Wolfgang Schmidbauer
Muss der Partner einen Seitensprung gestehen?
Über das erfolglose Streben nach Symbiose
Wie Gott im Mythos den Menschen aus Ton formt und ihm Leben einhaucht, so hat die Evolution die menschliche Paarbindung aus der Symbiose zwischen Mutter und Kind geformt und ihr das sexuelle Element aufgepfropft. Es war sozusagen ein kleiner Schritt für die Biologie, aber ein großer für die Menschheit. Hier verband sich die biologische Evolution mit der kulturellen. Unsere nächsten Verwandten im Tierreich sind promiskuös, was die Sexualität angeht, aber eng und liebevoll an ihre Mütter und ihre Geschwister gebunden.
Das Motivgemisch, welches unsere Liebesbeziehungen bestimmt, ist komplex, zum guten Teil unbewusst und – gefährlich. Aus gutem Grund ist nach einem Mord der Liebespartner stets der erste Verdächtige. Auch das unterscheidet den Menschen von anderen Primaten. Die analytische Aufklärung zeigt, dass solche Ereignisse mit Regressionen verbunden sind. Die Regression im Sinne der Macht kindlicher Elemente im erwachsenen Leben ist ein Risiko der kulturellen Evolution. Die Gesellschaft bietet dem Menschen eine Art Außenskelett an, das freilich nur erlernt und daher weit weniger fest ist als der Chitinpanzer eines Käfers.
Was das mitunter bedeutet, beobachtet vielleicht niemand betroffener und manchmal hilfloser als der Paaranalytiker. Er wird gerufen, wenn die Liebesschwüre der Familiengründung nicht mehr tragen. Er sieht, wie aus Liebe Hass, aus Fürsorge Grausamkeit werden kann. Wie Stalker ein Objekt quälen, von dem sie sich Aufmerksamkeit und Zuneigung wünschen. Wie die kostbare Fähigkeit zur Empathie unter dem Angriff von Verlustängsten verloren geht und der Zerfall einer sexuellen Bindung auch die bisher zärtliche Rücksicht auf die Kinder zerfallen lässt.
Aus dieser Unsicherheit wachsen Fragen. Kaum eine davon ist schwerer zu beantworten als die nach dem zuträglichen Maß an Wissen über die nicht gemeinsamen erotischen Erlebnisse. Eisern verschweigen, sagen die einen. Unbedingt aufdecken, sagen die anderen. Auch wenn im oft gebrauchten Pleonasmus von offen und ehrlich geheimer Zweifel steckt.
Man könnte sagen: Orientieren wir uns doch an dem Vorgehen, das funktioniert, das am meisten zum Wohlbefinden von Paaren beiträgt und die besten Chancen bietet, dass der Umgang mit einem Seitensprung nicht mehr zerbricht als nötig. Aber auch das ist schwierig, wenn wir Paare in solchen Situationen beobachten.
Eine Frau hat ihren Mann auf die Anklagebank gezerrt und ihm nächtelang vorgeworfen, dass er ihr seinen Seitensprung nicht offen und ehrlich gestanden hat! Jetzt hat sie selbst einen Geliebten und heftige Schuldgefühle, weil sie es nicht fertigbringt, ihm das zu sagen. Das würde alles kaputt machen! Sie will die Beziehung genießen, aber doch bitte nicht die ganze Familie in Aufruhr bringen.
Nun ist es ihr Mann, der die Sache herausfindet; es genügt ja heute, in einem unbewachten Moment das Smartphone des Partners in die Finger zu bekommen. Wieder schlafen die Kinder schlecht, weil der Vater sie aufklärt, dass Mama nicht den beruflichen Termin hat, von dem sie ihnen erzählt hat, sondern bei ihrem Liebhaber ist. Und auf einmal ist er offen und ehrlich, zu den Kindern: Er lässt sie an seinen Ängsten teilhaben, er behauptet, nicht zu wissen, ob sie jemals zurückkommen wird.
Dass Kinder nicht in den Streit der Eltern einbezogen werden sollen, ist eine Binsenweisheit. Aber der mangelnde Respekt vor der Intimsphäre des Partners verführt dazu, Kinder als Bundesgenossen anzuwerben und den Partner zum Sünder zu machen. Das Verbot von Heimlichkeit macht das Liebeslager zur Anklagebank. Es führt zu einer Öffentlichkeit des Verfahrens, die keinem der Beteiligten guttut und doch schwer zu meiden ist.
