1. Raumtheoretische Grundlagen
Ziel dieses Kapitels ist die Erarbeitung eines Instrumentariums für die Analyse narrativ erzeugter Räume und Orte. Zunächst sollen die eigene Terminologie und die Anforderungen an ein raumanalytisches Instrumentarium dargestellt und reflektiert werden. Hiervon ausgehend sollen einige zentrale Forschungsansätze der Erzähltheorie und Gesellschaftstheorie vorgestellt und auf mögliche Antworten befragt werden (1.1 und 1.2), bevor abschließend der rekursiv aus Textbeobachtungen und der Auseinandersetzung mit raumtheoretischer Forschung entwickelte Untersuchungsansatz dieser Arbeit vorgestellt werden soll (1.3).
Die vorliegende Arbeit arbeitet mit einem relationalen Raumverständnis79 und unterscheidet in dieser Hinsicht nicht zwischen sprachlich erzeugten und geographisch existenten Räumen. 80 Was in anderen Disziplinen Gegenstand kontroverser Forschungsdiskussionen ist, scheint im Hinblick auf sprachlich vermittelte Räume zunächst offensichtlich: Raum wird im Text immer sprachlich erzeugt und durch die Beschreibung und Zuordnung von geographischen Phänomenen, Bauwerken, Gegenständen, Figuren sowie deren Beziehungen untereinander im Sinne eines sich je neu bildenden Relationsgefüges konstituiert. Besondere Bedeutung kommt den Handlungen im und Bewegungen durch den Raum zu, die diese Bezugnahmen vervielfältigen oder modifizieren und so den Raum dynamisieren. Die folgenden kurzen Definitionen der zentralen in dieser Arbeit verwendeten Raumterminologie verstehen sich als Ausgangspunkt, von dem her die Differenz der einzelnen Theorien und ihrer Terminologie in der Forschungsdiskussion deutlicher erkennbar werden soll.
Als RAUM wird ein konkret erzähltes Ensemble von Figuren, Dingen und ihren Relationen bezeichnet, das sich als ein Relationsgefüge mit einer gemeinsamen Ordnung topographisch konstitutiert. 81 Der Begriff der RAUMORDNUNG bezeichnet das Set von Regeln und Strukturen eines spezifischen Raumes; es bestimmt grundlegende Charakteristika eines Raumes, wie den Grad seiner Zugänglichkeit, Formen der möglichen Relationierung zwischen Dingen und Figuren und des räumlichen Handelns sowie mögliche Funktionen des Raumes. Die Zusammenhänge dieser textinternen räumlichen Ordnungen mit textexternen soziokulturellen Raumordnungen sowie mit Textgattungen werden im Folgenden zu diskutieren sein. Räume können nebeneinander liegen oder sich überlagern. Ein Raum kann aus mehreren Teilräumen bestehen, deren Ensembles sich im Einzelnen unterscheiden, die aber beide der Ordnung des übergeordneten Gesamtraumes folgen.
Bei einem ORT handelt es sich um ein konkret auserzähltes, fest umgrenztes und in seiner Lage, Erstreckung und geographischen Beschaffenheit relativ stabiles Ensemble von Figuren und Dingen, das meist durch ein Toponym oder Ortssubstantive bezeichnet wird und somit konkret lokalisierbar ist. Ein Ort kann von mehreren Räumen „bespielt" werden, die von den jeweils aktiven Ensembles von Relationen und Ordnungen abhängig sind. 82 So kann der Ort Jerusalem im Hochmittelalter gleichzeitig für Pilger als Memorialraum für das biblische Heilsgeschehen, für die politischen Interessen der Kreuzzüge als Raum kriegerischer Auseinandersetzung und für die Stadtbevölkerung als Raum alltäglichen Lebens dienen.
GRENZEN trennen Räume von Räumen und Orte von Orten. Sie können im konkreten Raum der erzählten Welt als natürliche Grenzen auftreten oder künstlich erzeugt sein. Sie können verschiedene Ausdehnungen haben, die von einer Trennlinie über Schwellen und Grenzzonen bis hin zu Zwischenräumen reichen. Diese stellen ihrerseits Räume mit einer spezifischen Ordnung dar und nehmen die Funktion von Grenzen für andere Räume ein. Im Falle der mittelalterlichen Literatur sind Wälder, Meere, Wildnis oder Wüsten typische Zwischen- oder Grenzräume. Der topographischen Grenzziehung kann eine raumsemantische, d.h. klassifikatorische Grenze entsprechen.
Mit dem Begriff des BEWEGUNGSRAUMS83 fasse ich die in erzählten Räumen auftretende Dynamisierung durch Bewegung, räumliches Handeln und Veränderungen der einen Raum konstituierenden Relationen. Die Erzeugung und Veränderung räumlicher Strukturen wird in den hier untersuchten Texten immer wieder im Vollzug vorgeführt.
Schon aus diesen ersten terminologischen Vorbemerkungen wird deutlich, dass es auf die scheinbar offensichtliche Frage nach dem Erzählraum eines Textes keine einfachen Antworten gibt. Die narrative Erzeugung des „konkreten Raums der erzählten Welt"84 erfolgt auf unterschiedlichen Ebenen. Es bestehen in jedem Text komplexe Verschränkungen und Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen, gerade deswegen ist ihre analytische Trennung erforderlich. Heuristisch kann unterschieden werden zwischen (1) der sprachlichen Erzeugung von Raum, (2) der semantischen Codierung von Räumen und Orten, (3) der räumlichen Struktur einer Erzählung, (4) dem Raum-Zeit-Gefüge, (5) der Dynamisierung des Erzählraumes zum Bewegungsraum sowie (6) dem Verhältnis von narrativem Raum und textexternen Kontexten. Mit diesen unterschiedlichen Ebenen gehen eine ganze Reihe von Analysefragen einher, die im Folgenden als Leitlinien der Forschungsdiskussion dienen sollen:
1. Die Ebene der sprachlichen Erzeugung von Raum: Welches sprachliche Material wird in welchen syntagmatischen Verknüpfungen bei der narrativen Erzeugung von Raum verwendet? Welche semantischen Felder werden gebildet? Wird Raum explizit oder implizit, deiktisch oder standortneutral, als Relationsgefüge oder als stabiler Container erzählt? Werden topoi oder loci eingesetzt und wie werden sie funktionalisiert? Kommt es zu Repetitionen und differierenden Figurenperspektiven auf den Raum?
2. Die Ebene der semantischen Codierung von Raum: Wie werden in Texten ursprünglich nicht-räumliche Konzepte wie axiologische und moralische Positionen mit den räumlichen Entwürfen verknüpft? Welche Konzepte und Relationen werden räumlich codiert, und wie werden semantische Felder auf diese Weise räumlich organisiert? Welche Konsequenzen haben solche Codierungen für die Darstellung und Funktion der erzählten Räume, für die Korrelation der Erzählepisoden, die Makrostruktur des Textes und seine Teleologie?
3. Im Hinblick auf die Struktur der Erzählung ist zu fragen, ob und wie der Text durch räumliche Strukturen organisiert wird und in welchen funktionalen Beziehungen Orte und Räume zu einander stehen. Korrelieren sie, werden sie parallel oder kontrastiv entworfen? Lassen sich Kontiguitäten oder Akkumulationen von Räumen ausmachen? Ist es möglich, dass ein Ort von verschiedenen Räumen „bespielt" wird? Und wie manifestiert sich eine solche Konkurrenz der Räume an einem Ort sprachlich?
4. Bezüglich des Zeit-Raum-Gefüges des Textes ist zu untersuchen, auf welchen Zeitebenen von einem Raum oder Ort erzählt wird. Raum kann auch als Zeit-Raum erzählt werden, zum Beispiel bei der Beschreibung von Entfernungen. Zudem ist zu fragen, ob bestimme Räume mit bestimmten Zeiten oder Zeitmodellen (z.B. überzeitlich-paradiesischen oder eschatologischen) verknüpft werden.
5. Darüber hinaus ist die Frage nach der Statik oder Dynamik der vorliegenden Raumentwürfe zu stellen. Die Kategorie des Raumes wird vielfach mit Stabilität, die Kategorie der Zeit dagegen mit Veränderung und Bewegung assoziiert. Texte erzeugen jedoch nicht lediglich statische Räume, sie machen sie auch, er-fahrbar', entwerfen sie also im Vollzug. Wie spielen in Raumentwürfen die Vogelperspektive des Erzählers und die sukzessive Er-Fahrung durch die Figuren zusammen? Inwiefern affizieren und manipulieren die Figuren durch ihr räumliches Handeln die entworfenen Räume und Orte? Inwiefern werden die Figuren umgekehrt durch die von ihnen durchreisten Räume affiziert?
6. Eine weiteres Untersuchungsfeld, das sich heuristisch als Text-Welt-Beziehungen umreißen lässt, betrifft das Verhältnis zwischen gesellschaftlich erzeugtem Raum und damit verbundenem Weltwissen und dem erzählten Raum des fiktionalen Textes. Textuelle Raumentwürfe sind stets historisch spezifisch und nur aus ihrem soziokulturellen Kontext heraus verständlich. Wie lassen sich diese soziokulturellen Substrate fassen? Auf welche Diskurse wird zurückgegriffen, und wie werden sie transformiert? Welche kulturellen und gesellschaftlichen räumlichen Ordnungen sind in den Text eingeschrieben, wie werden sie funktionalisiert, bearbeitet oder bestätigt?
Die folgende Diskussion erzähl- und gesellschaftstheoretischer Ansätze soll zum einen dazu dienen, die oben formulierten Fragen zu präzisieren und ein Instrumentarium für ihre Beantwortung zu entwickeln. Zum anderen werden die theoretischen Reflektionen der erarbeiteten Untersuchungsebenen in den diskutierten Forschungsansätzen nachgezeichnet und eventuelle Probleme bei ihrer analytischen Differenzierung erörtert.
1.1 Raum erzählen
Aus der beschriebenen Fülle raumtheoretischer Forschungsansätze sollen hier nur einige Ansätze und Studien vorgestellt werden, die für die Untersuchung der narrativen Erzeugung von Raum in vormodernen Erzähltexten besonders fruchtbringend sind. 85 Es handelt sich zum Einen um den kanonisch gewordenen Ansatz von Jurij Lotman, der zu den einflussreichsten Theoretikern des Raumes in fiktionalen Texten zählt. Zweitens werden mit Katrin Dennerleins Narratologie des Raumes und Uta Störmer-Caysas Studie zu Raum und Zeit im höfischen Roman86 zwei neuere Versuche der systematisierenden Analyse narrativer Raumerzeugung diskutiert. In 1.2 werden dann Bachtins Konzept des Chronotopos und einige gesellschaftstheoretische Ansätze von u. a. Martina Löw und Henri Lefebvre im Mittelpunkt stehen.
1.1.1 Raum erzeugen
Die sprachliche Erzeugung von Raum in literarischen Texten ist seit jeher eine Kategorie der Erzähltheorie, ohne dass diese stets als eigener Gegenstandsbereich konturiert und expliziert wird. Schon bevor das Interesse an Raum in den letzten Jahren als Gegenstand der Literatur- und Kulturwissenschaften wieder Konjunktur gewann, wiesen viele Einführungen in die Erzähltheorie und literaturtheoretischen Handbücher Darstellungen zum „Raum" auf, 87 oftmals jedoch ohne einen systematischen Anspruch zu entwickeln. 88 Unterscheiden lässt sich grundsätzlich einerseits zwischen Ansätzen, welche die sprachliche Erzeugung von Raum gattungs- und epochenunabhängig narratologisch zu fassen versuchen, ihr Interesse also auf ahistorische narrative Erzeugungsstrategien von Raum richten, und andererseits ...