
- 232 Seiten
- German
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eBook - ePub
Über dieses Buch
Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag werden Kriegsverbrechen und schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit verhandelt. Warlords, Milizionären und sogar Präsidenten kann der Prozess gemacht werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit gibt es ein Gericht, das fast weltweit eingreifen kann. Mehr als 120 Staaten sind zurzeit Mitglied und haben sich einem großen Ideal verpflichtet: Gerechtigkeit soll über Krieg triumphieren, Recht über Straflosigkeit.
Diese Idee ist überzeugend, nahezu heroisch - doch der Alltag ist eine wahre Sisyphusarbeit aus kriminalistischem Handwerk und juristischer Hartnäckigkeit. Daneben wächst in der Öffentlichkeit die Ungeduld über die Machtlosigkeit und die Abhängigkeit von politischen Interessen Aber trotz dieser Widrigkeiten versucht der IStGH jeden Tag aufs Neue, an jenen Orten für Gerechtigkeit zu sorgen, um die sich sonst niemand kümmert.
Benjamin Dürr verbindet Analyse und Reportagen, spricht mit Anwälten, die brutale Milizenanführer vertreten: mit Richtern, die ein gerechtes Urteil finden müssen; mit Anklägern, Ermittlern und Menschenrechtsaktivisten. Und schreibt so ein aufrüttelndes Porträt dieses ersten säkularen Weltgerichts.
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Information
Das Verfahren
Grenzen des Rechts
Khaled al Haj Saleh kämpft gegen Wind aus Westen. Um kurz vor zwölf am Mittag müht sich der Mann mit den schwarzen Augen und angegrautem Haar sichtlich, sein flatterndes Plakat an einen Baum zu pinnen: »Save Douma«, rettet Duma, die Vorstadt der syrischen Hauptstadt Damaskus, wo die Truppen Präsident Bashar al-Assads während des Bürgerkriegs immer wieder zuschlugen. In dieser Woche sollten die Bomben der syrischen Luftwaffe Wohnblocks, Moscheen, Schulen und ein Krankenhaus treffen, weil sich die Stadt in den Händen der Regierungsgegner befand.72
Al Haj Saleh stammt aus einer Familie syrischer Oppositioneller. Mit ein paar weiteren Syrern steht er auf einem kleinen, gepflasterten Platz vor dem Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs. Dort lassen die niederländischen Behörden Demonstrationen zu. Manchmal treffen sich dort auch ein paar Exil-Kongolesen, um die Freilassung ihres früheren Vizepräsidenten Jean-Pierre Bemba zu fordern, der vor Gericht stand; oder, wie an diesem Tag, eine Gruppe geflüchteter Syrer, die Ermittlungen in dem Konflikt fordern.
Im Februar 2015, vier Jahre nach dem Beginn des syrischen Bürgerkriegs und dem Tod von beinahe 300.000 Menschen, konnte das Gericht noch immer nur zuschauen. »Wir fordern längst fällige Ermittlungen und eine Anklage«, sagt al Haj Saleh. Deshalb trotze er dem Winterwind.
Obwohl in Syrien wohl einer der brutalsten Bürgerkriege der vergangenen Jahre wütet, griff der Strafgerichtshof bisher nicht ein.
Al Haj Saleh weiß sehr wohl um die geringe Wirkung seiner Demonstrationen vor dem Gericht. Meist liegt es nicht am Internationalen Strafgerichtshof, dass der Chefankläger keine Ermittlungen aufnimmt, sondern an den Machtzentren der Welt in New York, Washington, Peking oder Moskau. Obwohl das Römische Statut, der Gründungsvertrag, dem Strafgerichtshof eine große Unabhängigkeit verleiht, blieben in den ersten 15 Jahren die Möglichkeiten begrenzt. Regelmäßig stößt das Gericht an geografische, zeitliche oder juristische Grenzen.
Der Strafgerichtshof kann sein Mandat nur für jene vier Rechtskategorien von Verbrechen ausüben, die im Römischen Statut aufgelistet sind: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression. Verbrechen wie Terrorismus, Geldwäsche oder Korruption fallen damit nicht in die Zuständigkeit des Gerichts.
Zudem kann der Strafgerichtshof nur Verbrechen verfolgen, die nach dem 1. Juli 2002 begangen wurden. An diesem Tag trat das Römische Statut in Kraft.
