
- 247 Seiten
- German
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eBook - ePub
Alles ist wahr
Über dieses Buch
Der internationale Bestseller jetzt auf Deutsch: Der neue Roman des Autors von ›Limonow‹
Dieses Buch, in dem »alles wahr« ist, handelt von Leben und Tod, Krankheit, extremer Armut, Gerechtigkeit, vor allem aber von Liebe. Es erreicht das, wonach Literatur sucht: Es erschafft Realität neu.
Alles ist wahr: 2004 wurde Emmanuel Carrère Zeuge der Tsunami-Katastrophe. In den Trümmern des Desasters lernte er ein junges Paar kennen, dessen Tochter von der Welle fortgerissen wurde. Carrère kümmert sich um die verwaisten Eltern - und beginnt ihre Geschichte zu schreiben. Zurück in Paris, umlagert das Unglück weiter Carrères Leben: Seine Schwägerin stirbt und lässt drei Kinder zurück. In der Trauer blitzen Erinnerungen auf, fl ießen Erzählungen von Freunden und Verwandten zusammen, die Hoffnung und Stärkung verheißen.
Carrère gibt den großen und kleinen Katastrophen ein Gesicht und zeichnet das Schicksal anonymer Helden nach, dabei ist sein Schreiben immer präzise und ergreifend, ohne rührselig zu werden. Voller Menschlichkeit führt er verschiedene Ereignisse zusammen und gibt ihnen Bedeutung und Tiefe.
Häufig gestellte Fragen
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Information
Ich weiß noch, dass Hélène und ich in der Nacht vor der Welle davon gesprochen haben, uns zu trennen. Das Ganze war nicht kompliziert: Wir wohnten nicht unter einem Dach, hatten keine Kinder miteinander, wir konnten uns sogar vorstellen, Freunde zu bleiben. Trotzdem war es traurig. In unserer Erinnerung gab es eine andere Nacht, kurz nach unserer ersten Begegnung. Wir hatten sie bis zum Morgen damit verbracht, uns immer wieder daran zu begeistern, dass wir uns gefunden hatten, dass wir für den Rest unseres Lebens zusammenbleiben wollten, gemeinsam alt werden würden, vielleicht sogar eine Tochter miteinander haben könnten... Später haben wir tatsächlich ein Mädchen bekommen; in dem Moment, da ich das schreibe, hoffen wir noch immer, gemeinsam alt zu werden, und wir mögen die Vorstellung, das alles von Anfang an gewusst zu haben. Doch auf diesen Anfang war erst einmal ein schwieriges, chaotisches Jahr gefolgt, und was uns im Herbst 2003 im Rausch unserer heftigen Verliebtheit gewiss schien und was uns jetzt, fünf Jahre später, wieder gewiss scheint oder zumindest wünschenswert, kam uns in der Weihnachtsnacht 2004 in unserem Bungalow des Hotels Eva Lanka ganz und gar nicht mehr sicher vor und auch nicht erstrebenswert. Wir waren vielmehr überzeugt, dass dieser Urlaub der letzte war, den wir miteinander verbringen würden, und dass er trotz unserer gutwilligen Bemühungen ein Fehler war. Rücken gegen Rücken gekehrt lagen wir da und wagten nicht, unsere erste Nacht und das Versprechen zu erwähnen, an das wir beide so inbrünstig geglaubt hatten und das sich offensichtlich nicht würde halten lassen. Es gab keine Feindseligkeit zwischen uns, wir schauten uns nur gegenseitig hilflos dabei zu, wie wir voneinander weg drifteten. Es war schade. Ich grübelte wieder über meine Liebesunfähigkeit, die sich umso deutlicher abzeichnete, als Hélène wirklich liebenswert war. Ich dachte daran, dass ich wohl allein alt werden würde. Hélène dachte an etwas anderes: an ihre Schwester Juliette, die kurz vor unserer Abfahrt wegen einer Lungenembolie ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Sie hatte Angst, dass Juliette schwer krank war und dass sie sterben könnte. Ich wandte ein, dass diese Angst irrational sei, doch sie hielt Hélènes Gedanken bald vollständig besetzt, und ich nahm ihr übel, sich dermaßen von etwas einnehmen zu lassen, das mir keinerlei Rolle zubilligte. Sie ging auf die Terrasse des Bungalows, um eine Zigarette zu rauchen. Ich wartete im Bett auf sie und sagte mir, wenn sie bald zurückkommen und wir miteinander sachlafen würden, würden wir uns vielleicht nicht trennen, würden wir vielleicht doch miteinander alt werden. Aber sie kam nicht wieder, sie blieb allein auf der Terrasse und sah zu, wie der morgendliche Himmel langsam dämmerte, hörte die ersten Vogelstimmen, und ich schlief ein, einsam und traurig, überzeugt davon, dass mein Leben immer weiter den Bach runterging.
