Schweizerdeutsch und Sprachbewusstsein
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Schweizerdeutsch und Sprachbewusstsein

Zur Konsolidierung der Deutschschweizer Diglossie im 19. Jahrhundert

  1. 448 Seiten
  2. German
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Schweizerdeutsch und Sprachbewusstsein

Zur Konsolidierung der Deutschschweizer Diglossie im 19. Jahrhundert

Über dieses Buch

Die deutsche Schweiz gilt als typischer Fall einer Diglossiesituation, in der die Dialekte die ausschliessliche Alltagsvarietät aller Bevölkerungskreise darstellen. Die historischen Bedingungen, die zu dieser sprachgeschichtlichen Entwicklung geführt haben, sind bislang jedoch wenig untersucht. Die Studie analysiert die öffentlichen Debatten zum Schweizerdeutschen und zum Verhältnis zwischen Dialekt und Standardsprache in der Deutschschweiz des 19. Jahrhunderts. Auf dieser Grundlage rekonstruiert sie zeitgenössische Spracheinstellungen und dominante Formen kollektiven Sprachbewusstseins. Sie zeigt, wie sich vor dem Hintergrund gesellschaftsgeschichtlicher Entwicklungen ein nationales Sprachbewusstsein ausbildet, aus dem heraus sich die Diglossie als spezifisches Element einer (Deutsch)Schweizer Sprachkultur konsolidiert, die bis in die Gegenwart anhält. Die Erkenntnisse über die sprachbewusstseinsgeschichtlichen Prozesse des 19. Jahrhunderts, zu denen die Untersuchung eines umfassenden Quellenkorpus gelangt, führen zu nachhaltigen Einsichten in die Geschichte der Deutschschweizer Diglossie und leisten einen massgeblichen Beitrag zum Verständnis der Deutschschweizer Sprachsituation.