In jedem Fall gilt, dass den Verbrechen eine bestimmte Schwere zugrunde liegen muss. Im Römischen Statut heißt es dazu in Artikel 5, die Gerichtsbarkeit »ist auf die schwersten Verbrechen beschränkt, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren«. Wann genau ist dieses Maß aber erreicht? Wie viel Blut und Leid es fasst, wie viele Tote gezählt werden müssen, das steht nirgendwo geschrieben. Der Chefankläger muss jedes Mal aufs Neue entscheiden, ob das Kriterium der Schwere erfüllt ist. In Mali begann der Strafgerichtshof sogar ein Verfahren, in dem es keine Verletzten oder Toten gab. Stattdessen umfasst die Anklageschrift »nur« die Zerstörung von zehn Gebäuden in Timbuktu, die zum Weltkulturerbe zählten.73 Die Zerstörung der Mausoleen und Moscheen sei jedoch so schwer gewesen, dass sie eine Anklage rechtfertigen würden. Sie seien als Angriff auf die Wurzeln der Gesellschaft zu verstehen und deshalb ein Kriegsverbrechen, argumentierten die Ankläger.
Sind alle drei Bedingungen erfüllt – das Verbrechen ist also Teil des Römischen Statuts, es wurde nach 2002 begangen und ist als ausreichend schwer einzustufen –, kann der Strafgerichtshof eingreifen. Eine so definierte Situation kann schließlich auf drei Wegen nach Den Haag gelangen. Die einfachste und komfortabelste Möglichkeit für die Anklagebehörde ist die eigenständige Eröffnung der Ermittlungen. Sie gilt allerdings nur für Länder, die dem Gericht beigetreten sind. Da Syrien keine Vertragspartei ist, kann der Chefankläger dort nicht von sich aus tätig werden.
In solchen Fällen kann ein alternativer Weg beschritten werden: Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kann eine Situation an das Gericht »überweisen« und den Anklägern mittels einer Resolution ein Mandat verleihen – ganz ähnlich, wie er auch Blauhelmsoldaten schicken könnte. Eine solche Entscheidung bedarf jedoch grundsätzlich der Zustimmung aller fünf ständigen Mitgliedsländer im Sicherheitsrat – China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA. Deshalb sind Überweisungen durch den Sicherheitsrat immer abhängig vom Willen und den politischen Interessen dieser Staaten. Seit dem Beginn des Syrien-Konflikts gab es immer wieder Versuche, den Internationalen Gerichtshof einzuschalten. Frankreich legte dem Rat 2014 eine Resolution vor, mit dem der Strafgerichtshof hätte ermächtigt werden sollen. Als in New York darüber abgestimmt wurde, hatten sich 65 Länder weltweit dafür ausgesprochen. Auch 13 der 15 Mitgliedsländer des Sicherheitsrats stimmten dafür. Die beiden Vetomächte Russland und China jedoch erhoben Einspruch.74 Damit war die Resolution abgelehnt, und der Strafgerichtshof erhielt kein Mandat für Syrien.
Die dritte Möglichkeit besteht in der Beauftragung durch ein Land selbst. Regierungen können Konflikte im eigenen Land oder in einem Mitgliedsstaat »anzeigen« und damit die Anklagebehörde in Den Haag auffordern, Ermittlungen einzuleiten. Und schließlich können sich Staaten im Rahmen einer sogenannten Überweisung auch selbst »anzeigen«. Obwohl diese Möglichkeit im Gründungsvertrag nicht ausdrücklich erwähnt wird, waren Selbstüberweisungen von Beginn an eine häufig angewandte Methode. Dem Strafgerichtshof verhalf sie zu seinen ersten Fällen.