Wir hatten uns alle vier, Hélène mit ihrem Sohn und ich mit meinem, für einen Tauchkurs in einem kleinen Club im Nachbardorf angemeldet. Aber seit dem letzten Mal hatte Jean-Baptiste Ohrenschmerzen und wollte nicht tauchen gehen, und wir waren müde von unserer durchwachten Nacht und beschlossen, die Stunde abzusagen. Rodrigue, der einzige, der wirklich Lust darauf hatte, war enttäuscht. Du kannst doch im Swimmingpool baden, schlug Hélène vor. Doch er hatte genug vom Swimmingpool. Er wollte wenigstens zum Strand unterhalb des Hotels begleitet werden, an den er nicht allein durfte, weil es dort gefährliche Strömungen gab. Doch keiner mochte mit ihm gehen, weder seine Mutter noch ich noch Jean-Baptiste, der lieber im Bungalow lesen wollte. Jean-Baptiste war damals dreizehn, ich hatte ihm diese Ferien mit einem viel kleineren Jungen und einer Frau, die er kaum kannte, mehr oder weniger aufgezwungen, seit dem Beginn der Reise langweilte er sich und ließ uns das spüren, indem er den Stubenhocker spielte. Als ich ihn entnervt fragte, ob er nicht froh sei, in Sri Lanka zu sein, antwortete er mürrisch, doch, er sei froh, aber es sei zu heiß und das Beste sei immer noch, im Bungalow zu lesen oder Gameboy zu spielen. Im Grunde war er ein typisch vorpubertäres Kind und ich ein typischer Vater eines vorpubertären Kindes, und ich ertappte mich dabei, ihm fast wortwörtlich dieselben Dinge zu sagen, die mich selbst in seinem Alter zur Weißglut gebracht hatten, wenn ich sie aus dem Mund meiner Eltern vernahm: Geh doch mal raus, sei ein bisschen neugieriger, wozu nehme ich dich überhaupt so weit mit ... Vergeblich. Er verzog sich in seine Höhle, und der alleingelassene Rodrigue begann, sich im Kreis zu drehen und Hélène zuzusetzen, die in einem Liegestuhl ein bisschen Schlaf nachzuholen versuchte, neben einem riesigen Meerwasser-Pool, in dem eine betagte, aber unglaublich athletische Deutsche, die Leni Riefenstahl ähnlich sah, jeden Morgen zwei Stunden lang ihre Runden drehte. Meine Liebesunfähigkeit beschäftigte weiter mein Selbstmitleid, und ich setzte mich ab, um mich bei den Ayurveden herumzutreiben – so nannten wir eine Gruppe von Deutschschweizern, die ein paar auf dem Hotelgelände etwas abgelegenere Bungalows bewohnten und einem Yoga-Seminar und traditioneller indischer Massage nachgingen. Wenn sie sich nicht gerade in einer Sitzung mit ihrem Meister befanden, übte ich manchmal ein paar Asanas mit ihnen. Dann kam ich an den Pool zurück; man hatte die letzten Frühstücksgedecke abgeräumt und begonnen, die Tische fürs Mittagessen herzurichten, bald würde sich die quälende Frage stellen, was wir mit dem Nachmittag anfangen sollten. Drei Tage nach unserer Ankunft hatten wir bereits den Tempel im Regenwald besichtigt, die Äffchen gefüttert, die liegenden Buddhas gesehen – wenn wir uns nicht in ehrgeizigere Kulturerkundungen stürzen wollten, was keinen von uns reizte – und die Möglichkeiten des Ortes ausgeschöpft. Oder wir hätten zu der Art von Leuten gehören müssen, die tagelang durch ein Fischerdorf schlendern und sich für alles begeistern