1.1Ausgangssituation
Nachkommen bzw. Reste der im Laufe der Jahrhunderte in Ostmitteleuropa angesiedelten deutschen Bevölkerungsgruppen teils im Spätmittelalter, doch im größeren Ausmaß und in mehreren Wellen im 18. Jahrhundert, leben heute noch in den Staaten der mittel- und südosteuropäischen Region, doch repräsentieren sie seit 1945 keine zahlenmäßig starke Bevölkerungsgruppe mehr. Aufgrund politischer Grenzziehungen im letzten Jahrhundert erlebte diese Minderheit eine starke Dezimierung und ihre Existenz bedrohende Repressalien, so werden die nach dem Zweiten Weltkrieg in diesen Ländern verbliebenen Minderheitenangehörigen als Restminderheit bezeichnet.
In Ungarn gilt die deutsche Minderheit – neben zwölf anderen staatlich anerkannten Minderheiten – als die zweitgrößte nationale Minderheit nach den Roma. Durch die bewegte Geschichte des 20. Jahrhunderts befinden sich alle Minderheitengruppen in Ungarn in der Gegenwart in einem erheblich fortgeschrittenen Assimilationsprozess, trotz der Tatsache, dass der Schutz und die Rechte der Minderheiten zum Erhalt und zur Pflege ihrer Muttersprache gesetzlich gesichert ist. Auf welche Weise dieser gesetzliche Rahmen von den einzelnen Minderheiten genutzt wird, hängt in großem Maße von der Eigeninitiative und Aktivität der Minderheit selbst ab, inwiefern von der Minderheit selbst etwas für den Erhalt der Sprache und Kultur, für das Fortbestehen der Sprachgemeinschaft unternommen wird.
Die deutsche Sprache und Kultur sowie deren Erhalt spielten im Leben der Deutschen in Ungarn über all die soziohistorischen Umwälzungen der Jahrhunderte hinweg eine zentrale Rolle. Um die zur Förderung der Sprache und Kultur der deutschen Minderheit in Ungarn eingesetzten Maßnahmen und Initiativen gewichten zu können, soll betont werden, dass sowohl von Seiten des deutschsprachigen Sprachraumes als auch der ungarischen Regierung und der Minderheit selbst viel geleistet wird. Es ist nicht das Ziel, einen soziohistorischen Überblick der Gesamtsituation der Ungarndeutschen zu geben185, vielmehr soll schwerpunktmäßig auf die sprachpolitischen und bilateralen sowie die in den letzten Jahrzehnten entwickelten wirtschaftlichen und kulturpolitischen Beziehungen der Fokus gerichtet sein.
Als heute noch relativ kompakt von Ungarndeutschen bewohnte Gebiete gelten folgende:
–Umgebung von Budapest,
–Plattensee-Oberland,
–im Süden des Landes die sog. Schwäbische Türkei sowie östlich der Donau der südliche Teil des Komitats Batsch-Kleinkumanien/Bács-Kiskun,
–der an Österreich angrenzende Streifen des östlichen Burgenlands,
–vereinzelte, punktuelle Streusiedlungen in Ostungarn.
Die Zahl der sich als Ungarndeutsche bekennenden Bevölkerung ist nach den Daten des letzten und vorletzten Zensus vom Zentralamt für Statistik wie folgt:
Tab. 1: Zensusdaten der deutschen Minderheit aus den Jahren 2001 und 2011 (KSH 2001: 4; KSH 2011: 16)
| 2001 | 2011 |
| Gesamtbevölkerung | 10.198.315 | 9.937.628 |
| dt. Muttersprache | 33.192 | 38.248 |
| dt. Nationalität | 62.233 | 131.951 |
| Bindung an die dt. Kultur, dt. Traditionen | 88.416 | ?186 |
| Gebrauch des Dt. im Familien- und Freundeskreis | 53.040 | 95.661 |
Neben einem beachtlichen Prestigezuwachs des Deutschen in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten im Bildungs-, Medien-, und Fremdenverkehrssektor, das nach Englisch immer noch einen beachtlichen zweiten Platz einnimmt, spielen auch die deutschen Unternehmen und Niederlassungen von Firmen aus deutschsprachigen Staaten im Wirtschaftssektor Ungarns eine maßgebende Rolle, wie AUDI, Mercedes, Knorr-Bremse, BOSCH, Siemens, um nur einige von den großen auch in Ungarn angesiedelten Unternehmen hervorzuheben. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen Ungarn und den deutschsprachigen Ländern haben sich insbesondere in den letzten zwei Jahrzehnten außerordentlich intensiv und dynamisch entwickelt. Die Deutsch-Ungarische Industrie- und Handelskammer (DUIHK) ist Interessenvertreter für 900 deutsche und ungarische Unternehmen, sie unterstützt, koordiniert und analysiert die wechselseitigen wirtschaftlichen Beziehungen der beteiligten Länder.187