Regierungen beauftragen das Gericht
Während in den Niederlanden die Mitarbeiter das Gerichtsgebäude im Haager Vorort Voorburg nach und nach bezogen, nahmen im Irak, im Sudan und im Tschad bereits neue Kriege ihren Lauf. Im Frühjahr 2003, als viele der Büros noch leer standen, musste der allererste Chefankläger, Luis Moreno Ocampo, entscheiden, wo, in einer Welt voller Konflikte, er beginnen sollte. Überall Blut und Plünderungen. Neue Kriege. Diktatoren, Rebellen, Islamisten. Wo sollte man da anfangen? War der eine Bürgerkrieg schlimmer als der andere? Die Anklagebehörde zählte damals noch weniger als 50 Mitarbeiter. Mit seinem Team stellte Moreno Ocampo eine Liste aller in den Mitgliedsstaaten herrschenden Konflikte zusammen. Als Schlüsselfaktor diente ihnen dabei die Anzahl der Toten, die sie aus Berichten der Vereinten Nationen und Menschenrechtsorganisationen zusammensuchten. Sie fertigten Tabellen für die Toten an. Eine mathematische Ordnung des Grauens. Am Ende stand die Demokratische Republik Kongo ganz oben auf der Totenliste, gefolgt von Kolumbien und Uganda.75
Im Kongo hatten Dutzende Rebellengruppen über Jahre hinweg den Staat ausgehöhlt und seine Strukturen zerstört. Nach dem Völkermord im Nachbarland Ruanda 1994 waren neben Flüchtlingen auch Tausende Täter über die Grenze in den Ostkongo gezogen, wo sie sich versteckten und in neuen Milizen zusammenschlossen. Zwischen 1988 und 2010 waren im Kongo viele Hunderttausend Menschen getötet worden; manche nennen sogar eine Zahl von fast sechs Millionen Toten. Viele verloren ihr Leben in den Kämpfen und bei Plünderungszügen. Andere wurden bei Vergewaltigungen mit HIV infiziert und starben an Aids.76
Der Chefankläger hatte zwei detaillierte Berichte erhalten, denen zufolge allein zwischen Juli 2002 – als das Gericht seine Arbeit aufnahm – und Frühjahr 2003 rund 5000 Menschen im Kongo getötet wurden. In den Berichten zweier Menschenrechtsgruppen hieß es, bewaffnete Kämpfer würden oft allein aufgrund ethnischer Zugehörigkeit morden und vergewaltigen. Es gebe Hinrichtungen, systematische Folter, Entführungen. Die Lage in der ostkongolesischen Provinz Ituri sei »die dringendste Situation zurzeit«, sagte Moreno Ocampo auf seiner allerersten Pressekonferenz im Juli 2003.77 Deshalb wolle sein Büro Vorermittlungen im Kongo aufnehmen.
Zur gleichen Zeit verschärfte sich an der südlichen Grenze des Kongos ein Konflikt, der schon bald den Einsatz der Ankläger fordern würde. 1987 hatte Joseph Kony, ein ehemaliger Ministrant, mit seiner »Widerstandsarmee des Herrn« (Lord’s Resistance Army, LRA) damit begonnen, die Regierung in Uganda zu bekämpfen, und versucht, einen christlichen Gottesstaat auf einer eigenen Interpretation der zehn Gebote zu errichten. Dafür zog die Gruppe durch Uganda, durch den Süden des Sudan und den Kongo. Sie ignorierte Grenzen und Gesetze, brannte Dörfer nieder, tötete Hunderttausende Menschen und entführte Zehntausende mehr.
Ugandas Präsident Yoweri Museveni war es um die Jahrtausendwende gelungen, eine internationale Koalition gegen die »Widerstandsarmee des Herrn« zu bilden. Die USA, Deutschland, Japan und Großbritannien überwiesen mehrere Milliarden Dollar Entwicklungshilfe, die Uganda für den Kampf gegen Konys Rebellenarmee einsetzte. Militärische Unterstützung aber hatte die internationale Gemeinschaft damals nicht angeboten.
Als das Gericht in Den Haag zu ermitteln begann, tat sich damit eine Alternative für Museveni auf: Richter statt Soldaten. Ein Jurist der ugandischen Regierung traf sich Ende 2003 zum ersten Mal mit Chefankläger Moreno Ocampo. Eigentlich wollte er die anstehenden Ermittlungen im Kongo besprechen. Uganda hatte damals Soldaten im Nachbarland stationiert und wollte sich versichern, dass nicht gegen seine Regierungstruppen ermittelt wird. Im Laufe dieses Gesprächs schlug Moreno Ocampo vor, Uganda könne doch das Gericht mit Ermittlungen in seinem eigenen Konflikt beauftragen.78
Innerhalb weniger Wochen hatte die ugandische Regierung eine Entscheidung getroffen und einen Brief nach Den Haag geschickt: eine einseitige formlose Selbstüberweisung mit der Einladung an die Ankläger, Ermittlungen aufzunehmen.
Regierungen können die Ankläger zwar einschalten und ihnen Beweise zur Verfügung stellen – sie können aber nicht bestimmen, gegen wen ermittelt werden soll. Diese Entscheidung liegt ausschließlich in Den Haag.
Ende Januar 2004 berieten sich Ugandas Präsident Museveni und Chefankläger Moreno Ocampo in einem Hotel in London und erklärten anschließend gemeinsam, Uganda beauftrage offiziell den Internationalen Strafgerichtshof.79 Das Gericht hatte seinen ersten Auftrag.
Uganda hatte damit sogar noch die Regierung im Kongo überholt, die wenige Wochen später ebenfalls eine Selbstüberweisung nach Den Haag schickte.80 Innerhalb von nur drei Monaten und knapp zwei Jahre nachdem das Gericht eröffnet wurde, nahm damit die Anklagebehörde ihre beiden allerersten Ermittlungen auf. Später nutzten noch weitere Länder den Mechanismus der Selbstüberweisung: Die Zentralafrikanische Republik lud den Strafgerichtshof 2005 ein, Mali tat dasselbe 2012.