können, was die Einheimischen so tun: den Markt, die Flicktechniken für Fischernetze und Gemeinschaftsrituale jeder Art ... Ich gehörte nicht dazu und warf mir vor, es nicht zu tun und meinen Söhnen nicht diese großzügige Neugier weitergeben zu können, diese Genauigkeit im Blick, die ich zum Beispiel an Nicolas Bouvier bewundere. Ich hatte Der Skorpionsfisch mitgenommen: In diesem Buch erzählt der Reiseschriftsteller Bouvier von einem Jahr, das er in Galle verbrachte, einer großen Festung an der Südküste der Insel, etwa dreißig Kilometer von dem Ort entfernt, an dem wir uns befanden. Anders als sein berühmtester Reisebericht Die Erfahrung der Welt ist Der Skorpionsfisch kein Buch der Verzückung und des Überschwangs, sondern eines des Zusammenbruchs, Verlusts und eines schon fortgeschrittenen Verfalls. Ceylon wird darin als Bann beschrieben, und zwar im perfiden Sinn des Wortes und nicht dem, wie ihn Reiseführer für coole Rucksackreisende und Jungverheiratete benutzen. Leider hatte Bouvier seinen scharfen Verstand nicht dagelassen, und unser eigener Aufenthalt, mochte man ihn als Hochzeitsreise oder Aufnahmeprüfung für eine mögliche Familienzusammenführung verstehen, war missglückt. Auf eine laue Weise missglückt, ohne Tragik und ohne Risiko. Es drängte mich langsam wieder nach Hause. Als ich den von Bougainvilleen überwucherten Empfangsbereich mit den Lichtgaden betrat, stieß ich auf einen Hotelgast, der sich darüber empörte, ein Fax nicht versenden zu können. Stromausfall. An der Rezeption hatte man ihm von irgendeinem Ereignis im Dorf berichtet, einem Unfall, welcher der Grund für den Stromausfall sei, aber er hatte die Erklärungen nicht richtig verstanden und hoffte nur, das Ganze würde nicht lange dauern, denn sein Fax war sehr dringend. Ich ging zu Hélène, die nicht mehr schlief, und sie sagte mir, etwas Seltsames sei im Gange.
Das nächste Bild zeigt eine kleine Gruppe von Hotelgästen und Hotelpersonal, sie drängt sich am Ende des Parks auf einer Terrasse über dem Ozean. Auf den ersten Blick ist merkwürdigerweise nichts zu bemerken. Alles scheint ganz normal. Dann zieht man Bilanz. Man stellt fest, dass das Meer sehr weit draußen beginnt. Normalerweise ist der Strand von der Wasserkante bis zum Fuß der Felsen etwa zwanzig Meter breit. Jetzt erstreckt er sich, soweit das Auge reicht, grau, flach und flimmernd unter der verhangenen Sonne, man könnte meinen, man sei bei Ebbe am Mont Saint-Michel. Man erkennt auch, dass er mit Dingen übersät ist, deren Größe im ersten Moment nicht abzuschätzen ist. Ist dieses krumme Stück Holz ein abgerissener Ast oder ein Baum? Vielleicht sogar ein sehr großer Baum? Ist dieses zersplitterte Boot etwas Größeres als ein Boot? Ein Schiff etwa, ein Trawler, der wie eine Nussschale angespült und zerschmettert wurde? Nicht ein Geräusch ist zu hören, kein Windhauch bewegt die Wedel der Kokospalmen. Ich erinnere mich nicht an die ersten Worte, die in der Gruppe, der auch wir uns zugesellt hatten, gesprochen wurden, aber irgendwann hat einer gemurmelt: Two hundred children died at school, in the village.