2016 wurden von der ungarischen Regierung strategische Partnerschaften mit 12 deutschen Großunternehmen unterzeichnet, die zurzeit an die 51.000 Mitarbeiter beschäftigen. Zu bedauern ist nur, dass nicht bei allen deutschen Unternehmen und Firmen in Ungarn neben Englisch auch eine Deutschkompetenz erwartet wird, doch zeichnet es sich langsam ab, dass auch immer öfter die Kenntnis der deutschen Sprache verlangt wird, was u.a. durch firmeninterne Sprachkurse für alle Mitarbeiter gefördert wird. Ungarns Regierung liegt viel daran, den wirtschaftlichen Standort des eigenen Landes für ausländische Investoren zu verbessern. Aus diesem Grunde wird auch die Sprachenpolitik des Landes gestaltet, die es nun in dem als einsprachig betrachteten Ungarn verlangt, dass alle Hochschulabsolventen bei der Vergabe des Diploms einen Nachweis über die Kenntnis zweier Fremdsprachen vorlegen müssen. Dies bedeutet aus einer Kosten-Nutzen-Sicht für die Zukunftsperspektiven der jungen Generationen eine wichtige Motivation, Deutsch als zweite Fremdsprache zu wählen.
Hinsichtlich der Stärkung und Förderung der deutschen Sprache in Ungarn ist auch die Rolle des privat-sozialen Bereichs der ungarndeutschen Bevölkerungsgruppe erwähnenswert, da durch die Globalisierung und die Mobilität der Gegenwart Ungarndeutsche (Fachleute, akademische Berufe, Altenpflege) immer öfter Arbeit im deutschsprachigen Ausland finden, nicht zuletzt aufgrund ihrer kulturellen Anpassungsfähigkeit und ihrer Deutsch- bzw. Dialektkompetenzen. Dieser neu eingetretene Umstand bleibt nicht ohne Auswirkungen auf ihre eigene und die Einstellung ihrer Familie zur deutschen Sprache.
1.2Verwaltungs- und medienpolitische Situation der deutschen Minderheit
2011 erfolgte nach der politischen Wende eine Modifizierung des 1993 verabschiedeten Minderheitengesetzes (Nr. CLXXIX/2011) zum Schutz und Erhalt der einzelnen Minderheiten, das die Bewahrung der Sprache und Kultur garantierte sowie die Rechtsstellung und Arbeitsweise der (lokalen) Minderheitenselbstverwaltungen bestimmte (Kállai 2014: 4). Dass die historischen Minderheiten – so auch die Deutschen – in Ungarn die gesetzlich geschützte Möglichkeit haben, je einen Abgeordneten ins Parlament zu delegieren, bedeutet einen großen Fortschritt in der Minderheiten- und Sprachpolitik des Landes. Nur die Bürger haben über das parlamentarische Minderheitenwahlrecht hinaus auch das Recht, Mitglieder für die lokalen Minderheitenselbstverwaltungen zu wählen, die im Minderheitenwahlregister verzeichnet sind (Minderheitengesetz Nr. CLXXIX/2011, § 64). Die deutschen Minderheitenselbstverwaltungen auf kommunaler Ebene haben ein Mitentscheidungs- und Trägerschaftsrecht bezüglich der Belange der Minderheit (Minderheitengesetz Nr. CLXXIX/2011, § 25 Absatz 4), ihre Aufgabe ist der Zusammenhalt der von Bürgern initiierten Vereine des Kulturlebens und die Organisation des Minderheitenunterrichts auf allen Stufen, die in erster Linie als wichtige Maßnahmen für den Erhalt der deutschen Sprache gelten. Die Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen (LdU) als Dachorganisation, ist das höchste Organ der Minderheit seit 1995, sie umfasst landesweit 340 lokale Minderheitenselbstverwaltungen, über 500 Kulturgruppen und ungarndeutsche Vereine, und verfügt über eine zentrale Geschäftsstelle sowie Regionalbüros in den von Deutschen bewohnten Regionen des Landes. Ihre Aktivitäten werden durch Ausschüsse durchgeführt: Bildungsausschuss, Kulturausschuss (Landesrat der ungarndeutschen Chöre, Kapellen und Tanzgruppen), Verband ungarndeutscher Autoren und Künstler (VudAK), die die aufgrund von Bürgerinitiativen entstehenden Aktivitäten im Bereich der Kultur, der muttersprachlichen Bildung und der Sprachpflege unterstützen und fördern. Zurzeit sind mehr als 30 Bildungseinrichtungen (Kindergärten, Schulen, Gymnasien) in die Trägerschaft der deutschen Selbstverwaltungen der Ortschaften übernommen worden (Kerekes 2013: 129).
Die Medienlandschaft der deutschen Minderheit war seit den 60er Jahren durch eine deutschsprachige Wochenzeitung “Neue Zeitung“ präsent sowie durch einen deutschsprachigen Rundfunk in der südlichen, von Ungarndeutschen dicht bewohnten Gegend, in Pécs/Fünfkirchen täglich für 30 Minuten erreichbar. Als elektronische ungarndeutsche Medien sind die täglich zwei Stunden umfassenden deutschsprachigen Nationalitätensendungen im staatlichen ungarischen Rundfunksender „Nemzetiségi Rádió“ (Nationalitätenradio, AM 873: 1188) sowie seit 1978 die wöchentlich 26 Minuten umfassende deutschsprachige Sendung über und für die deutsche Minderheit „Unser Bildschirm“ des öffentlich-rechtlichen Fernsehens („Duna“ und Wiederholung auf „Duna World“) zu nennen. Darüber hinaus können nach eigenem Wunsch in allen Regionen Ungarns auch deutschsprachige Rundfunk- und TV-Sender empfangen werden.
1.3Zur sprachlichen Situation der deutschen Minderheit
Minderheitensprachen existieren immer im Gefüge und im Sprachkontakt mit der Mehrheitssprache (Landessprache) bzw. mit anderen Sprachen. Die Veränderungen und Entwicklungen in dieser Varietät sind auf viele (z.B. generationelle, geografische oder wirtschaftliche) Faktoren zurückzuführen. Die bisherigen soziolinguistischen Untersuchungen zur deutschen Minderheit in Ungarn deuten über die konkreten sprachlichen Daten hinaus auf weitere externe Faktoren, die die Entwicklung einer Minderheitensprache in großem Maße mitbestimmen188. So sind die jeweilige Sprachpolitik des Landes, die Intensität der persönlichen wie offiziellen Kontakte (sprachliche, kulturelle, wirtschaftliche, etc.) zum deutschen Sprachgebiet sowie das aktuelle sozial-historische Umfeld der Sprachminderheit, mit den rasch wandelnden Strukturen ihres Mikro- und Makroumfeldes als bestimmende Faktoren zu erwähnen.
Von der Minderheitengruppe ausgehende, interne Faktoren bei der Gestaltung ihrer Sprache sind vor allem folgende zu betrachten: Die kontinuierlich abnehmenden Sprachgebrauchsdomänen im Minderheitenalltag dieser Sprachgemeinschaft, die zu einem gravierenden Funktionsverlust der Minderheitensprache führen, als dessen Folge ein allmählicher Sprachabbau auftritt, des Weiteren das Fehlen von zweisprachigen Spracherwerbssozialisationen bereits bei drei-vier Generationen der Ungarndeutschen. Deren Folge ist eine Umstrukturierung der Dominanzverhältnisse in der Sprachkompetenz der Sprecher, dass z.B. für die mittleren und jungen Generationen die Landessprache (Ungarisch) das funktional wichtigste Kommunikationsmittel wurde, bei jüngeren Generationen die Erkenntnis des ökonomischen Vorteils guter Deutschkenntnisse und das Streben zur Zweisprachigkeit (z.B. Arbeitsmöglichkeiten im deutschen Sprachgebiet) erschienen ist.
Vor dem Hintergrund der angeführten Faktoren bei der Beurteilung der Sprachlage der deutschen Minderheit in Ungarn kann man von instabilen, aufgrund eines intensiven Assimilationsprozesses zum Teil sich in Auflösung befindenden, teils noch aktiven Gemeinschaften sprechen. Die natürlichen Begleiterscheinungen dieses langwierigen, vor allem sprachlichen Assimilationsprozesses, die durch den Dauerkontakt mit der Landessprache induzi...