Um das zu verstehen, müssen wir uns mit den menschlichen Affekten beschäftigen, Gefühlszuständen somit, auf die sich das slawische Sprichwort anwenden lässt: »Wenn die Fahne fliegt, ist der Verstand in der Trompete.« Affekte sind schnelle Gefühle, die heftig hochkochen und zur Aktion drängen. Von den Affekten, welche Paare plagen, sind Wut und Angst die mächtigsten.
Auf das Leben in Jägerkulturen zugeschnitten, hat sich die archaische Kampf-Flucht-Reaktion im Untergrund der von Sentimentalität und Ästhetik geprägten Liebeszeremonien der Zivilisation erhalten. Vor allem die Verleugnung und Verdrängung von Ängsten erschweren die Empathie und die Bereitschaft der modernen Partner, einander in der Verarbeitung jener Kränkungen zu unterstützen, die nicht nur von außen auf das Paar zukommen, sondern auch in dessen Intimsphäre entstehen.
Während in der Symbiose zwischen Mutter und Kind Macht und Verantwortung klar verteilt sind, leben moderne Paare in einer historisch ganz neuen und schwer zu bewältigenden Situation. Sie haben kein gemeinsames Außenskelett, keinen energischen Halt in Sippe und Familie, welche ihre Ehe arrangieren und in Krisen Druck anwenden, um die ärgsten Regressionen zu verhindern.
Moderne Paare finden sich im Zeichen der Individualisierung. Sie müssen sehr unterschiedliche Wertstrukturen aufeinander abstimmen und zu diesem Zweck ängstlich gehütete Selbstbilder verändern. Sie müssen sich auf die Gestirne einigen, welche ihren Kurs bestimmen, und es gibt nicht einen Kapitän auf ihrem Schiff, sondern zwei. Im Grunde sind alle modernen Ehen interkulturell.
Sich in kooperativen Rollen zu finden und sich zu einigen, wer ein Leck dichtet, wer den Kurs hält, ist keine einfache Aufgabe. Oft geschieht weder das eine noch das andere, weil sich die Besatzung streitet. In den gefährlicheren Fällen bohrt der eine ein Loch in die Bordwand, weil er sich mit seinen Vorschlägen zum richtigen Kurs nicht durchsetzen kann. Die nur in der frühen Kindheit tragbare semantische Funktion von Wut und Rache überwältigt die Partnerschaft.
Daher ist Paaranalyse immer auch Analyse von Machtverhältnissen, von symbiotischen Erwartungen, deren Scheitern Rachegeister beschwört, zu deren Gedeihen ein gewisses Maß an Illusion und Unwissenheit beiträgt. Das Schiff der Liebe trägt ein Deck aus Glauben und ist mit Träumen beplankt, nicht mit Wissen.
Schaurig-schöne Illusion
In seinem Gedicht »An den Mond« schrieb Johann Wolfgang Goethe: »Ich besaß es doch einmal. Was so köstlich ist! Daß man doch zu seiner Qual nimmer es vergisst.«
Doch was der Dichter glaubt, besessen zu haben, hat ihm nie gehört. Er hat geträumt, es zu besitzen. Dieses »Es« ist die Symbiose, sei es in und mit der Mutter, sei es in und mit dem Liebesobjekt. Geraubt hat sie die Angst, nicht wie der Raub am Gold des Reichen, eher wie der Raub an der Sicherheit des Reiters, der glaubte, festen Boden unter den Hufen zu haben, und nun entdeckt: Es ist brüchiges Eis über einer tödlichen Tiefe.
Der Dichter erinnert sich an eine Zeit, in der das Kind keine Angst hat, weil es im Schoß und auf den Armen der Mutter lebt. Aber die köstliche Geborgenheit, nach der er sich jetzt nur noch sehnen kann, war schon immer Glaube, Vertrauen, Fantasie; als Besitz ist sie dem Menschen nicht gegeben. Seit der Mensch Besitz anhäuft, hat er es sogar noch viel schwerer mit dieser Anmaßung. Denn Besitz weckt die Angst vor seinem Verlust, Angst erfordert Kontrolle, und Wissen ist für Kontrolle dasselbe wi...