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Information

1 Schweizerdeutschdiskurse – zur Einleitung

Ist man als Schweizerin oder Schweizer auf Reisen, erklärt man in der weiten Welt gerne, dass die Schweiz kein drei-, sondern ein viersprachiges Land sei. Und stolz fügt man für Interessierte bei, dass man hierzulande zwar auch Deutsch, aber eben doch nicht High German, Hochdeutsch, sondern Swiss German, Schweizerdeutsch spreche. Was den Fremden letztlich keinen Unterschied macht, ist für Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer dagegen existenziell und essenziell. Denn Schweizerdeutsch reden nur sie, Schweizerdeutsch macht den grossen Unterschied gegenüber den Nachbarn nördlich und östlich des Rheins, die zwar auch Deutsch reden, aber eben nicht Schweizerdeutsch. Diesem Alleinstellungsmerkmal kommt aber auch daheim grosse Bedeutung zu. Kaum treffen sich zwei Unbekannte bei einem gesellschaftlichen Anlass, kommt es auch schon zur regionalen Verortung des Gegenübers anhand des Dialekts. Dies ist – wie Heinrich Löffler beobachtete – in der Deutschschweiz sogar ein wichtiger Teil des „Gesellschaftsspiels ‚Sich kennen lernen‘“. 1
So viel steht fest: Das sprachlich Eigene schafft nicht nur persönliche, sondern auch kollektive Identität. Innerhalb der deutschen Schweiz durch Abgrenzung des eigenen gegenüber anderen Dialekten, im nationalen Kontext durch die Abgrenzung des eigenen Schweizerdeutschen gegenüber dem Hochdeutschen der Andern, der Auswärtigen. 2
Sprache ist in der deutschen Schweiz deshalb oft und gerne Thema privater Interaktion, aber auch in der öffentlichen Diskussion nimmt sie ihren festen Platz ein. Solche öffentlich ausgetragenen metasprachlichen Reflexionen, oder Metasprachdiskurse, umfassen in der deutschen Schweiz in der Regel vier Themenbereiche. Erstens: die Mehrsprachigkeit. Gern wird diskutiert über das Verhältnis der offiziellen Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch, wobei das Verhältnis zwischen der deutschsprachigen und der französischsprachigen Schweiz, den beiden grössten Sprachregionen, am meisten Anlass zum sprachpolitischen Debattieren gibt. 3 – Zweitens: die Normierung des (Schweizer) Standarddeutschen. Der normative Diskurs bezieht sich bereits seit dem 18., dann vor allem im 19. Jahrhundert vornehmlich auf Fragen der orthographischen, orthoepischen und lexikalischen Normierung der deutschen Gemeinsprache. Später geben auch die Legitimität und Ausgestaltung eines spezifisch schweizerischen Hochdeutschs zu reden. 4 – Drittens: der Sprachzustand. Immer wieder lässt man sich ein auf einen im engeren Sinne sprachkritischen Diskurs, der sich in sprachpuristisch motivierter Kritik und sich daraus ergebenden sprachpflegerischen Bemühungen manifestiert. Eine Besonderheit der Sprachpflege in der Deutschschweiz liegt darin, dass sie einem Prinzip der ‚doppelten Reinheit‘ folgt: Sie ist um die Bewahrung oder Wiederherstellung eines ‚reinen‘ Dialekts ebenso bemüht wie um die eines ‚reinen‘ Hochdeutschs. 5 – Viertens: die Diglossiesituation. Die Deutschschweizer Sprachsituation gilt seit Ferguson als typisches Beispiel für Diglossie. Gemeint ist damit jene Ausprägung gesellschaftlicher Zweisprachigkeit, bei der in einer Sprachgemeinschaft zwei Varietäten einer historischen Einzelsprache primär nach funktionalen und nicht nach sozialen Kriterien gebraucht werden. 6 Hierzu stellt sich in der öffentlichen Debatte die Frage: Welchen Stellenwert billigt man dem Dialekt und der (Schweizer) Standardvarietät zu und wie gestaltet sich das Verhältnis der beiden Varietäten zueinander? 7
Während sprachkritische und sprachnormative Diskurse in ähnlicher Weise auch in den anderen deutschsprachigen Ländern zu beobachten sind, ergeben sich die Debatten zur Mehrsprachigkeit und zur Diglossiesituation aus der Spezifik der (Deutsch-)Schweizer Sprachsituation. 8 Naturgemäss finden Mehrsprachigkeitsdiskurse meist sprachregionübergreifend statt, während öffentliche Debatten über die Diglossie vornehmlich in der deutschen Schweiz ausgetragen werden. Erst jüngst wurden im Kontext verschiedener kantonaler Volksinitiativen, die den ausschliesslichen Gebrauch des Dialekts in Kindergärten forderten, die Bedeutung von Mundart und Hochdeutsch und die Frage nach deren angemessenem Verhältnis kontrovers diskutiert. 9
Solche Diskussionen sind keineswegs neu. Die Stellung von Schweizerdeutsch und Hochdeutsch und das Verhältnis der beiden Varietäten zueinander beschäftigte die Öffentlichkeit bereits im 19. Jahrhundert. Damals entwickelte sich die deutschschweizerische Diglossiesituation endgültig zu einem soziolinguistischen ‚Sonderfall‘ im deutschsprachigen Raum. Die nunmehr deutlich wahrnehmbare Diskrepanz zwischen dem Sprachgebrauch der Gebildeten in der Schweiz und jenen in Deutschland wurde zu einem der Themen, die den öffentlichen Diskurs in Sachen Sprache zunehmend bestimmten.
