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Vom Sein zum Leben
Euro-chinesisches Lexikon des Denkens
- 344 Seiten
- German
- ePUB (handyfreundlich)
- Über iOS und Android verfügbar
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Über dieses Buch
»Vom Sein zum Leben« versteht Francois Jullien als kritisches Resümee seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem chinesischen Denken und Sprechen. Anhand von 20 Begriffspaaren entfaltet er die Differenzen der beiden Kultur- und Denkräume: In höchst originellen Essays stellt er beispielsweise »Kohärenz« dem »Sinn« gegenüber, »Beharrlichkeit« dem »Willen«, »Zuverlässigkeit« der »Aufrichtigkeit«, »Aufschwung« dem »Stillstand«. Doch Jullien begnügt sich nicht, das eine Konzept mit Hilfe des anderen zu erleuchten und damit die zugehörige Kultur zu verstehen. Er geht in diesem Buch einen Schritt weiter, versucht von beiden Abstand zu nehmen und eine dritte Position zu gewinnen, die ihm ermöglicht eine eigenen philosophischen Entwurf zu entwickeln. Ein Buch für alle, die China verstehen, aber dabei nicht in Exotismus schwelgen wollen, und für alle, die die Lust am eigenen Denken nicht verloren haben.
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Information
Nachwort
Vom Abstand zum Gemeinsamen
PHILOSOPHIEREN HEISST, ABSTAND NEHMEN
Abstand nehmen [s’écarter], das heißt nicht nur verlassen, sich trennen, sich ein Rückzugsgebiet [retrait] verschaffen, die üblichen Umgangsformen und Themen der allgemeinen Konversation hinter sich lassen und gar ein Dissident werden, sondern auch sich anderswo herumtreiben und sich dort hineinwagen, wo die Wege nicht markiert sind, wo das Terrain unsicher geworden ist und wo das gleichmäßig ausgebreitete, allen wohlbekannte Licht nicht mehr so wie früher eindringt. Wird man von diesem Sich-Zurücknehmen [retrait], diesem Zurückweichen, einem immer noch wirkenden Kindheitstraum folgend, erhoffen können, etwas anderes wahrzunehmen oder, wenigstens, anders wahrzunehmen? »Und manchmal sah mein Auge, was Menschenauge träumt …«226 – es ist jedenfalls gewiss, dass man es dort mit einer Einsamkeit zu tun bekommt, der man nicht ausweichen kann. Keine zufällige oder mehr oder weniger beiläufige Einsamkeit, sondern eine prinzipielle und schicksalhafte, grundlegende, die darauf zurückzuführen ist, dass man eines Tages begonnen hat, sich durch das Denken und in ihm abzusondern, und das auf unauslöschliche Weise. Vielleicht hat man einfach wegen dieses Abstandnehmens begonnen, sich unhörbar zu machen, und musste sich dann umso mehr bemühen, wieder an die übliche Sprechweise heranzukommen, um an das Übliche und Konventionelle anzuknüpfen, in der Hoffnung, sich wieder vernehmbar machen zu können, um durch wiederholte Hinterlegung seines guten Willens als Pfand glaubhaft zu machen, dass man sich von seiner Fremdartigkeit einigermaßen reingewaschen hat.
Ist das das Faktum und vielleicht sogar das Fatum jedes Denkweges oder gilt das nur für die Philosophie? Was gewiss zu sein scheint, ist, dass die Philosophie dies zu ihrer ersten Geste gemacht, als ihr Eingangstor aufgestellt hat und ihre Willenskraft aus diesem Entschluss speist. Hier ist ihre Schwelle. Der Vater der Philosophie, jedenfalls der erste, den man zu einem »Vater« gemacht hat, um dann an ihm den »Vatermord« begehen zu können und von ihm Abstand nehmen zu müssen, er, Parmenides, macht das ausdrücklich zur Bedingung für den Aufbruch und den Zugang. Von diesem gesuchten Weg, »göttliche Fügung und Recht«, den zu gehen riskant ist, wird warnend gesagt, dass er »weitab vom üblichen Pfad der Menschen liegt« (ap’ anthrōpon ektos patou).227 Die Formulierung insistiert mit ihrer Verdoppelung sogar: Sie besagt, dass man sich nicht nur von den anderen trennen müsse, sondern die ausgetretenen Pfade, die bereits gebahnten Wege (patos) verlassen solle. Nur wenn man das nicht vertrauenswürdige Feld der »Meinungen« (doxai) verlässt, kann man »zum nicht mehr bebenden Herzen der Wahrheit« aufstreben. Oder müsste man vielleicht diese Genealogie des Abweichens, von dem das Philosophieren herrührte, noch weiter zurückverfolgen? Vielleicht ist der erste Philosoph gar Odysseus, der Odysseus der Odyssee, der in seinem Abdriften von einem unbekannten Ort zum anderen irrt, von einer Abweichung zur anderen, bevor er »heimkehrt«. Er entfernt sich sogar aus der Mitte seiner Gefährten, auch wenn er ihnen nahe bleibt, trägt ihnen auf, sich die Ohren zu verstopfen, ihn jedoch nackt an den Schiffsmast zu binden, da er sich nur allein der gefährlichen Offenbarung aussetzen will (kann).
