Allegorese als Ambiguierungsverfahren
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Allegorese als Ambiguierungsverfahren

Eine kognitiv-semantische und diskurstraditionelle Analyse mittelalterlicher romanischer Predigten

  1. 402 Seiten
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Allegorese als Ambiguierungsverfahren

Eine kognitiv-semantische und diskurstraditionelle Analyse mittelalterlicher romanischer Predigten

Über dieses Buch

In der mittelalterlichen Bibelauslegung zeigt sich häufig eine strategisch eingesetzte Ambiguierung, wenn der Interpret neben dem ,Literalsinn' der auszulegenden Textstelle nach einer weiteren geistlichen Lesart sucht. Mit einer geistlichen Interpretation, die sich auf christliche Lebensführung und Glaubensinhalte bezieht, können die Bibeltexte für die zeitgenössischen Zuhörer relevant gemacht werden.

Der Fokus der vorliegenden Arbeit liegt auf einer theoretischen Beschreibung der Allegorese aus semiotischer Perspektive und einer anschließenden Analyse ihrer konkreten Gestaltung in 63 Texten aus dem 12. und 13. Jahrhundert, die alle der Diskurstradition ,Predigt' zuzuordnen sind und in sechs romanischsprachigen Homiliaren (Sermoni subalpini, Homilies d'Organyà, Homilies de Tortosa, Sermons limousins, Sermons de carême wallons sowie den Sermons des Maurice de Sully) enthalten sind.

Die innovative Anwendung kognitiv-semantischer Methodik auf einen textlinguistischen Gegenstand erweist sich als sehr fruchtbar, da sie eine präzise Phänomenbeschreibung ermöglicht und deutlich macht, dass trotz der Auslegungsregeln und der hohen Konventionalität, die die Allegorese bestimmen, Deutungsspielraum besteht.

