Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts
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Montaignes Erschließung der Grundlagen des Rechts

  1. 240 Seiten
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§ 1 Relativität der Gesetzesgeltung

Das Problem des positiven Rechts ist nicht zuletzt die Relativität seiner Geltung.74 Niemand hat das im Hinblick auf die territorialen Grenzen der Rechtsgeltung deutlicher gesehen als Montaigne. Davon wird später noch ausführlich die Rede sein. Aber auch die zeitliche Geltung wird von ihm berücksichtigt; Vorschriften, die außer Kraft gesetzt sind und nur noch rechtsgeschichtliches Interesse zu verdienen scheinen, werden von ihm allenthalben mitberücksichtigt. Sie sind Teil des menschlichen Erfahrungsschatzes, so dass sie auch dort, wo sie normativ nicht mehr wirken können, zumindest faktisch von Belang sind, da sie zumindest zeitweise gültige Rechtsvorstellungen verkörpern und Erfahrungswissen enthalten, dass den Nachgeborenen etwas über die vordem Lebenden sagt, vor allem aber weil es Menschenwerk ist.75 Es ist umso erstaunlicher, dass die Rechtsgeschichte Montaigne bislang nur ansatzweise gewürdigt hat, obwohl sie in ihm einen zentralen Denker der neuzeitlichen Rechtsgeschichte finden könnte.76

I. Unvordenklichkeit der Gesetzesgeltung

Montaigne hat nämlich nicht nur erkannt, dass Gesetz und Geltung miteinander zuinnerst zusammenhängen, sondern dass der Geltung ein zeitliches Moment anhaftet, das mehr bedeutet als ein einmaliges In-Geltung-setzen der Rechtsnorm: „Und keine Gesetze stehen in ihrem wahren Ansehen, als diejenigen, denen Gott schon eine lange Dauer von alters her gegeben hat: so dass niemand ihren Ursprung weiß, noch ausfindig machen kann, ob sie jemals anders gewesen sind“77Et nulles loix ne sont en leur vray credit, que celles ausquelles Dieu a donné quelque ancienne durée: de mode, que personne ne sçache leur naissance, ny qu’elles ayent jamais esté autres ».78). In diesem Satz kommt beinahe das ganze Rechts- und vor allem Gesetzesverständnis Montaignes zum Ausdruck. Die Gesetzesgeltung bestimmt sich nach der Dauer und der Unvordenklichkeit. Zu dem zeigt sich hier ein positivistischer Grundzug seines Rechtsdenkens: Es sind die geschichtlich gewachsenen und ohne ihre historische Genese unverständlichen positiven Gesetze, die das Recht ausmachen.79

1. Zeitlicher Zusammenhang und Dauer

Für die Gesetze ist kennzeichnend, dass sie nicht erst seit Kurzem, auf ganz bestimmte Einzelfälle hingeordnet in Geltung stehen, sondern dass sie schon immer da zu sein schienen, ja dass sie im Wortsinne gottgegeben erscheinen. Gleichwohl will Montaigne Gott nicht als Gesetzgeber verstanden wissen, so dass auch die Annahme einer naturrechtlichen Begründung, wie sich weiter unten noch zeigen wird, nur mit äußerster Vorsicht bestehen kann. Denn Gott hat aus Montaignes Sicht eben nicht die Gesetze gegeben, sondern er hat ihnen Dauer, also zeitliche Geltung, verschafft. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied, sind doch bei dieser Betrachtung die Gesetze nicht mehr als bloßes Menschenwerk. Nur der zeitliche Zusammenhang der Gesetzesgeltung steht außerhalb des menschlichen Vermögens. Gott gibt nach diesem Verständnis nur die Zeit, in der sich die Gesetze bewähren können, also die Möglichkeit ihrer Geltung. Damit ist er oder sein gleichwie gearteter Wille aber nicht konstitutiv für das Gesetz, sondern allenfalls bestimmend für dessen Geltung.80 Es kommt in dieser Bestimmung der Gesetzesgeltung nicht auf Gott an, es hängt für Montaigne nichts davon ab.81 Hierin liegt ein markanter Unterschied zum mittelalterlichen Rechtsdenken und zugleich ein Beleg für Montaignes spezifisch neuzeitliche Rechtsauffassung.82