Eben solche öffentlichen Schweizerdeutschdiskurse des 19. Jahrhunderts sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Es geht um metasprachliche Diskurse, welche die Bedeutung des Schweizerdeutschen bzw. des Dialekts sowie das Varietätenverhältnis zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch in der deutschen Schweiz thematisieren.
Der gegenstandkonstituierende Begriff ‚Schweizerdeutsch‘ bedarf dabei folgender Erläuterung. Aus dialektologischer Sicht gibt es kein nach linguistischen Kriterien definierbares eigenständiges schweizerdeutsches Dialektgebiet und folglich kein ‚Schweizerdeutsch‘. 10 Dialektgeographisch gesehen ist Schweizerdeutsch lediglich ein Sammelbegriff, der die Summe aller innerhalb der politischen Grenzen der Schweiz gesprochenen alemannischen Dialekte bezeichnet. Demgegenüber kann aus bewusstseinsgeschichtlicher und laienlinguistischer Perspektive dem Schweizerdeutschen eine gewisse kulturelle Faktizität nicht abgesprochen werden. 11 Als linguistischer Terminus hat ‚Schweizerdeutsch‘ vor allem in diesem Kontext seine Berechtigung: Die „Gefühlsrealität“ 12 einer einheitlichen und eigenständigen Varietät bezieht ‚Schweizerdeutsch‘ aus einigen salienten sprachlichen Merkmalen, mit denen es sich gegenüber anderen deutschen Dialektlandschaften und der Standardsprache leicht hörbar abgrenzen lässt, sowie insbesondere aus der speziellen Pragmatik des Dialektgebrauchs in der Deutschschweiz, wo im Unterschied zu den meisten übrigen deutschsprachigen Regionen (Ausnahmen sind Liechtenstein und bis zu einem gewissen Grad auch das österreichische Vorarlberg) die Mundarten die gesprochenen Alltagsvarietäten ausnahmslos aller Bevölkerungskreise darstellen. Dass Schweizerdeutsch überdies auch eine politisch-ideologische Konstruktion ist, wird nicht zuletzt in dieser Arbeit deutlich. Da das Konzept einer einheitlichen Schweizersprache in den Quellen des 19. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung ist, wird in dieser Arbeit der Begriff ‚Schweizerdeutsch‘ verwendet, in dem sich dieses Konzept verfestigt hat, wohlwissend um seine linguistische Problematik.
Mit obiger Gegenstandsbestimmung, den Schweizerdeutschdiskursen des 19. Jahrhunderts, sind zugleich die räumlichen und zeitlichen Grenzen dieser Arbeit abgesteckt. Räumlich fokussiert die Arbeit auf die deutsche Schweiz. Das hat seinen guten Grund darin, dass sich die politische und gesellschaftsgeschichtliche, aber auch die sprachgeschichtliche Entwicklung der Schweiz nicht nur bis 1800, sondern insbesondere auch im 19. Jahrhundert deutlich von jener anderer deutschsprachiger Gebiete unterscheidet. So bildet die politische Grenze zwischen der deutschen Schweiz und dem benachbarten alemannischen Süden Deutschlands im Laufe des Jahrhunderts zunehmend auch eine „pragmatische Sprachgrenze“. 13 Es ist deshalb sinnvoll, die deutsche Schweiz des 19. Jahrhunderts als eigene sprachhistorische Untersuchungsregion zu betrachten, wie dies bereits Klaus Mattheier vorgeschlagen hat. 14 In dem Masse, wie die sprachgeschichtliche Entwicklung der Schweiz sich von anderen deutschen Sprachregionen unterscheidet, versteht sich diese Arbeit denn auch als Beitrag zu einer Sprachgeschichte der Regionen, die die traditionell eher monozentrisch betriebene Sprachgeschichte des Deutschen geographisch zu differenzieren und anstelle der Geschichte der deutschen Sprache vielfältigere Geschichten der deutschen Sprache zu schreiben versucht. 15
Zeitlich fokussiert die Arbeit auf das 19. Jahrhundert. Es wird jedoch notwendig sein, gelegentlich auf das ausgehende 18. sowie das frühe 20. Jahrhundert zu verweisen, um einzelne Entwicklungslinien in ihrem Entstehen und ihrem Weiterwirken nachzuzeichnen. Sprachgeschichtlich begründet sich der Untersuchungsbeginn um 1800 damit, dass sich im ausgehenden 18. Jahrhundert im gesamten deutschsprachigen Raum ein neues Regionalsprach- bzw. Dialektbewusstsein auszubilden begann. Diese Entwicklung hing unmittelbar mit der Ausformung und Verbreitung der neuhochdeutschen Schriftsprache zusammen, die sich zu diesem Zeitpunkt als Norm- und Leitvarietät in allen Sprachlandschaften durchgesetzt hatte. 16 Spätestens mit der vorläufigen Kodifikation des Hochdeutschen durch Johann Christoph Adelung wurde ein deutlicher Kontrast geschaffen zwischen dem, was als allgemeinsprachlich, und dem, was als regionalsprachlich oder dialektal zu gelten hatte. 17 Zugleich weckte die Romantik ein neues Interesse an Volkskultur und Volkssprachen, das zur gesteigerten Wertschätzung und einem verstärkten populären, aber auch literarischen und wissenschaftlichen Interesse an den Dialekten führte. 18