Für die Anklagebehörde ist dieser Weg willkommen, weil sie sicher sein kann, dass die jeweilige Regierung die Ermittlungen unterstützt. Zumindest solange sie in ihrem Interesse sind. Die Mitarbeiter des Strafgerichtshofs brauchen Visa für die Einreise, Zugang zu den Tatorten, manchmal auch den Schutz der Polizei. Das Gericht kann zudem selbst keine Personen festnehmen und ist deshalb auf die Mitarbeit eines Staats angewiesen.
Dadurch ist der Strafgerichtshof allerdings stets auf der Hut, Regierungen nicht vor den Kopf zu stoßen: Was geschieht, wenn sich die Ankläger zu weit nach vorne wagen und zum Beispiel gegen Regierungsfunktionäre oder Armeegeneräle ermitteln? Würden sie die Unterstützung zu verlieren? Mit jeder Abwägung nimmt die Strafverfolgung eine neue Richtung ein.
Zudem bergen Selbstüberweisungen das Problem, dass sie den Internationalen Strafgerichtshof zu einem politischen Werkzeug zu machen drohen. Regierungen schalten das Gericht ein und lenken es durch ihre Kooperation auf bestimmte politische Gegner – in Uganda und im Kongo beispielsweise gegen regierungsfeindliche Rebellen. Dadurch entsteht das Bild eines beeinflussbaren, einseitigen Gerichts. Natürlich wäre die Anklagebehörde frei, auch gegen die Regierung zu ermitteln, die die Überweisung gestellt hat. In der Praxis hat die Abhängigkeit von den Regierungen bisher jedoch dazu geführt, dass das Gericht nicht die Hand beißt, die es füttert.
Aus eigener Initiative
Artikel 15 des Römischen Statuts erhebt den Chefankläger zu einer Art Staatsanwalt für die Welt. Er ermächtigt ihn, selbst tätig zu werden. »Proprio motu«, »auf eigene Initiative«, werden diese Ermittlungen genannt. Wie eine Staatsanwaltschaft eines Landes kann auch die Anklagebehörde in Den Haag Hinweisen und Berichten über Verbrechen nachgehen und Vorermittlungen eröffnen. Sollte sie zu dem Schluss kommen, dass die Verbrechen als ausreichend schwer einzustufen sind und nationale Behörden nicht darauf reagieren, kann sie ein formales Ermittlungsverfahren eröffnen.
Dafür wurde das Konzept der Komplementarität entwickelt: Der Strafgerichtshof greift ein, wenn nationale Behörden versagen. Das Gericht in Den Haag als Fangnetz für Fälle, um die sich auf nationaler Ebene niemand kümmert – sei es, weil die Behörden nicht willig oder nicht dazu fähig sind –, zum Beispiel, weil es nach einem Bürgerkrieg keine funktionierenden Gerichte mehr gibt oder weil die Fälle politisch zu empfindlich sind. Komplementarität macht den Internationalen Strafgerichtshof zu einer letzten Möglichkeit, um Straflosigkeit zu verhindern. Das Konzept beinhaltet, dass der Strafgerichtshof zusätzlich und ergänzend zu den nationalen Gerichten besteht – und nicht als vermeintlich autoritäres über ihnen stehendes »Weltgericht« die Fälle vereinnahmt.
Wenn der Chefankläger selbst Ermittlungen aufnehmen will, muss er deshalb den Richtern Beweise dafür liefern, dass die nationalen Behörden eines Landes »unwillig oder unfähig« sind, selbst einen Prozess zu führen. Weil der Strafgerichtshof eine Ultima Ratio darstellt, haben nationale Behörden Vorrang. Führt ein Land selbst einen Prozess gegen einen Angeklagten, darf Den Haag nicht wegen derselben Verbrechen eingreifen.
Bisher hat die Anklagebehörde drei Ermittlungen aus eigener Initiative eröffnet: in Kenia, der Elfenbeinküste und in Georgien. In Kenia kündigte die Regierung immer wieder einen Prozess an. Nach den Präsidentschaftswahlen 2007 hatte eine Mischung aus Ärger über den Wahlverlauf und ungelöster Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Korruption zu Unruhen geführt. Bis zum Frühjahr 2008 waren etwa 1200 Menschen getötet und 700.000 vertrieben worden.81
Die Afrikanische Union schickte Kofi Annan, den früheren UN-Ge...
Inhaltsverzeichnis
- Das weltliche Weltgericht Eine Einleitung
- TEIL I: Von Nürnberg nach Den Haag
- TEIL II: Das Verfahren
- TEIL III: Nach dem Urteil
- Anhang