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Information

1 Einleitung

In der christlich geprägten Kultur des europäischen Mittelalters stellten die Annahmen, dass der Löwe für Christus steht, die Turteltaube für Keuschheit oder Jerusalem für Frieden, Allgemeinplätze dar. Der Löwe, die Taube oder die Stadt Jerusalem sind als Zeichen zu betrachten, die innerhalb eines bestimmten Systems nach gewissen Regeln funktionieren. Dieses System, das Brinkmann in Analogie zur menschlichen Sprache als «Sprache der Dinge» (1980, 25) bezeichnet, beruht auf der Annahme, dass alles Irdische auf Transzendentes verweisen kann (cf. 1 Kor 13,12). Eine wesentliche theoretische Grundlegung hierfür findet sich in Augustins Hermeneutik De doctrina christiana, in der er in Bezug auf die Auslegung der Heiligen Schrift beschreibt, dass bestimmte Sachverhalte (res), auf die verba verweisen, wiederum als signa fungieren können (cf. Kapitel 3.2). Bei Texten, in denen auf einen Löwen, eine Turteltaube oder Jerusalem verwiesen wird, kann folglich eine zweite Semiose angenommen, die sich an die erste Semiose des sprachlichen Zeichens anschließt. Die zweigestufte Semiose stellt ein Ambiguierungsverfahren dar, mit dessen Hilfe neben dem wörtlichen auf einen übertragenen geistlichen Schriftsinn verwiesen wird. Die genaue Funktionsweise dieses Verfahrens soll am Beispiel der Diskurstradition «Predigt» in der Romania des 12./13. Jahrhunderts untersucht werden. Damit werden Texte, die in der romanistischen Sprachwissenschaft bisher vor allem zur Erforschung der älteren romanischen Sprachstufen und der Verschriftlichung dieser Sprachen herangezogen wurden, unter einer ganz neuen Fragestellung betrachtet, wenn das ambiguierende Auslegungsverfahren untersucht wird und somit eine textlinguistische Fragestellung an sie herangetragen wird. Die Textlinguistik befasst sich mit der Bedeutungskonstitution oder auch dem Sinn von Texten und weist damit ein hermeneutisches Interesse auf (cf. Coseriu 2007, 200), welches sie in Bezug auf die Auslegung der Heiligen Schrift mit der Theologie teilt.
Für eine Beschreibung der Allegorese als Textauslegungsverfahren ist zum einen eine semiotische Analyse des Interpretationsprozesses des Textes als Zeichen, zum anderen eine semantische Beschreibung der Bedeutungsverknüpfungen vorzunehmen. Da bei der Allegorese unterschiedliche Bedeutungen miteinander verknüpft werden, bietet es sich an, mithilfe eines kognitiv-semantischen Ansatzes die Funktionsweise des Auslegungsverfahrens über die Art der konzeptuellen Verknüpfungen zu beschreiben. So ist davon auszugehen, dass diese, wenn sie kognitiv plausibel sind, auf Assoziationsrelationen wie Similarität, Kontiguität oder Kontrast basieren. Die kognitiv-semantische Methodik, die in der bisherigen Forschung insbesondere Bedeutungswandel im Lexikon einer Sprache sowie Wortbildungsverfahren untersucht, wird in dieser Arbeit auf ein neues Feld angewendet, wenn mit ihrer Hilfe Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Interpretationen eines Textes oder Textelementes untersucht werden. Dieser Zugang zu den mittelalterlichen Predigttexten verspricht eine präzise Beschreibung der Verknüpfungsvorgänge. Auch wenn bekannt ist, dass die mittelalterliche Allegorese in erster Linie über Analogiebildungen funktioniert, erscheint es sinnvoll, dieses Auslegungsverfahrens genauer zu analysieren, da zum einen zu überprüfen ist, ob wirklich immer Analogiebildungen vorliegen oder ob auch Kontiguität oder Kontrast eine Rolle bei der konzeptuellen Verknüpfung spielen. Zum anderen stellt sich die Frage, wie die similaritätsbasierten Verknüpfungen genau gestaltet und sprachlich realisiert sind. Die Plausibilisierung der Verknüpfungsrelation ist von besonderem Interesse, da sie erlaubt, Schlüsse auf die didaktische Intention und die Adressatenschaft des Predigers1 zu ziehen.
Die theoretischen Grundlagen zur Allegorese und ihrer Entstehung werden in Teil A dargelegt: Hierzu wird in Kapitel 2 die Allegorese als spezifisch theologisches Ambiguierungsverfahren reflektiert, welches auf Texte angewendet wird, die als «heilig» betrachtet werden. Nach einer begrifflichen Klärung und der Kontrastierung der allegoria als Tropus mit der allegoria als Auslegungsverfahren, welches auch als «Allegorese» bezeichnet werden kann, wird die Kontrastrierung von geistlichem und leiblichem Schriftsinn in den Blick genommen. Hierzu wird insbesondere in Rückgriff auf den hellenistischen jüdischen Theologen Philo von Alexandria und Origenes, der aus christlicher Perspektive den Umgang mit problematischen Textstellen erörtert, die Ambiguierung der wörtlichen Textbedeutung betrachtet, die – wie schon bei Origenes zu sehen – nicht auf zwei Bedeutungen beschränkt sein muss, sondern in mehrere geistliche Schriftsinne unterteilt werden kann. Das Kapitel endet mit einer Beschreibung der Modelle der Auslegung nach dem drei- und vierfachen Schriftsinn. Daraufhin erfolgt in Kapitel 3 eine semiotische Betrachtung der Allegorese. In einem ersten Schritt werden hierzu zwei semiotische Modelle zur allgemeinen Beschreibung von (Text-)Interpretationsprozessen vorgestellt, die dabei helfen sollen, das spezifische Auslegungsverfahren der Allegorese, das mit einer bestimmten christlichen Hermeneutik verknüpft ist, allgemein im Kontext von Auslegungsverfahren zu verorten. Bei diesen Modellen handelt es sich um die zur Klärung textlinguistischer Fragestellungen entworfene strukturalistische Modellierung Coserius sowie um die Beschreibung der «unendliche Semiose» nach Peirce. In Anschluss daran wird die augustinische Zeichenlehre und in Zusammenhang damit die Modellierung des zweistufigen semiotischen Auslegungsprozesses, in dessen Rahmen res, auf die verba verweisen, wiederum zu signa werden können, welche andere res bezeichnen, dargelegt. Darauf folgt die Diskussion aktueller semiotischer Entwürfe zur Beschreibung der Allegorese und die Entwicklung eines Modells, welches als Grundlage für die in dieser Arbeit durchgeführte Analyse herangezogen werden kann.
Die auf Augustins Zeichenlehre zurückgehende Differenzierung zwischen voces und res, die eine zentrale Rolle in der mittelalterlichen Hermeneutik einnimmt, wird in Kapitel 4 noch einmal aufgegriffen. In einem ersten Schritt werden die beiden konträren Positionen zur Frage, ob bei zeichenhaften res zwischen der res1 als Zeichenträger und der res2, die das Referenzobjekt darstellt, eine wesensmäßige Analogie oder eine Analogie zweier ontologisch getrennter Bereiche zu konstatieren ist, dargestellt. Daraufhin wird die Gegenüberstellung von res und voces als zwei verschiedenen Zeichentypen, die unterschiedlichen Systemen zuzuordnen sind, wie sie in der zentralen Hermeneutik des Mittelalters, dem Didascalion Hugos von St. Viktor, vorgenommen wird, thematisiert. Schließlich wird eine Weiterentwicklung der in Kapitel 3.3.3 dargelegten Modellierung zur Beschreibung der gestuften Semiose bei der Allegorese vorgenommen. Des Weiteren werden die Abgrenzung zwischen dem «Literalsinn» und geistlichen Schriftsinnen sowie die Frage, auf welcher Ebene rhetorische Tropen zu verorten sind, behandelt. Schließlich wird am Ende des Kapitels ein Blick auf die etymologischen Deutungen geworfen, die in der exegetischen Praxis häufig mit der Allegorese kombiniert werden.
In Kapitel 5 werden die für die Analyse der Allegorese wesentlichen kognitiv-semantischen Grundlagen dargelegt, damit die auf Konzeptebene stattfindenden Verknüpfungen beschrieben werden können. Hierzu ist in einem ersten Schritt der Frame-Begriff zu klären, bevor die Verknüpfungsrelationen beschrieben werden. In diesem Zusammenhang wird ausgehend von den Wahrnehmungsprinzipien, die von den Gestaltpsychologen formuliert wurden, die Anwendung von Verknüpfungsrelationen in der Kognitiven Semantik beschrieben. Am Ende des Kapitels erfolgt eine Modellierung der verschiedenen Schriftsinne mit Textframes, Deutungsrahmen und Interpretationsmodi, in denen die für die Analyse der Allegorese relevanten Konzepte und ihre Verknüpfungen darzustellen sind.
In Anschluss an diese theoretische Grundlegung erfolgt in Teil B eine Betrachtung des zu analysierenden Textcorpus. Hierzu werden in Kapitel 6 wesentliche Charakteristika der mittelalterlichen Diskurstradition «Predigt» am Beispiel der romanischen Predigt im 12./13. Jahrhundert beschrieben. In diesem Zusammenhang wird zum einen der Frage nach medialer und konzeptioneller Mündlich- bzw. Schriftlichkeit nachgegangen, zum anderen werden einige Predigten exemplarisch in Hinblick auf wiederkehrende diskurstraditionelle Muster untersucht. Schließlich wird das zu analysierende Textcorpus vorgestellt.
Die darauf folgenden Analysekapitel sind folgendermaßen zu beschreiben: In einem ersten Schritt erfolgt in Kapitel 7 ein Querschnittsvergleich verschiedener Predigten aus unterschiedlichen Homiliaren, die jeweils den selben Evangelientext auslegen, das Tagesevangelium des Palmsonntags. In diesem Kapitel werden Analysekriterien entwickelt, die den Analysen der einzelnen Homiliare in den Kapiteln 8–10 zu Grunde gelegt werden. Des Weiteren werden in diesem Kapitel auf Grundlage der Unterschiede zwischen den einzelnen Predigten Hypothesen bezüglich der vorherrschenden Tendenzen bei der Allegorese und der didaktischen Intention des jeweiligen Predigers entwickelt, die im Anschluss an die Analyse der Kapitel 8–10 zu veri- bzw. falsifizieren sind. Da die analysierten Allegoresen der Sermons des Maurice de Sully (Kapitel 8) und der Sermoni subalpini (Kapitel 10) deutlich umfangreicher sind als die der übrigen vier Homiliare, sind diese beiden Homiliare jeweils separat in einem Kapitel zu untersuchen, wohingegen die Analysen der Homilies de Tortosa, der Sermons limousins, der Homilies d’Organyà sowie der Sermons de carême en dialecte wallon gemeinsam in einem Kapitel erfolgen. Auf die Gesamtauswertung der Predigtanalysen in Kapitel 11 folgt in Kapitel 12 eine Synthese, in der wesentliche Erkenntnisse aus Teil A und Teil B dargestellt werden.