2. Unkenntnis des Gesetzesanlasses

Wichtig ist aber auch die zweite Aussage, welche die Dauer präzisiert. Auch wenn die Gesetze nämlich Menschenwerk sind, so werden sie erst dadurch geheiligt, dass kein Mensch mehr lebt, der sie mitbestimmt oder gar erlassen hätte. Der Ursprung, von dem Montaigne spricht, kann nämlich auch als Anlass verstanden werden, so dass gerade die Unkenntnis des Anlasses, der zum Gesetzeserlass geführt hatte, ein Gerechtigkeitsmerkmal darstellt, weil der Sinn und Zweck der jeweiligen Regelung jetzt nicht mehr an diesem Anlass gemessen wird. Wer weiß, warum ein bestimmtes Gesetz erlassen wurde, kann in der Auslegung und im Gesetzesvollzug voreingenommen sein, weil er die bestimmenden Gründe kennt. Wichtiger noch ist aber die umgekehrte Perspektive: Durch diese historische Bedingung der Heiligung des Gesetzes wird nämlich zugleich gewährleistet, dass der Gesetzgeber die möglichen Einzelfälle nicht kennt, auf die das Gesetz zutreffen wird und besonders die Personen, die ihm unterfallen. Dieser bei Montaigne – wenn auch einstweilen noch dunkel – angelegte Gesichtspunkt wird später in der Englischen und Schottischen Aufklärung Bedeutung gewinnen.83
Auch das zweite Untermerkmal verdient vor diesem Hintergrund Hervorhebung, weil darin zum Ausdruck kommt, dass auch der Umstand möglicher Gesetzesänderungen im Laufe der Zeit der Kenntnis der Menschen entzogen sein sollte, wenn es sich um „wahre Gesetze“ handeln soll. Gesetze, die sich immerfort geändert haben, von denen bekannt ist, wann und unter welchen Umständen sie modifiziert wurden, haben für Montaigne geringere Glaubwürdigkeit.84 Wie alles Menschenwerk sind Gesetze mehr oder weniger zufälliges Flickwerk, das bald so, bald anders erstellt werden kann, aber nicht notwendigerweise so besteht, wie es einmal angeordnet wurde. Erst wenn das Gesetz unabhängig vom Kenntnisstand und Beurteilungsmaßstab des möglichen Anwenders ist, steht es „in seinem wahren Ansehen“, gilt es mithin wahrhaft.

II. Skepsis gegenüber dem Wahrheitsanspruch

Damit liegt die Pointe im zunächst unverfänglich erscheinenden Wort des wahren Ansehens, der wahren Glaubwürdigkeit (‚vray credit‘). Denn die Wahrheit, die etwas Unveränderliches und Unbeeinflussbares sein sollte, steht bei den Gesetzen als Menschenwerk in Abhängigkeit zur Kenntnis und Unkenntnis der Rechtsunterworfenen. Sie ist also nichts einmal für allemal Bestehendes, sondern steht unter der Bedingung menschlicher Unzulänglichkeit und ist damit selbst Gegensta...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Vorwort
  6. Inhaltsverzeichnis
  7. Einleitung
  8. § 1 Relativität der Gesetzesgeltung
  9. § 2 ‚Mystisches Fundament‘ der Gesetze
  10. § 3 Rechtsfindung und Wahrheitsfindung
  11. § 4 Befangenheit in der conditio humana
  12. § 5 Montaignes Skepsis gegenüber dem Naturrecht
  13. § 6 Rechtsanthropologie als Naturrechtsersatz
  14. § 7 Erschließung der Grundlagen des Rechts
  15. Literaturverzeichnis
  16. Personenregister