Von der Sprache und der Kultur Abstand zu nehmen, in die man hineingeboren wurde und in denen man zu diesem Zeitpunkt, an diesem Ort, in diesem Milieu und diesem Kontext begonnen hat, die Augen zu öffnen, zu entdecken und zu lernen, sich zu bilden und als »Subjekt« zu konstituieren, sich davon in voller, ich würde sogar sagen: strategischer Absicht zu lösen, wie ich das gemacht habe, als ich von Europa nach China fuhr, ist also, genau besehen, nichts anderes als eine Wiederholung dieser ursprünglichen, ersten Geste der Philosophie, aber von Neuem und unter verschärften Bedingungen. Folglich hat es wirklich nichts Anekdotisches oder »Exotisches« an sich. Es ist ein Wandeln auf den Spuren des Odysseus, nur dass von diesem Abstand her die Möglichkeiten und Bestrebungen systematisch ausgebeutet werden. Damit aber verlässt man de facto die Geschichte der europäischen Philosophie, löst sich mit einem Schlag von ihren Debatten und Begriffen, durchschneidet seine Herkunftsgeschichte. Denn ist es nicht so, dass man in Europa meist zu philosophieren beginnt, indem man, nicht nur von der Etymologie verleitet, die Geschichte der Frage zurückverfolgt? So ist das hier gleich von Anfang an nicht nur ein Bruch mit den großen Philosophemen – mit dem »Sein«, mit »Gott«, mit der »Wahrheit«, der »Freiheit« … –, sondern, radikaler noch, mit der Sprache, die sie artikuliert. Plötzlich ist man vom Indoeuropäischen und seiner Familienähnlichkeit losgelöst – von seinem Ausdehnungsbereich. Von der europäischen Philosophie Abstand zu nehmen, indem man ins chinesische Anderswo hinüberwechselt, in dieses Anderswo der Sprache, aber auch der Geschichte – wie viel Zeit haben die beiden Extremitäten des großen Kontinents gebraucht, um einander, wenigstens in Gedanken, zu begegnen –, heißt demnach, von dem Abstand zu nehmen, abzuweichen, was in Europa bereits gedacht worden und sedimentiert ist, von dem, worin das Denken eingebettet und daher nicht mehr denkend ist, von dem, was bereits so gut assimiliert, integriert und beglaubigt ist, dass es die vergrabenen Vorausentscheidungen und die zugeschütteten Voreingenommenheiten vergessen und als »evident« durchgehen lässt, was immer auch die späteren Zweifel der Philosophie gewesen sein mögen − also das, was man nicht mehr denkt, was man nicht mehr zu bedenken denkt.
Wenn ich nun sage, dass eine derartige Entscheidung zugunsten des Abstandnehmens (auf dem Umweg über China) nur ein Exempel der ureigensten Geste der Philosophie darstellt, so heißt das, dass diese Geste in jeder Hinsicht und mit jedem Maßstab gemessen bereits für sich ihre Gültigkeit hat. Sie ist genau das, was im Inneren der Geschichte der Philosophie arbeitet und diese erneuert: Jeder Philosoph wird Philosoph im eigentlichen Sinn nur, indem er von den Vorgängern abweicht oder, um es genauer zu sagen, indem er ihnen gegenüber einen Abstand herstellt. Und gilt dies nicht bereits sich selbst gegenüber? Philosophieren ist doch nichts anderes, als selbst unerbittlich von seinem eigenen Denken abzuweichen, sich von dem zu lösen, was man bereits gedacht hat, um in dem, was Gedanke wird, fortzuschreiten. Diese Arbeit des Abstandnehmens hat also nichts mit irgendeiner beliebigen Originalitätssucht zu tun und ist als Geste des Anfangs viel ursprünglicher. Sie mündet in eine kritische Operation, da sie sich der Widerlegung widmet, durch die sich jede Philosophie zu erkennen gibt bzw. befreit und unter deren Banner sie auftritt. Dass, nach einem berühmten Ausspruch, jeder Philosoph gegenüber den vorangegangenen »nein sagt« oder, wie man später immer und immer wieder sagte (Foucault, Deleuze), Philosophieren heiße, »anders zu denken«, ist nur eine Folge davon.
Philosophieren heißt deshalb zuallererst und jedes Mal, einen Bruch zu vollziehen, eine Distanz herzustellen, einen Trennungseffekt zu provozieren und eine abweichende Richtung einzuschlagen, weil ein derartiger Abstand, indem er sich, je mehr er sich vertieft oder vergrößert, einen neuen Zugang zum Ungedachten öffnet. Wenn ich nun auf dieser ersten Geste nachdrücklich bestehe, so auch deshalb, weil ich mich frage, ob sie nicht heute in Gefahr, vielleicht sogar überholt ist. Heute, wo man unablässig verkündet, dass die Intelligenz − dank der Möglichkeiten des Internets, das seine Netzwerke in alle Richtungen ausstreckt und in »Realzeit« jede/n mit jeder/m verbindet, also auch wegen der unendlichen Multiplikation der Daten – nunmehr eine kollektive geworden sei, man also »gemeinsam« denke und nicht mehr jede/r für sich; heute, wo man bis hin zu den »Humanwissenschaften« (die so unpassenderweise die Philosophie inkludieren) unablässig wiederholt, dass alle Arbeit nur in einem Team, als einziges anerkannt, durchgeführt werden könne und die Figur des einsamen Forschers verdammt wird, wird da, so frage ich mich, ein Denken, das Abstand nimmt, auch nur toleriert? Zugleich ist es eine allgegenwärtige Thematik, bis zum Überdruss gegen das »einheitliche Denken« zu wettern … Vermag man sich aber vor diesem zu bewahren, wenn man nicht mehr weggehen, keinen Rückzug beginnen, von den üblichen Fragen (die zwingend erscheinen) nicht ablassen, sich nicht absondern kann? Oder, um es positiv auszudrücken: Kann man dies, wenn man dort, wo das Terrain nicht mehr bekannt ist, wo die Pfade (und gibt es dort überhaupt solche?) nicht ausgetreten sind und das gemeinsame Licht nicht mehr eindringen kann, nicht versucht, neue Wege einzuschlagen? Wenn man eines Abends allein (anschluss- und verbindungslos) fortgeht und, sich der Einsamkeit stellend, nicht mehr weiß, wohin – das ist es, was »Abstand zu nehmen« eigentlich heißt.
DAS WOHLBEKANNTE UNBEKANNTE
Doch wie kann man, ganz allgemein, das, von dem die Philosophie jedes Mal abweicht, wenn sie dabei einen neuen Anfang entdeckt, nennen? Das, von dem sie sich losreißen muss, weil das Denken von vornherein sich darin eingräbt? Man könnte es mit Hegel und Nietzsche, die es in Übereinstimmung, wenn auch jeder auf seine Weise bearbeitend, das »gut Bekannte« nennen. Denn man muss sich von dieser Illusion freimachen: Alles Naheliegende, Bekannte, so Nietzsche, erwecke unweigerlich den Eindruck, leicht zugänglich zu sein, obschon dieses allzu gut Bekannte nur unsere erstarrten Glaubenshaltungen und Denkgewohnheiten widerspiegelt. »Was sie bekannt nennen«, ist das »Übliche«. Nun ist dieses Übliche genau das, was am schwierigsten zu erkennen, d. h. als ein Problem aufzufassen ist, so wie eine unbekannte, ferne, außerhalb liegende Sache, die man, statt ihr zu vertrauen, erforschen muss. Oder, wie Hegel (in seiner Vorrede zur Phänomenologie des Geistes) sagt: *»Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.«228 Es wird genau genommen nicht einmal *»er-kannt«. Was uns sofort in die Sicherheit desjenigen verfallen lässt, der zu kennen vermeint und daher nicht einmal zu denken beginnt, dass hier etwas zu denken wäre. Weil man darin nur eine Stütze für den weiteren Weg sieht, beeilt man sich, darüber hinwegzugehen.
