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Der Joker
Sehr echt
20. Juli 2012: Der junge Mann kauft ein Ticket, betritt das Kino und setzt sich in die erste Reihe. Etwa 30 Minuten nachdem der Film begonnen hat, verlässt er das Gebäude durch einen Notausgang, die Tür lässt er offen stehen. Er geht zu seinem Wagen, zieht sich um, legt Schutzkleidung an und holt seine Waffen hervor. Um 0.30 Uhr betritt er das Kino erneut, diesmal durch die zuvor geöffnete Notausgangstür. Er trägt eine Gasmaske, einen Kampfhelm, kugelsichere Beinkleidung, einen Halsschutz und Kampfhandschuhe.
Einige Zuschauer sehen den maskierten Bewaffneten, halten ihn jedoch für einen der vielen begeisterten Batman-Fans, die sich extra für diesen Abend verkleidet haben. Ein Mann, der mit zwei Freunden ins Kino gekommen ist, wird später sagen, dass der Anschlag zunächst wie ein Werbegag zur Filmpremiere ausgesehen habe. Dann, so wird er hinzufügen, wurde die Show »sehr schnell sehr echt«.
Nach ungefähr 20 Minuten, um ungefähr halb eins, gab es im Film einen etwas stilleren und ernsteren Moment, und ein Benzinkanister oder so – ich dachte zuerst an Feuerwerkskörper – flog so quer über die Leinwand und landete irgendwie direkt vor mir und an der Seite des Saals. Die ersten Leute sprangen auf und liefen los. Und dann kam plötzlich von der unteren rechten Seite aus, also von da, wo ich sitze, also in der unteren rechten Seite des Saals, da waren plötzlich diese Funken aus der Mündung einer Waffe. Ich dachte immer noch, es handele sich um ein Feuerwerk. Und dann wurde ich hier getroffen [der Zeuge, Stephen Parton, weist auf seine linke Brust und Schulter, d. Ü.], und mir wurde klar, dass etwas sehr viel Ernsteres los war. Und die Leute begannen zu schreien. Es gab ein riesiges Chaos.[4]
Um 0.38 Uhr wirft der Schütze eine Rauchbombe. Während sich das Gas im Kinosaal ausbreitet, schießt er mit seinem Gewehr zunächst an die Decke, dann ins Publikum. Außerdem schießt er mit einem halbautomatischen Gewehr der Marke Smith & Wesson, namentlich mit einer M&P15, mit 100-Schuss-Magazin, sowie mit einer Glock-22-Handfeuerwaffe. Einige der Kugeln gehen geradewegs durch die Wand und treffen Menschen im Saal nebenan, wo der gleiche Film gezeigt wird. Ein anderer Zeuge:
Er muss 19 oder 20 Ladungen verschossen haben. Links und rechts von uns flüchteten die Menschen. Hinter uns war jemand verletzt, vielleicht jemand, der zu langsam war. Er sagte: »Ich bin getroffen.« [Der Schütze] sah aus wie der Terminator. Er sagte kein Wort. Er schoss einfach nur und schoss und schoss weiter. Die Menschen krochen die Treppen hinunter, versuchten dem Kugelhagel zu entkommen. Es war schlimm. Wirklich schlimm.[5]
Schon bald nach Beginn des Attentats setzt das Alarmsystem ein, und die Angestellten helfen den Menschen nach draußen. Einige Zeugen tweeten über das Attentat oder schreiben SMS, anstatt die Polizei zu rufen. Zwölf Menschen sterben, siebzig weitere werden verletzt. Um 0.45 Uhr wird der Schütze bei seinem Auto verhaftet. Er wehrt sich nicht.
Er hat rötlich-orange Haare, er scheint verwirrt und sich kaum dessen bewusst, was um ihn herum vor sich geht. Wenige Stunden später werden die Ermittler seinen Namen bekannt geben: James Holmes. Der Schütze scheint allein gehandelt zu haben und keiner größeren Gruppe oder gar terroristischen Vereinigung anzugehören. Einer seiner Kommilitonen wird später angeben, dass Holmes mehrmals gesagt habe, dass er töten wolle.
Später sagte ein Gefängnismitarbeiter in einem Interview mit der Tageszeitung Daily News, dass Holmes habe wissen wollen, wie der Film geendet sei. Immer wieder habe der Schütze gesagt, dass er nicht begreife, warum er hinter Gittern sitze. Einige andere Insassen, die ihm begegnet sind, glauben, dass er eine Amnesie vortäusche.[6]
Kunst und Leben
Schon nach wenigen Tagen steht auf eBay für 500 US-Dollar eine Gummimaske mit dem ausdruckslosen Gesicht und den orangen Haaren zum Verkauf, die auf James Holmes’ erstem erkennungsdienstlichen Foto zu sehen sind.
Halloween ist schon in einem Monat. SCHOCKE ALLE, DIE DU KENNST! Er wird »Der Joker« genannt, »Der Dark-Knight-Schütze«, »Der Llama«, »Der außerordentlich Begabte«, aber sein wirklicher Name ist James Holmes! Es gibt nichts Furchterregenderes als in James Holmes’ Hirn zu kriechen und sein Gesicht zu tragen. Seine Augen, die dir direkt in die Seele schauen, und das orangene Haar des Jokers machen diese Maske zu dem Verstörendsten, was du je besitzen wirst. Stell dir nur mal vor, wie es wäre, die Maske des wohl gefährlichsten Massenmörders der amerikanischen Geschichte zu besitzen. Diese hochqualitative Latex-Gummi-Maske wurde extra für einen privaten Sammler aus dem Ausland angefertigt. Ich habe diese Maske in Europa bei einem Pokerturnier mit sehr hohem Einsatz gewonnen. Ich garantire euch, dass diese Maske weltweit die einzige ihrer Art ist, und dass sie praktisch unbezahlbar ist, weil sie in der Produktion des umstreitetsten Dokumentarfilms benutzt wurde, der im Jahr 2013 erscheinen wird. Diese Maske wird so verkauft wie sie ist, und es gibt kein Umtauschrecht. Wenn du um die Maske bieten willst, aber hier bislang noch kein Feedback bekommen hast, musst du zuerst Kontakt mit mir aufnehmen. Ich werde die Maske sofort verschicken, sobald die Bezahlung bei mir eingetroffen ist. Viel Glück![7]
Doch schon bald nach Veröffentlichung der Anzeige entfernte eBay die Maske, die vom Benutzer »realface13« angeboten worden war. Gegenüber ABC News gab eBay an: »Die Anzeige wurde entfernt, weil sie unseren Nutzungsbedingungen bezüglich anstößiger Objekte nicht entsprach. Aus Respekt vor den Opfern von Gewalttaten gestattet eBay keine Anzeigen, die von menschlichen Tragödien und menschlichem Leid profitieren wollen.«[8]
Catwomans Herz ist gebrochen
Ich lese die Nachrichten: Ich kann einfach nicht aufhören. Ich verbringe die halbe Nacht damit, von einer Website zur nächsten zu surfen.
Holmes, der zwölf Menschen erschoss, u. a. die sechsjährige Veronica Moser-Sullivan, betrat das Gefängnis unter »Kindermörder«-Rufen. […] Nach dem Massaker in Aurora in Colorado sagte Holmes, 24, der Polizei als Erstes, dass er Batmans Erzfeind sei, der Joker […]. Sein merkwürdiges Verhalten setzte sich im Gefängnis fort, wo er die Wächter immer wieder anspuckte. Ein Gefängnis-Insider sagte über den Schützen, der sich wegen erhöhter Selbstmordgefahr in Einzelhaft und unter Beobachtung befindet: »Er hat bislang keinerlei Reue gezeigt. Er glaubt, dass er in einem Film mitspielt.« Seine Anrufbeantworteransage war ebenfalls vom Joker inspiriert. […] Häftling Wayne Medley, 24, der in der Strafanstalt war, als Holmes hereingebracht wurde, sagte: »Sämtliche Insassen sprachen davon, dass sie ihn umbringen wollten. Alle suchten nach einer Möglichkeit. Sie sprachen über gar nichts anderes mehr.«[9]
Im Anschluss an das Attentat sagte die Catwoman-Darstellerin Anne Hathaway: »Es bricht mir das Herz, wenn ich daran denke, wie viele Leben diese unfassbare Tat genommen und so grundlegend verändert hat. Mir fehlen die Worte, um meiner Trauer Ausdruck zu verleihen. In meinen Gedanken und Gebeten bin ich bei den Opfern und ihren Familien.«[10]
Christopher Nolan, der Regisseur von The Dark Knight Rises, ließ eine Mitteilung veröffentlichen:
Ich spreche im Namen der Besetzung und der Crew von The Dark Knight Rises, wenn ich unserer großen Trauer über diese sinnlose Tragödie Ausdruck verleihen möchte, die über die gesamte Bevölkerung von Aurora hereingebrochen ist. Ich möchte mir nicht anmaßen, nur irgendetwas über die Opfer des Attentats zu wissen, außer dass sie letzte Nacht dort waren, um einen Film zu sehen. Ich glaube, dass das Kino eine der großen amerikanischen Kunstformen ist, und das gemeinsame Erlebnis, einer Geschichte dabei zuzusehen, wie sie sich auf der Leinwand entfaltet, ist eine wichtige und geradezu beglückende Beschäftigung. Der Kinosaal ist mein Zuhause, und die Vorstellung, dass jemand einen solch unschuldigen und hoffnungsvollen Ort auf derart unerträglich grausame Weise schänden könnte, bringt mich zur Verzweiflung. Nichts, das irgendjemand von uns sagen könnte, könnte auf angemessene Weise unsere Gefühle für die unschuldigen Opfer dieses entsetzlichen Verbrechens zum Ausdruck bringen. Doch unsere Gedanken sind bei ihnen und bei ihren Familien.[11]
Im Anschluss verschob DC Comics die Veröffentlichung des Bandes Batman Incorporated #3, in dem es eine Szene gibt, in der eine als Lehrerin verkleidete Agentin der Verbrechensorganisation Leviathan mit einer Handfeuerwaffe in einem Klassenzimmer voller Kinder herumfuchtelt. Außerdem zog Warner Bros. den Trailer für den Film Gangster Squad zurück, weil es darin eine Szene gibt, in der in einem Kino auf das Publikum geschossen wird.