Auf einem Felsen über dem Ozean erbaut wirkt das Hotel wie eingehüllt in die üppige Pflanzenpracht seines Parks. Geht man durch das von einem Wächter behütete Gittertor, erreicht man über eine Betonrampe die Küstenstraße. Am Ende dieser Rampe stehen normalerweise Tuk-tuks: Motorräder mit Dachplane und Rückbank, auf der man zu zweit, eng zusammengerückt auch zu dritt Platz findet und mit denen man kleinere Strecken bis zehn Kilometer zurücklegen kann, für längere Wege bestellt man sich ein Taxi. Heute sind keine Tuk-tuks zu sehen. Hélène und ich laufen zur Straße hinunter in der Hoffnung zu begreifen, was vor sich geht. Es scheint etwas Schlimmes passiert zu sein, doch außer dem Mann, der von den zweihundert toten Kindern in der Dorfschule sprach und dem, der ihm entgegnete, es haben keine Kinder in der Schule sein können, denn heute sei Poya, der buddhistische Neujahrstag, scheint niemand im Hotel mehr zu wissen als wir. Keine Tuk-tuks, aber auch keine Passanten. Sonst trifft man immer Leute zu Fuß an: Frauen, die Bündel tragen und in Zweier- oder Dreiergrüppchen unterwegs sind, Schulkinder in perfekt gebügelten weißen Hemden, all diese lächelnden Leute, die einen gern in Gespräche verwickeln. Solange wir auf der landeinwärts gewandten Seite des Hügels laufen, der einen Schutzwall zwischen Straße und Ozean bildet, wirkt alles ganz normal. Doch als wir ihn hinter uns lassen und die Ebene erreichen, sehen wir: Auf der einen Seite ist alles unverändert – Bäume, Blumen, Mäuerchen, kleine Buden –, aber auf der anderen ist alles verwüstet und mit einem klebrigen, schwarzen Schlick überzogen wie von einem Lavastrom. Nach einigen Minuten Fußweg Richtung Dorf kommt uns ein großer, blonder, verstörter Typ voll Schlamm und Blut, in zerrissenen Shorts und zerfetztem Hemd entgegen. Er sei Holländer, das ist kurioserweise das Erste, was er sagt, das Zweite: Seine Frau sei verletzt. Bauern hätten sie bei sich aufgenommen, er suche Hilfe, er habe gedacht, vielleicht in unserem Hotel welche zu finden. Er spricht von einer riesigen Welle, die alles überrollt habe und dann zurückgeflossen sei und dabei Häuser und Menschen mitgerissen habe. Er wirkt schockiert und eher überrascht als erleichtert, am Leben zu sein. Hélène schlägt vor, ihn bis zum Hotel zu begleiten, vielleicht funktionieren die Telefonleitungen wieder und man darf hoffen, unter den Gästen einen Arzt zu finden. Ich will noch ein Stück gehen und versichere Hélène, bald zu ihnen stoßen. Drei Kilometer weiter, am Dorfeingang, herrscht eine angsterfüllte, verwirrte Atmosphäre. Gruppen bilden sich und lösen sich wieder auf, mit Planen bedeckte Pick-ups kurven herum, überall Geschrei und Gewimmer. Ich biege in die Straße ein, die zum Strand hinunterführt, doch ein Polizist versperrt mir den Weg. Ich frage, was genau passiert sei, er antwortet: the sea, the water, big water. Gibt es wirklich Tote? Yes, many people dead, very dangerous. You stay in hotel? Which hotel? Eva Lanka? Good, good, Eva Lanka, go back there, it is safe. Here, very dangerous. Die Gefahr scheint vorüber, dennoch gehorche ich.