Teil A: Theoretische Grundlagen der Allegorese aus theologischer, semiotischer und kognitiv-semantischer Perspektive

2 Die Allegorese als theologisch begründetes Ambiguierungsverfahren

Bei der Allegorese handelt es sich um ein Ambiguierungsverfahren, mit dessen Hilfe Interpreten Texte, die als heilig2 gelten und die aus diesem Grund aus theologischer Perspektive von Interesse sind, umdeuten können, wenn der wörtliche Textsinn problematisch erscheint, da er beispielsweise zentralen Glaubensgrundsätzen widerspricht.3 Die Ambiguierung geht aus einer strategischen Rezeption eines Textes hervor, die in eine strategische Produktion mündet, insofern als mindestens eine alternative Lesart zum wörtlichen Textverständnis geliefert wird. Ein frühes Beispiel dieser Art findet sich bei Theagenes von Rhegion, der im ausgehenden 6. Jahrhundert die von Homer beschriebenen Götterkämpfe als Kampf der Elemente deutete. Bezeichnet wurde dieses Verfahren anfangs als ὑπόνοια/hypónoia (‘Hintersinn’), ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. findet sich dann auch der im Mittelalter viel gebrauchte Terminus ἀλληγορία/allegoría (‘Anderssagen’). Dieser Begriff bezeichnet aber nicht nur das soeben beschriebene Textinterpretationsverfahren, sondern ursprünglich in erster Linie einen Tropus4 sowie eine Textgattung, die jeweils zwei Bedeutungsebenen aufweisen (cf. Walter Blank 1997, 44; Freytag 2009, 330–332), welche durch eine Similaritätsrelation verknüpft sind.5
Im Gegensatz zur Allegorese müssen beim Tropus und der Gattung nicht erst neue Bedeutungen im Ambiguierungsprozess generiert werden, sondern in beiden Fällen besteht bereits insofern Ambiguität, als zwei Bedeutungsebenen vorliegen. So ist davon auszugehen, dass beim Tropus und der Gattung der Autor einen ambigen Text produziert, während im Falle der Allegorese der Rezipient eines Textes zum Produzenten wird, wenn er eine Ambiguierung der wörtlichen Textbedeutung des zu interpretierenden Textes vornimmt und mindestens eine alternative Textbedeutung aufzeigt.
Im Folgenden wird die für die christliche Allegorese zentrale Grundlegung der Gegenüberstellung von «leiblichem» und «geistlichem» Schriftsinn (cf. Kapitel 2.1) sowie die daraus resultierende Entwicklung des drei- oder vierfachen Schriftsinns (cf. Kapitel 2.2) in den Blick genommen.

2.1 Leiblicher vs. geistlicher Schriftsinn. Ambiguierung im Rahmen der Auslegung heiliger Texte bei Philo und Origenes

Die Allegorese stellt eine Ambiguierung der Textbedeutung dar, die unabhängig davon geschehen kann, ob der Text vom Autor als mehrdeutig intendiert war oder nicht. Sowohl der jüdische Theologe Philo als auch christliche Autoren wie Paulus, Origenes oder Augustin allegorisieren Texte der Heiligen Schrift, da sie sie als göttlich inspiriert betrachten. Grundlegend ist also die Beurteilung eines Textes als «heilig» (cf. Kapitel 2, Anm. 1). Ob der jeweilige Autor den Text als ambig konzipierte, spielt dabei keine Rolle (cf. Hellgardt 1979, 28). Die Annahme der göttlichen Inspiriertheit der Heiligen Schrift ist ganz wesentlich verantwortlich für die Entwicklung der Allegorese, da sie dazu führt, dass Passagen, die insofern als problematisch betrachtet werden, als sie beispielsweise zentralen Glaubensgrundsätzen entgegenstehen, nicht getilgt werden können, sondern sie aufgrund ihrer göttlichen Inspiration trotzdem für gültig erachtet werden.6 Da die Gültigkeit in diesen Fällen aber nicht in der wörtlichen Textbedeutung liegen kann, muss eine Ambiguierung vorgenommen werden, so dass mindestens eine alternative relevante Lesart aufgezeigt werden kann. Das zeigt sich auch in der im 3. Jahrhundert von Origenes verfassten Hermeneutik Peri archon, der ersten theoretischen Begründung der christlichen Allegorese: Die Annahme der göttlichen Inspiriertheit der Schrift veranlasst Origenes dazu – ähnlich wie der hellenistische jüdische Theologe Philo von Alexandria im 1. Jahrhundert n. Chr. –, neben dem «offensichtlichen» oder «leiblichen Sinn» der Schrift einen «verborgenen» anzunehmen.7 Widerstände des wörtlichen Sinns können Origenes zufolge mithilfe der geistlichen Schriftauslegung überwunden werden, die er als einen Aufstieg vom wörtlichen zum geistlichen Schriftsinn beschreibt. Ein solcher Widerstand kann beispielsweise vorliegen, wenn die Faktualität des auszulegenden Textes fraglich erscheint oder der christliche Ausleger sich fragt, ob eine in der Tora enthaltene Vorschrift auch von ihm zu befolgen ist, wie in De principiis 4,3,5 beschrieben.
Das Resultat der Allegorese als Ambiguierungsprozess kann nicht-aufgelöste Ambiguität (cf. Winter-Froemel 2013, 151) sein, die s...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Danksagung
  5. Abkürzungsverzeichnis
  6. Abbildungsverzeichnis
  7. Tabellenverzeichnis
  8. Inhalt
  9. 1 Einleitung
  10. Teil A: Theoretische Grundlagen der Allegorese aus theologischer, semiotischer und kognitiv-semantischer Perspektive
  11. 2 Die Allegorese als theologisch begründetes Ambiguierungsverfahren
  12. 3 Die Allegorese aus semiotischer Perspektive
  13. 4 Die mittelalterliche «Sprache der Dinge» und ihr Verhältnis zu den voces
  14. 5 Die Allegorese aus kognitiv-semantischer Perspektive
  15. Teil B: Analyse der Allegorese in romanischen Predigten des 12. und 13. Jahrhunderts
  16. 6 Die Diskurstradition «Predigt» im 12./13. Jahrhundert am Beispiel romanischer Texte
  17. 7 Vergleich verschiedener Palmsonntagspredigten
  18. 8 Analyse der Allegorese in den Sermons des Maurice de Sully
  19. 9 Analyse der Allegorese in Homiliaren aus katalanischem, limousinischem und wallonischem Gebiet
  20. 10 Analyse der Allegorese in den Sermoni subalpini
  21. 11 Gesamtauswertung der Allegorese in den romanischen Predigtsammlungen
  22. 12 Synthese
  23. 13 Anhang
  24. Literaturverzeichnis
  25. Register