Der Joker und Gott
Wer ist James Holmes? Wer ist der junge Mann, der in das Kino von Aurora eindrang und über die Mauer sprang, die die Kunst und das Leben voneinander trennt?
Der 24-jährige Joker ist verschiedentlich als jemand beschrieben worden, der »Probleme« habe, »instabil« sei oder »den Kontakt zur Realität verloren« habe. Es wurde behauptet, der junge Killer habe unter satanischem Einfluss gehandelt. Der Hauptpfarrer der evangelisch-lutherischen Kirche von Rancho Peñasquitos, eines Vororts von San Diego, erinnerte sich an Holmes als einen schüchternen, intelligenten Jungen, der äußerst motiviert war, die Schule und später sein Studium erfolgreich abzuschließen. Der Pastor sagte, dass die Familie Holmes seit ungefähr zehn Jahren zur Kirche von San Diego gehöre und dass die Mutter des Schützen regelmäßig den Gottesdienst besucht habe und außerdem ehrenamtlich aktiv gewesen sei.
Benge Nsenduluka schreibt in der Christian Post, dass James ein »normaler christlicher Junge« gewesen sei, der »sich sehr in seiner presbyterianischen Kirchengemeinde engagiert«[12] habe.
In einem Artikel mit dem Titel »What Presbytarians Believe«, schrieb Reverend G. Aiken Taylor im Jahr 1960:
Presbyterianer glauben, dass alles, was geschieht, nach Gottes Wille geschieht und allein als Gottes Wille verstanden werden kann. Einem Menschen kann nichts geschehen, das Er nicht gemäß seiner Absichten und seiner Ehre zulässt. Er verwirft die Taten böser Menschen, und Er zerstört das Böse in ihnen. Er gestaltet nach einem Plan, »der alles so verwirklicht, wie Er es in Seinem Willen beschließt«[13], und Er verwandelt alles – sogar das offensichtlich Böse – in das größtmöglich Gute im Leben derjenigen, die Ihn lieben und zur Erfüllung Seiner Zwecke aufgefordert werden.[14]
Gleich nach dem Amoklauf gab der christliche Apologet Rick Warren der so »liberalen Art und Weise« die Schuld, auf die die öffentlichen Schulen die Evolutionstheorie unterrichteten und Gebete verböten. Auf Twitter schrieb er an seine Follower und Gläubigen: »Wenn wir unseren Schülern beibringen, dass sie kein bisschen anders als Tiere sind, dann handeln sie auch entsprechend.«[15] Bryan Fischer, Vorsitzender der Gruppe Issue Analysis for Government and Public Policy bei der American Family Association gab sich überzeugt, dass das Attentat unmittelbar mit denjenigen Linken in Verbindung stehe, die »sechzig Jahre lang zu Gott gesagt haben, dass er sich doch verziehen möge«[16]. In der Radiosendung Focal Point, zu Deutsch Brennpunkt, die von dem Rundfunkbetreiber American Family Radio über sein Netzwerk von insgesamt 125 lokalen Sendezentren ausgestrahlt wird, erklärte Fischer, dass Amerika allein deshalb existiere, weil Gott diese Nation erschaffen habe,
um zu zeigen, wie eine Nation aussehen kann, die der Heiligen Schrift folgt und die Gott folgt, wie er in der Heiligen Schrift erscheint. […] Um für die restliche Welt ein Modell einer Kultur zu schaffen, die von dem Geist des Herrn durchdrungen ist, von dem Geist Jesus Christus’, von dem Evangelium Jesus Christus’ und, zweitens, um dessen gute Botschaften überall in der Welt zu verkünden. […] Heutzutage können wir in öffentlichen Schulen nicht einmal mehr beten. 1963 haben wir die Bibel aus den öffentlichen Schulen verbannt. […] Dann haben wir uns 1980 der Zehn Gebote entledigt. Vergesst nicht das Gebot: »Du sollst nicht töten.« Was wäre heute, wenn [Holmes] in der Schule täglich mit einem solchen Gebot konfrontiert worden wäre? Was wäre, wenn die Zehn Gebote wieder in Kraft gesetzt würden: »Du sollst nicht töten.« Wer weiß, ob alles nicht ganz anders gekommen wäre. Aber wir haben die andere Richtung eingeschlagen. Seit 60 Jahren folgen wir nun bereits dem Weg der Linken. Und was haben wir davon? Wir haben Massenmorde in Aurora.[17]
Mike Huckabee, der 44. Gouverneur von Arkansas und 2008 einer der Kandidaten für die republikanische Präsidentschaftskandidatur, gab der Sünde und – was sonst? – einer auf geradezu mythische Weise heraufziehenden Säkularisierung die Schuld an dem Amoklauf von Colorado: »Letztlich haben wir es weder mit einem Problem der Kriminalität noch mit einem Waffenproblem zu tun, nicht einmal mit einem Gewaltproblem. Wir haben ein Sündenproblem.«[18]