Hélène ist wütend auf mich, weil ich losgezogen bin und sie mit den Kindern allein gelassen habe, dabei hätte sie doch als erste den Meldungen nachgehen müssen, schließlich sei das ihr Job. Während meiner Abwesenheit hat sie einen Anruf von LCI erhalten, dem Sender, für den sie Nachrichten schreibt und moderiert. Es ist Nacht in Europa, was auch der Grund ist, warum die anderen Hotelgäste noch nicht von ihren panischen Familien und Freunden kontaktiert worden sind, aber die Journalisten im Nachtdienst wissen bereits, dass es in Südostasien eine gewaltige Katastrophe gegeben hat, etwas von völlig anderem Ausmaß als eine lokale Überschwemmung, wie ich in diesem Moment noch glaube. Da Hélènes Kollegen sie dort in den Ferien wussten, hatten sie sich einen brandheißen Augenzeugenbericht erwartet, doch Hélène konnte ihnen praktisch nichts dazu sagen. Was ich dazu sagen könne? Was ich in Tangalle gesehen hätte? Nichts wahnsinnig Aufregendes, muss ich zugeben. Hélène zuckt mit den Schultern. Ich verschwinde in unseren Bungalow. Bei meiner Rückkehr aus dem Dorf war ich eher aufgedreht gewesen, weil sich mitten in diesen sich dahinschleppenden Ferien plötzlich etwas Ungewöhnliches ereignete, jetzt ärgere ich mich über unseren Zwist und meinen Mangel an Geistesgegenwart. Mit mir selbst unzufrieden stecke ich die Nase noch einmal in Der Skorpionsfisch. Zwischen zwei Insektenbeschreibungen lässt ein Satz mich innehalten: »An diesem Morgen hätte ich mir gewünscht, dass eine fremde Hand mir die Augenlider schließe. Doch ich war allein, ich schloss sie mir also selbst.«
Jean-Baptiste kommt aufgelöst in den Bungalow, weil er mich sucht. Das französische Paar, dessen Bekanntschaft wir vor zwei Tagen gemacht haben, ist gerade im Hotel eingetroffen. Ihre Tochter ist tot. Er braucht mich, um sich dieser Nachricht zu stellen. Während ich mit ihm den Weg zum Hauptgebäude entlanggehe, denke ich an unsere erste Begegnung in einem der strohbedeckten Restaurants am Strand, an eben der Stelle, zu der mir heute der Polizist den Zutritt verweigerte. Sie saßen am Nachbartisch. Beide um die Dreißig, er etwas älter, sie etwas jünger. Beide hübsch, lustig, vertraut und ganz offensichtlich sehr verliebt ineinander und in ihre kleine vierjährige Tochter. Die Kleine kam zu uns herüber, um mit Rodrigue zu spielen, und so kamen wir ins Gespräch. Im Gegensatz zu uns kannten sie das Land sehr gut. Sie wohnten nicht in einem Hotel, sondern in einem Häuschen direkt am Strand, das der Vater der jungen Frau das ganze Jahr über mietete, etwa zweihundert Meter vom Restaurant entfernt. Sie waren genau die Art Leute, die man gern im Ausland kennenlernt, und wir verabschiedeten uns in der Gewissheit, uns wiederzusehen. Es war nicht nötig, sich zu verabreden, wir würden uns zwangsläufig im Dorf oder am Strand über den Weg laufen.
Hélène sitzt mit ihnen und einem älteren Mann an der Bar, sein graugelocktes Haar und sein Vogelgesicht verleihen ihm Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Pierre Richard. Wir hatten uns am Abend unserer ersten Begegnung nicht vorgestellt, Hélène holt das jetzt nach: Jérôme. Delphine. Philippe. Philippe ist Delphines Vater, derjenige, der das Strandhaus mietet. Und das kleine Mädchen, das gestorben ist, hieß Juliette. Hélène sagt es mit neutraler Stimme, Jérôme nickt. Sein Gesicht und das von Delphine bleiben ausdruckslos. Ich frage sie: Seid ihr sicher? Jérôme sagt, ja, sie kämen gerade aus dem Krankenhaus im Dorf, sie seien dort gewesen, um die Leiche zu identifizieren. Delphine starrt vor sich hin, ich bin mir nicht sicher, ob sie uns sieht. Wir sitzen alle sieben, sie zu dritt, wir zu viert, auf Teaksesseln und -bänken mit farbenfrohen Kissen, auf dem flachen Tisch vor uns stehen Fruchtsäfte und Tee, ein Kellner kommt vorbei und fragt, was Jean-Baptiste und ich wünschen, und wir geben mechanisch unsere Bestellung auf, dann herrscht wieder Stille. Sie währt lange, so lange, bis Philippe plötzlich zu sprechen beginnt. Er richtet sich an niemanden Bestimmten. Seine Stimme ist schrill und abgehackt wie ein kaputtes Getriebe. In den folgenden Stunden wird er diesen Bericht mehrere Male in fast identischer Weise wiederholen.
Heute morgen, gleich nach dem Frühstück, sind Jérôme und Delphine auf den Markt gegangen, und er ist zu Hause geblieben, um auf Juliette und Osandi aufzupassen, die Tochter des Vermieters ihres guesthouse. Er saß in seinem Korbsessel auf der Terrasse des Bungalows und las in der Lokalzeitung, von Zeit zu Zeit blickte er auf, um die beiden kleinen Mädchen im Auge zu behalten, die am Wasser spielten. Sie hüpften lachend durch die flachen Wellen. Juliette sprach Französisch, Osandi Singhalesisch, aber sie verstanden sich trotzdem bestens. Ein paar Krähen stritten sich zeternd um die Krümel, die vom Frühstück übriggeblieben waren. Alles war friedlich, es würde ein schöner Tag werden, Philippe überlegte, ob er nachmittags mit Jérôme angeln gehen sollte. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Krähen verschwunden und keine Vogelstimmen mehr zu hören waren. In diesem Moment kam die Welle. Einen Augenblick zuvor war das Meer noch gleichmäßig flach, Sekunden später eine Mauer, hoch wie ein Wolkenkratzer, die auf ihn herabstürzte. Blitzartig schoss ihm durch den Kopf, dass er jetzt stirbt und keine Zeit haben wird zu leiden. Eine Weile, die ihm unendlich schien, wurde er in dem gewaltigen Bauch der Welle hin- und hergerissen, fortgespült und umhergeschleudert und schließlich auf den Rücken geworfen. Wie ein Surfer fegte er über Häuser, Bäume und Straße hinweg. Dann floss die Welle in umgekehrter Richtung zurück und sog ihn ins offene Meer hinaus. Er erkannte, dass er auf abgerissene Mauern zuraste, an denen er zerschellen würde, und klammerte sich reflexartig an eine Kokospalme, wurde weggerissen, klammerte sich an die nächste und wäre auch von dort heruntergespült worden, hätte ihn nicht etwas Hartes, vielleicht ein Stück Bretterzaun, eingeklemmt und gegen den Stamm gepresst. Möbel, Tiere, Menschen, Balken und Betonblöcke fluteten an ihm vorbei. Er schloss die Augen und wartete darauf, von einem dieser gigantischen Brocken zertrümmert zu werden, und er hielt sie geschlossen, bis das ungeheuerliche Tosen der Strömung stiller wurde und er anderes hörte, Schreie von verletzten Männern und Frauen, und er begriff, dass die Welt nicht untergegangen war, dass er überlebt hatte und der wahre Albtraum jetzt erst begann. Er öffnete die Augen und ließ sich am Stamm bis zur Wasseroberfläche hinuntergleiten, sie war tiefschwarz und vollkommen undurchsichtig. Die Strömung erzeugte immer noch einen Sog, aber man konnte ihm widerstehen. Vor ihm schwamm die Leiche einer Frau vorbei, den Kopf im Wasser, die Arme weit ausgebreitet. In den Trümmern begannen die Überlebenden nach einander zu rufen, Verletzte schrieen. Philippe zögerte: Sollte er zum Strand oder ins Dorf gehen? Juliette und Osandi waren tot, dessen war er sich sicher. Jetzt musste er Jérôme und Delphine finden und es ihnen sagen. Das war nun seine Bestimmung. Philippe stand bis zur Brust im Wasser, in Badehosen und blutverschmiert, aber er wusste nicht genau, wo er verletzt war. Er wäre lieber reglos dort stehengeblieben und hätte auf Hilfe gewartet, doch er zwang sich zum Gehen. Der Grund unter seinen nackten Füßen war schlammig, kippelig und überzogen mit einem Magma von scharfen Dingen, die er nicht sehen konnte und an denen sich zu verletzen er fürchterliche Angst hatte. Mit jedem Schritt tastete er den Boden ab, nur langsam kam er vorwärts. Hundert Meter von seinem Haus entfernt erkannte er nichts wieder: Nicht eine Mauer, nicht ein Baum standen mehr. Hier und da sah er vertraute Gesichter, Nachbarn, die wie er herumwateten, schwarz vom Schlamm und rot vom Blut, mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen, und wie er suchten sie ihre Angehörigen. