Wilhelm Genazinos Romanfiguren
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Wilhelm Genazinos Romanfiguren

Erzähltheoretische und (literatur-)psychologische Zugriffe auf Handlungsmotivation und Eindruckssteuerung

  1. 676 Seiten
  2. German
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Wilhelm Genazinos Romanfiguren

Erzähltheoretische und (literatur-)psychologische Zugriffe auf Handlungsmotivation und Eindruckssteuerung

Über dieses Buch

Wilhelm Genazinos Romanfiguren bilden den Schlüssel zum Verständnis seiner 'Figurenromane'. Diese Studie leistet diesbezügliche Pionierarbeit und stellt musterhafte Figurenfacetten und Verhaltensstrategien heraus.
Dabei fundiert die Arbeit künftige Forschungen zunächst durch ein Drei-Schichten-Modell, um die Einschätzung abzufedern, es handele sich bei Genazino um die gleiche Figur in Dauerschleife. Das Rückgrat der multimethodisch und interdisziplinär angelegten Studie bildet die Impression-Management-Theorie, welche im Sinne eines Theorietransfers für literaturwissenschaftliche Textanalysen fruchtbar gemacht wird, um die bestehenden Modelle zur Handlungsmotivation in einen größeren Rahmen zu setzen. Insbesondere für Genazinos postmoderne, multiple und zerrüttete Figuren übernimmt Impression Management als Selbstsicherungsmechanismus wichtige Funktionen.
Die damit angesprochene 'Gretchenfrage' der Figurentheorie – Sollte Figuren 'intern' Motivation und Kalkül, mithin eine 'menschliche' Psyche, unterstellt werden oder sind sie 'extern' nur als funktionale 'Bausteine' im Textgebäude zu werten? – wird im Zuge der Analyse pragmatisch beantwortet, um die in Frontstellung einander gegenüberstehenden Lager zu versöhnen.

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Information

Teil II:Schlaglichter

1Innenwelten – Außenwirkungen

„Wie sonderbar unser Innenleben organisiert ist, denke ich und seufze ein bißchen.“ (Heimweh, S. 40)
Alle in diesem Schlaglicht getroffenen Aussagen grundieren gewissermaßen den Genazino’schen Basistypus und tauchen – mal mehr, mal weniger prominent – in den folgenden Schlaglichtern immer wieder auf. Die angerissenen Themenbereiche rund um innere Einstellungen des Basistypus und um dessen äußere Wirkung lassen sich insofern als Meta-Kategorien verstehen, als etwa die Reflexionen zu Individuum vs. Gesellschaft (⇨II.1.1) in alle übrigen Schlaglichter strahlen und hier nicht eigentlich konkrete Verhaltensstrategien verhandelt werden, sondern vielmehr eine (Theory-of-)‚Mind-Map‘, die sich in allen Folgekapiteln als Wegweiser gebrauchen lässt, skizziert wird.
Damit versteht sich dieses Schlaglicht einerseits als Fortsetzung und Ausarbeitung derjenigen unter (⇨I.2.5) in Aussicht gestellten Charakteristika von Genazinos Figuren, andererseits als darüber hinausgehender Fundus von Untersuchungskategorien und basalen Präliminarien, die in den folgenden Schlaglichtern in variabler Kombination den Einzeluntersuchungen Leitplanken geben.
Nach einer für Genazino schon vergleichsweise gut untersuchten Auseinandersetzung mit Aspekten von Vergesellschaftung und Individualität, ohne die kein einziger Roman Genazinos auch nur in Ansätzen adäquat zu lesen ist (⇨II.1.1), wird auf die grundlegende und auf den ersten Blick ambivalente Haltung zur Eindruckssteuerung von Genazinos Figuren selbst abgehoben (⇨II.1.2). Inbegriffen sind die für die Erzähltheorie bereits angeklungenen (⇨I.2.3) Kategorien des Täuschens, der unterschiedlichen Wahrheitsversionen und der Lüge.
Als kleinster gemeinsamer Nenner der Familienähnlichkeiten führt das dritte Unterkapitel (⇨II.1.3) dezidiert das Unterfangen fort, die immer wieder auftauchenden Persönlichkeitseigenarten des Basistypus einzufangen. Dabei wird neben der neutralen Bestandsaufnahme vor allem auch von den gesellschaftlich sanktionierten oder beargwöhnten Marotten, Merkwürdigkeiten, psychischen Problemen wie Zwängen und Neurosen zu sprechen sein, die Genazinos Figuren erst zu solchen machen und einen beträchtlichen Leserreiz wie Analyseansatzpunkt gleichermaßen darstellen.
Was weiter unten in den anderen Schlaglichtern, sofern nötig, erneut auf das jeweilige Untersuchungsobjekt zugeschnitten wird, nämlich die unterschiedlichen Manifestationsformen der interessierenden Verhaltens- und Eindruckssteuerungsstrategien, wird darauf folgend (⇨II.1.4) bereits einmal global besehen eruiert werden: Welche figurenanalytisch relevanten Ausdrucksformen neben der Verbalsprache stehen einem Roman zu Gebote? Körpersprache ist solch ein Ansatzpunkt, der Verstehen und Nicht-Verstehen genauso maßgeblich tangiert, wie es die Blickregie oder das (Ver-)Schweigen ihrerseits tun.
Abschließend malen die beiden letzten Kapitel des ersten Schlaglichts ein kleines Sittengemälde des Genazino’schen Basistypus: Zunächst wird der Lebensstil samt Diskussion des Milieubegriffs unter die Lupe genommen (⇨II.1.5), um Aussagen etwa zur Kapitalstruktur(analyse) oder symboltragenden, selbstergänzenden Gegenständen und deren Relevanz für Genazinos Romanfiguren treffen zu können. Das letzte Unterkapitel (⇨II.1.6) hingegen zoomt noch weiter hinaus und abstrahiert einige wenige über die Romangrenzen hinweg gültige Weltanschauungen, Überzeugungen und Einstellungen der Figurenwelt, wie sie sich bspw. in der Grundüberzeugung, es mit einer maroden konsumkapitalistischen Welt zu tun zu haben, widerspiegelt.657

1.1Individuum vs. Gesellschaft, Distinktion vs. Zugehörigkeit

Genazinos Romanfiguren sind erstens stets unsicher, ob es sich überhaupt lohne, die eigene Stellung im gesellschaftlichen Gefüge suchen zu sollen, oder ob lieber direkt ein möglichst weiter Bogen um potenzielle Vergesellschaftungsmechanismen erste Wahl sei.658 Zweitens und in Affirmation der ersten Erwägung sind sie entweder noch auf der Suche nach ihrer Position und dann wiederum unschlüssig, wo sie ihren Platz am liebsten fänden, oder, haben sie eine solche bereits gefunden, sind sie damit unzufrieden. Aber zurück zur ersten Unterscheidung: ‚Die Gesellschaft‘659 kommt bei Genazinos Figurenbasistypus in aller Regel nicht gut weg (⇨II.1.6). Dennoch ist selbst den angeekeltsten Protagonisten die Tendenz eingeschrieben, eine wie auch immer geartete Bezugnahme zum Referenzsystem ‚Gesellschaft‘ aufrechtzuerhalten: „[S]tarr halte ich die Mitte zwischen Neugier und Abscheu.“ (Frauen, S. 35) ‚Zugehörigkeit versus Distinktion‘ ist ein implizit permanent mitzulesender Trigger des Figurenhandelns und wenn ein Protagonist einmal wissend geworden sein sollte, hält er lakonisch und präzise zugleich Sentenzen wie die folgende in Richtung der Nachgeborenen parat: „Sie sind noch so jung, daß sie ihren wichtigsten Konflikt noch gar nicht erkannt haben: ob sie aus der Gesellschaft heraus- oder erst richtig in sie hineinwollen.“ (Fleck, S. 15) Die Wichtigkeit dieses Komplexes hat freilich die Forschung klar erkannt:
In Genazinos Werk berühren sich […] individuelle wie gesellschaftliche Faktoren, werden hier doch […] anthropologisch-psychologische Diagnosen des Einzelnen und seines vergesellschafteten Zusammenlebens mit wahrnehmungsphilosophischen und nicht zuletzt kunsttheoretischen Reflexionen verbunden.660
Die Reflexe in den Romanen sind so vielfältig, dass es fast beliebig anmutet, wo man hineinzoomt, wenn man eine erste Übersicht geben möchte. Dabei sind die entsprechenden Aussagen manchmal glasklar, wie die eben genannten Beispiele, manchmal aber auch eher verklausuliert: „Die Biografie macht immer zwei Personen aus uns: einen einzelnen Bestimmten und einen einzelnen Irgendjemand.“ (Einfalt, S. 149) Um sich in diesen Gewässern zwischen den Polen von Individualität und Gesellschaft zurechtzufinden, diene laut Honold „[a]ls Leitkompass des Helden […] eine navigatorische Vernunft, welche die Sozialtauglichkeit eines tendenziell idiosynkratischen Individuums in der richtigen Dosierung von Abstand und Zugehörigkeit stets wieder aufs Neue auszutarieren versucht.“661 Das in Rede stehende Geflecht scheint sich entwirren zu lassen, wenn man fürs Erste strukturalistische Raster bildet.

Die strukturalistische Annäherung…

Dabei bietet sich folgender Dreischritt an: In der Nähe welches Pols (Individuum vs. Gesellschaft) wähnen sich die Protagonisten? Inwieweit sind sie damit zufrieden? Welcher Leidensdruck, welche Navigationsbereitschaft zwischen Distinktion(swunsch) und Zugehörigkeit(swunsch) geht damit einher?
Abb. 8: Pfaddiagramm Individuum vs. Gesellschaft
Anders als in hochkomplexen Schemata strukturalistischer Provenienz,662 sind alle Optionen reichhaltig mit Belegstellen unterfütterbar. Allerdings handelt es sich hier ‚nur‘ um eine Hinleitung zu einem grundsätzlicheren Problem und mithin sollen einige wenige kommentierte Beispiele genügen.
[1]„Sie schienen ihre Dumpfheit nicht zu bekämpfen. Sie erlaubte ihnen, als Halbtote durch das Leben zu kommen.“ (Wohnung, S. 22 f.) Im Duktus des altbekannten Unterschieds von ‚Wir haben gewonnen‘ vs. ‚Die haben verloren‘ geht mit der offensiven Herabwürdigung der ‚third party‘ (⇨I.3.3) auch die 3. Person Plural einher, womit zwischen zwei unterscheidbaren Positionen eine Demarkationslinie gezogen wird: „Er glaubte, daß zwischen ihm und den anderen ein grundsätzlicher Unterschied war.“ (Sorgen, S. 160) Mit den abweichenden Überzeugungen (⇨II.1.6) und Lebensstilen (⇨II.1.5) und also dem Status Quo der Distinktion bei gleichzeitiger Wahrnehmung als Individuum sind die Protagonisten durchaus zufrieden, da mit der Geringschätzung der anderen immer eine gleichzeitige Hochstufung des eigenen Selbst verbunden ist.
[2]„Gleichzeitig belastete mich die Unzufriedenheit mit meiner derzeitigen Lage. Ich sehnte mich nach mehr Normalität. Wie die meisten anderen Menschen wollte ich tagsüber arbeiten und nachts schlafen und am Wochenende ins Kino gehen.“ (Regen, S. 20) Was unter der Chiffre der ‚Normalität‘ verborgen wird, ist die implizite Setzung von ‚Viele machen das, also ist es wohl normal‘. Die empfundene Abweichung wird als unangenehm wahrgenommen, sodass ein unzufrieden gelabeltes Einzelschicksal in den Zugehörigkeitswunsch mündet:
Plötzlich verstand ich die vielen Menschen, die sich immerzu die allerneueste Kleidung, die allerneuesten Schuhe und Taschen, die allerneuesten Brillen und die allerneuesten Autos anschaffen mussten. Auch sie fürchteten offenkundig die Selbstverfremdung, die öffentliche und doch geheime Zurückweisung durch die anderen, die in einem versteckten und doch mitgeteilten Hohn nistete. (Kassiererinnen, S. 125)
Zwar darf die Ironie nicht überlesen werden, aber der Wunsch ‚dazuzugehören‘, ist nichtsdestotrotz sinnfällig.663 (⇨I.4 u. ⇨II.1.5) Den Übergang zur nächsten Kategorie bilden Aussagen, die im Grenzbereich der Wahrnehmung zwischen Individuum und Gesellschaft anzusiedeln sind: „Ich betrachte die an mir vorbeigehenden Leute und rede mir ein, daß ich so bin wie sie. Ich zähle auf, was ich mit ihnen gemeinsam habe. Eine Weile geht es ganz gut.“ (Regenschirm, S. 109) Auch hier handelt es sich um den Wunsch, ‚normal‘ zu sein; dass es des Einredens, des Bruders des Selbstbetrugs, bedarf, um sich als Teil der Gesellschaft wahrnehmen zu können, spricht noch für den Zugehörigkeitswunsch. Dass das Herzählen von Gemeinsamkeiten – wenngleich auch nur „eine Weile“ – „ganz gut“ funktioniert, bereits für die tendenziell zufriedene Zugehörigkeit.
[3]Erzählpraktisch interessant ist – in der eben bereits angesprochenen Unterscheidung der Personalpronomen – das folgende Beispiel für ungetrübtes Einverständnis mit der Zugehörigkeit zur Gesellschaft: „Wir sind alle nur sommerlich bekleidet.“ (Frauen, S. 8) Zwar handelt es sich eher um Einschätzungen, die am äußeren Kreis der Familienähnlichkeit ihren Platz haben, aber sie sind nichtsdestoweniger überindividuell zu belegen: Sei es während eines öffentlichen Essens (vgl. Frauen, S. 61 f.), währenddessen sich der Protagonist mit der Zugehörigkeit zur Gesellschaft durchaus einverstanden und zufrieden erklärt, sei es während einer getätigten Beobachtung anderer Menschen: „Aus der Entdeckung eines Details ging immer nur die innere Gewißheit hervor, irgendwo dazuzugehören“ (Ausschweifung, S. 26; vgl. Ausschweifung, S. 45).
Bereits mit einem Fragezeichen zu versehen ist die Zufriedenheit des Protagonisten aus Genazinos Roman Wenn wir Tiere wären: Seine Aussagen, er würde sich „einzelne Individuen suchen, mit denen ich mich an versteckten Orten verabreden würde“ (Tiere, S. 28), sowie: „Du täuschst dich. Ich achte sehr darauf, dass ich Menschen, die nicht zu mir passen, aus dem Weg gehe (Tiere, S. 67), relativieren das Einverständnis, dazuzugehören und verengen den Begriff ‚Gesellschaft‘ auf eine als solche empfundene ‚In-Group‘ Gleichgesinnter.
[4]Diejenigen Menschen, denen der namenlose Ich-Erzähler lieber ausweicht, kennen alle Figuren Genazinos und nicht selten spielt dabei die Verknüpfung mit dem Komplex ‚Dünkel als Strategie der Distinktion‘ eine wichtige Rolle (⇨II.1.3 u. ⇨II.1.5): „Der Anblick der Touristen machte ihm Lust, sich von allen Menschen zu distanzieren.“ (Ausschweifung, S. 154) Hier im nega...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Dedication
  5. Inhalt
  6. Teil I: Grundlagen
  7. Teil II: Schlaglichter
  8. Teil III: Anhang
  9. Danksagung