Diese Entwicklungen verliefen in den deutschsprachigen Regionen weitgehend parallel. So wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Hebels alemannische Gedichte auch in der Schweiz begeistert aufgenommen und bald schon nachgeahmt. Aber auch die frühdialektologischen Arbeiten des Entlebucher Pfarrers Franz Joseph Stalder belegen, wie das Interesse an der Volkssprache auch in der Schweiz erwacht. Das neue Interesse an den diatopischen Varietäten traf im frühen 19. Jahrhundert in der deutschen Schweiz jedoch auf ganz andere Voraussetzungen als im restlichen deutschen Sprachgebiet. Die Dialekte stellten hier nämlich noch immer die Alltagsvarietäten aller sozialen Gruppen, also auch der gelehrten dar. Damals war man sich sowohl ausserhalb als auch innerhalb der Schweiz dieser soziolinguistischen Besonderheit durchaus bewusst, wobei der eingeschlagene ‚Sonderweg‘ in der Deutschschweiz keineswegs nur begrüsst, sondern auch kritisiert wurde. Die Frage nach der Bedeutung der Dialekte und dem richtigen Verhältnis zwischen den Varietäten wurde so im 19. Jahrhundert zu einem Gegenstand sprachreflexiver Debatten in der Deutschschweiz.
Ein erstes Erkenntnisinteresse dieser Studie richtet sich auf die Rekonstruktion der Strukturen der historischen Schweizerdeutschdiskurse. Es geht dabei um Themen, Argumentationen und diskursive Strategien der Diskursteilnehmer 19 und um die diachrone Strukturierung in Phasen intensiverer und weniger intensiver Beschäftigung mit der Thematik. Da sich diese Arbeit programmatisch als Beitrag zur Sprachbewusstseinsgeschichte der deutschen Schweiz versteht, gilt ihr zweites Interesse der Rekonstruktion kollektiver Dispositionen, die sich als metasprachliche Reflexe von „Denken, Fühlen und Wollen“ 20 in Bezug auf die Dialekte, das Hochdeutsche und auf deren Verhältnis in den Schweizerdeutschdiskursen manifestieren. Dabei gilt es zu klären, welche Sprachauffassungen und Spracheinstellungen in Bezug auf die beiden Varietäten zu welcher Zeit existierten. In diachroner Perspektivierung interessiert, welche Zäsuren und Umbrüche, aber auch welche Kontinuitäten empirisch zu beobachten sind. Es sollen Aspekte sprachbewusstseinsgeschichtlicher Konstanz und Variabilität herausgearbeitet und in ihrem sprachhistorischen sowie gesellschaftsgeschichtlichen Kontext beleuchtet und erklärt werden. Insofern schliesst diese Arbeit also auch eine kulturgeschichtliche Orientierung mit ein.
Eine dezidiert kulturgeschichtliche Bedeutung der Schweizerdeutschdiskurse des 19. Jahrhunderts ergibt sich daraus, dass Sprache hier nicht nur als Medium, sondern auch als Gegenstand kollektiver Identitätsstiftungsprozesse fungiert. Im Kontext patriotischer und nationaler Konstruktionsprozesse des 19. Jahrhunderts ist die Selbstverständigung über Sprache in der Schweiz nicht nur besonders relevant, sondern auch besonders prekär. Denn da sich die Deutschschweiz nicht nur als Teil der mehrsprachigen Schweizer Nation verstand, sondern sich zugleich auch mit dem deutschen Sprach- und Kulturraum verbunden fühlte und auf ihn angewiesen war, war ein prototypischer Sprachnationalismus, wie er sich damals in Deutschland herausbildete, 21 hier nicht denkbar.
Sprache als Objekt gesellschaftlicher Selbstreflexion ist für die deutsche Schweiz bislang weder von der Sprachgeschichtsschreibung noch von den Geschichtswissenschaften gebührend berücksichtigt worden. Noch heute gilt folgende Feststellung, die Roland Ris bereits Ende der 1980er Jahre äusserte:
Dass Sprachgeschichte Bewusstseinsgeschichte sein kann, […] ist in der schweizerischen Geschichtsschreibung noch sehr wenig in Betracht gezogen worden. Der schroffe Übergang von einer mehr prosopographisch orientierten Kulturgeschichte zu einer gelegentlich rein materialistischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte liess kulturelle Phänomene zeitweise zu sehr im Lichte einer Überbautheorie erscheinen, als dass ihre primär bewusstseinsstiftende Funktion hätte wahrgenommen werden können. 22
Aus sprachgeschichtlicher Perspektive im engeren Sinne stellen Schweizerdeutschdiskurse und die darin manifesten Reflexe des Sprachdenkens einen genuinen Gegenstand der Sprachbewusstseinsgeschichte der deutschen Schweiz dar. Diese Diskurse versprechen Einsichten in das historische Sprachbewusstsein insbesondere des 19. Jahrhunderts und damit in den soziolinguistischen So...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Widmung
  5. Vorwort
  6. Inhalt
  7. 1 Schweizerdeutschdiskurse – zur Einleitung
  8. I Theorie und Methode
  9. II Kontexte
  10. III Sprachwissen und Sprachbewusstsein
  11. IV Diskursbereiche
  12. V Synthese
  13. Sachregister