinitus. Ioannes Antonius Campanus. Plinius s[e]cundus novocomensis. Nicolaus Gerbelius Phorcensis. Laurentius Abstemius,66
und aufgrund der zu Beginn der Sammlung wiedergegebenen Äsop-Vita Maximus Planudes. Augenfällig wird die strukturelle Verschiedenheit der beiden Werke bereits beim Vergleich der Titelblätter. Waldis spricht die Fabeln über seine Titelwahl und Präsentation innerhalb der Sammlung allesamt einer Autorität zu, dem sagenhaften Gattungsgründer Äsop. Einzig der Autor Waldis als ‚Neu-Macher‘ tritt in ein potenziell konkurrierendes, über das ‚Neu machen‘ aber primär ergänzendes Verhältnis zu dieser Autorität.67
Dem gegenüber steht der Aesopus Dorpii – dies ist im Übrigen wie so häufig in der Fabelforschung ein von der Forschung verliehener Titel – als eine Fabelsammlung, welche die Pluralität ihrer humanistischen Fabelbearbeiter peritextuell ausstellt und diese als einzelne Autoritäten präsentiert. Entgegen der Erwartung, die dieser sekundär eingeführte Titel weckt, ist Äsop nicht als Fabelautor auf dem Titelblatt vertreten. Stattdessen werden an dieser Stelle in der Sammlung vertretene Fabelbearbeiter als Autoren aufgeführt, selbst wenn in der Sammlung nur eine Fabel unter deren Namen wiedergegeben ist.68 Innerhalb der Sammlung dient im Seitenspiegel eine Überschrift, die auf die linke und rechte Seite verteilt ist, der ersten Orientierung des Lesers. Hierbei wird eine Unterscheidung vorgenommen zwischen den Fabeln von Laurentius Abstemius,69 dessen Fabeln im Seitenspiegel stets mit FABULAE ABSTEMII überschrieben sind, und den Fabeln aller anderen Fabelbearbeiter, die im Seitenspiegel als AESOPI FABULAE markiert werden. Durch Überschriften wie AESOPI FABULAE HADRIANO BARLANDO INTERPRETE70 und durch Vorreden der einzelnen Autoren werden jedoch auch deren Fabelkorpora voneinander unterschieden, und bei einem Autorenwechsel wird in den Peritexten markiert, von welchem Autor welche Fabeln jeweils gedruckt werden. Das vorangestellte Register berücksichtigt wiederum alle Fabeln, unabhängig des humanistischen Autors.
Mit diesem Register wird dem Leser in dieser Sammlung die Möglichkeit gegeben, trotz der Autorenvielfalt bei Kenntnis der Fabelfiguren eine bestimmte Fabel schnell nachzuschlagen. Das Verzeichnis, der INDEX FABVLARVM OMNIVM QVAE hoc libello continentur secundum ordinem Alphabeti,71 ist alphabetisch nach den Fabelfiguren sortiert und erlaubt so einen direkten Zugang etwa zur Fabel von Wolf und Lamm auf Blatt eins.72 Im Vordergrund steht die Fabel und ihr Inhalt, nicht der humanistische Autor. Auch der Esopus weist als letzten Bestandteil am Ende der Fabelsammlung ein Register auf. Dieses ist ebenfalls nach den Überschriften der Fabeln und daher nach den Fabelfiguren sortiert. Während das Register im Aesopus Dorpii jedoch über die alphabetische Ordnung der Fabelfiguren einen alternativen Zugriff auf die Fabeln ermöglicht, ist dies in der Sammlung von Waldis nicht gegeben. Das Register im Esopus redupliziert lediglich die Zählung und Anordnung der Fabeln, es ist also ein Inhaltsverzeichnis im heutigen Sinne. Es verdeutlicht nochmals die Einteilung der Sammlung in viermal hundert Fabeln. Ein Querlesen der Sammlung etwa über Stichworte im Register ist nicht möglich.
Neben den bisher geschilderten Elementen der Makrostruktur der Werke wie Titelblatt, Präsentation der Fabeln und Register bietet auch ein Vergleich der Anordnung der Fabeln einen wichtigen Einblick in die Arbeit des Autors am Esopus. Waldis folgt zu Beginn seiner Fabelsammlung bei der Anordnung eng der Vorlage, so wird im gesamten ersten Buch die Reihenfolge der Vorlage eingehalten.73 Übernommen werden Fabeln von Goudanus (I 1–I 45), Barlandus (I 46–I 85) und nochmals Goudanus (I 86–I 100). Einzig die Goudanusfabel De Simia et eius Prole, die zwischen den Vorlagen der Fabeln I 98 und I 99 steht, wird ausgelassen.74 Damit wird die doppelte Bearbeitung eines Stoffes vermieden, denn der Stoff der Fabel wurde bereits in I 81 in der Bearbeitung von Barlandusʼ De Iove et Simia verarbeitet. Im zweiten Buch mehren sich Umstellungen und Weglassungen. Die im Aesopus Dorpii durch die Wiedergabe von Bearbeitungen weiterer Autoren vermehrte Doppel- oder Dreifachbearbeitungen eines Fabelstoffes werden von Waldis getilgt. Die Orientierung an der Abfolge der Vorlage ist jedoch unverkennbar. Der erste Eingriff in die Anordnung der Fabeln geht allerdings gerade nicht auf die Tilgung einer Doppelbearbeitung zurück. Im Aesopus Dorpii folgt auf die Goudanusfabel De Tigride et Vulpe die Erzählung De Tauris et Leone. Waldis vertauscht die Fabeln, auf II 1 Von den Ochssen/ Vnd dem Loͤwen folgt II 2 Vom Weydeman/ vnd dem Tyger. Für die in seiner Sammlung erst geschaffene exponierte Stelle an den Buchgrenzen entscheidet sich Waldis für eine Abweichung von der Fabelanordnung der Vorlage.
Damit führt Waldis fort, was in äsopischen Fabelsammlungen Tradition hat: Die Auswahl der ersten Fabel eines Buches erfolgt nicht willkürlich. Bei der ersten Fabel des ersten Buches folgt Waldis mit der Fabel von Hahn und Perle der Vorlage und stellt damit auch seinem Esopus die seit Marie de France traditionelle Einstiegsfabel von Fabelsammlungen voran, die über die Thematik des ‚Erkennens‘ poetologische Aussagen zum Verständnis der Fabel verhandelt.75 Für die Auswahl der jeweils ersten Fabel des zweiten, dritten und vierten Buches gibt es keine Tradition, auf die Waldis hätte zurückgreifen könnte. Die vier bucheröffnenden Fabeln korrespondieren auch nicht thematisch miteinander. Die erste Fabel des zweiten Buches Von den Ochssen/ Vnd dem Loͤwen handelt von „Buͤrgerliche[r] einigkeyt“ (II 1,40) und „Vneinigkeyt“ (II 1,41). Erzählt wird von der erfolgreichen List des Löwens, der auf zwei Ochsen trifft, die sich zum Schutz vor bösen Tieren durch „Contract“ (II 1,3) und „Eydes pact“ (II 1,4) verbünden. Der Löwe berichtet ihnen mit „schmeychelworten“ (II 1,17) von einer „New zeitung“ (II 1,20). „Jupiter vnser gmeyner Gott“ (II 1,21) habe beschlossen, dass ein „ewiger fried“ (II 1,25) unter den Tieren herrschen solle. Bei einem Verstoß drohe der Bann. Die Ochsen glauben dem Löwen und einer der beiden wird, nachdem sie sich getrennt ha...