So wird einer im Grunde sehr allgemeinen Weisheit zufolge nicht nur gesagt, man sollte über das erstaunt sein, was uns nicht mehr erstaunt, also über das Geläufige, Vertraute. Vielmehr verliert jeder Gedanke, in dem Augenblick, in dem er vertraut wird, seine Aktivität; er kreist nur mehr in dem, worin und wodurch er vertraut wird. Da er unsere Vorstellung der Dinge geworden sei, glaube der Geist, sagt Hegel, mit ihm fertiggeworden zu sein. Schlimmer noch, er glaube, ohne weiteres Misstrauen aus ihm ein Werkzeug machen zu können. Das heißt, dass der Geist das, was sich schließlich »unmittelbar« seinem Denken aufgezwungen hat, nunmehr als allgemeine Kategorien verwendet, deren Genese und Ungedachtes er nicht misstraut. Von diesen Kategorien erstellt Hegel so beiläufig eine Liste unbeweglich gewordener Termini, um die das europäische Denken ständig kreist, um die es eigentlich »im Kreis geht«, wie man sagt, also einigermaßen vergebens: das Paar »Subjekt«–»Objekt«, »Gott«, die »Natur«, der »Verstand« gegenüber der »Sinnlichkeit« usw. Der philosophische Diskurs kann dann, soviel er will, zwischen diesen Termini hin- und hergehen, er wird sie nicht mehr in Bewegung setzen können. Sie sind zu Säulen geworden, die »Bewegung« geht zwischen ihnen, die unbewegt bleiben, hin und her und somit nur auf ihrer *»Oberfläche« vor. So bestehen auch das Auffassen und Prüfen darin, zu sehen, ob jeder das von ihnen Gesagte auch in seiner Vorstellung findet, ob es ihm so scheint und bekannt ist oder nicht, denn er hat nicht genügend Distanz, um sie infrage zu stellen.
Wie kann ich hoffen, dieses unverrückbar gewordene Wohlbekannte-Unbekannte in den Griff zu bekommen, wenn ich von ihm ausgehend denke? Wenn das europäische Denken zutiefst von diesen Termini geprägt ist – Terminus sagt man übrigens auch für Endstation –, welchen Kunstgriff, welchen Kniff braucht es, um diesem Prägestock zu entkommen? Nach China überwechseln und dort ein gedankliches Anderswo finden, ist eine Strategie des Geistes, um dergleichen nicht mehr hinnehmen zu müssen. Dort begegnet man einem Denken, das genauso ausgearbeitet ist wie das »unsere« in Europa, ohne dass wechselseitiger Einfluss oder Ansteckung vermutet werden müsste: Es ist ein Anderswo, das nicht mehr dem alphabetischen Kompositionssystem entsprungen ist und dessen Schrift einer anderen Möglichkeit, nämlich der ideografischen und nicht phonetischen, entspricht; einem Anderswo, das nicht ein »Sein« sagt, daher auch nicht die »Frage« nach dem Sein formuliert hat; das nicht die Existenz »Gottes« voraussetzen (beweisen) musste, das also, ohne das Göttliche ignoriert zu haben, nicht »mit Gott zu verhandeln« hatte; in dem »Wahrheit« auch nicht das Kriterium des Denkens ist oder das, worum es beim Denken geht; das keinen Gedanken von einem Subjekt entwickelt hat, dessen erstes Attribut die Freiheit wäre, usw. Das war also die strategische Entscheidung, die ich getroffen hatte, um zu versuchen, endlich von diesem Wohlbekannten-Unbekannten Abstand zu gewinnen. Welche Beziehung besteht aber zwischen dem »Sein«, »Gott«, der »Wahrheit«, der »Freiheit« usw., eben diesen »Säulen«, was für ein Gebäude sie auch immer tragen? Unter welchem Aushängeschild sind unwissentlich alle unsere Gedanken untergebracht?
ABSTAND VERSUS UNTERSCHIED
Man muss, um sich der Frage zu nähern, eine prinzipielle Unterscheidung vornehmen, ohne die das Unterfangen vergebens wäre – ein Unterfangen, das zweifellos sofort auf die erregten Reaktionen und das Gezeter jener stoßen wird, die sich weigern, auch nur im Geringsten am »Wohlbekannten« zu rütteln. Genügt tatsächlich der Begriff des Unterschieds dieser Denkweisen, der chinesischen und der europäischen, wie er gewöhnlich ins Treffen geführt wird? Ist er nicht, trotz der Banalität seines Gebrauchs, von vornherein durch die von ihm aufgezwungene Perspektive ein Verrat an der schrägen strategischen Vorgehensweise, die ich zu verfolgen begonnen habe? Wenn ich davon gesprochen habe, »Abstand zu nehmen«, so deshalb, weil Abstand nicht Unterschied ist. Was ist der »Unterschied« zwischen Abstand und Unterschied? Sagen wir zunächst einmal, wenn dem Abstand und dem Unterschied auch eine Trennung gemein ist, so markiert der Unterschied eine Verschiedenheit, während der Abstand eine Distanz herstellt. Daraus folgt, dass die Unterscheidung klassifikatorisch ist, indem sie nach Ähnlichkeit und Unterschiedenheit sortiert; zugleich ist sie identifizierend: Weil sie von »Unterschied zu Unterschied« und das bis zur letzten Unterscheidung geht, gelangt sie nach Aristoteles zum Wesen (zur Definition) der Sache. Demgegenüber ist der Abstand eine erforschende, ich würde sagen: eine heuristische und keine identifizierende Figur: Nicht mehr wird durch Unterscheidung(en) nach der Einzigartigkeit [singularité] gefragt (»Was ist das?«), sondern: »Wie groß ist der die Norm übertretende Abstand?« Des Weiteren ist der Abstand nicht, wie die Unterscheidung, eine klassifizierende Denkfigur, die eine Zuordnung ermöglicht (die Unterscheidung ist das Werkzeug für die Erstellung einer Typologie), sondern, im Gegenteil, etwas Unordentliches oder Störendes (ähnlich wie man von einer »Entgleisung« hinsichtlich der Sprechweise oder des Verhaltens spricht). In diesem Sinn stellt sich der Abstand dem Erwarteten, Üblichen, Gewöhnlichen, oder sagen wir ab nun: dem »Wohlbekannten« entgegen.
Daraus folgt, dass die Unterscheidung durch die Analyse der Deskription dient (bereits die dihairesis ton eidon διαίρεσις τῶν εἴδων der Alten), während der Abstand eine Prospektion in Angriff nimmt: Der Abstand erwägt – er »sondiert« , bis wohin neue Wege eingeschlagen werden können. Während sich ein Unterschied determinieren lässt (und damit zu einem Ende kommt), muss ein Abstand erforscht werden. Dieser Unterscheidung der Operationen kann man entnehmen, welchen Vorteil sie jeweils haben. Jener des Unterschieds, insofern er von einer nächsthöheren Gattung eine Art unter vielen anderen auseinanderhält, ist es, durch diese Spezifizierung eine Charakteristik zu erstellen. Jener des Abstands dagegen ist es, durch die auftauchende Distanz das in Spannung zu versetzen, was er getrennt hat. Was will dieses »In-Spannung-Versetzen« nun besagen? Im Fall des Unterschieds genügt jeder der unterschiedenen, einmal erkannten Termini sich selbst, wie er ist, bleibt ganz banal auf seiner je eigenen Seite, da er sich auf seine Besonderheit beschränkt, während im Fall des Abstands jeder der getrennten Termini durch die aufgetauchte Distanz – eine Kluft – dem anderen gegenüber offen bleibt. Während in der Unterscheidung jeder der getrennten Termini in seinem Selbst, in welchem er sein Wesen findet, ruht, gewinnt der Abstand dadurch an Wert, dass ein Terminus sich am anderen misst, indem er, wenn man so sagen kann, an ihm hängen bleibt; erst durch den anderen, von ihm abhängig, begreift er sich als Abstand, wobei dieses »Durch« aktiv bleibt.
Man versteht von daher auch, weshalb das Los des Unterschieds vom Identitätsgedanken abhängt, und zwar gleich zweifach. Am Anfa...
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung
- I. Neigung (vs. Kausalität)
- II. Potenzial der Situation (vs. Initiative des Subjekts)
- III. Disponibilität (vs. Freiheit)
- IV. Zuverlässigkeit (vs. Aufrichtigkeit)
- V. Beharrlichkeit (vs. Wille)
- VI. Schräges (vs. Frontales)
- VII. Kniff (vs. Methode)
- VIII. Beeinflussung (vs. Überredung)
- IX. Kohärenz (vs. Sinn)
- X. Einvernehmen (vs. Erkenntnis)
- XI. Reifung (vs. Modellierung)
- XII. Regulierung (vs. Offenbarung)
- XIII. Stille Verwandlung (vs. Lautstarkes Ereignis)
- XIV. Evasiv (vs. Bestimmendes Zuweisen)
- XV. Allusiv (vs. Allegorisch)
- XVI. Ambigue (vs. Äquivok)
- XVII. Zwischen (vs. Jenseits)
- XVIII. Aufschwung (vs. Stillstand)
- XIX. Nichtverschieben (vs. Aufzuschieben wissen)
- XX. Ressource (vs. Wahrheit)
- Subjekt/Situation
- Nachwort
- Anmerkungen
- Impressum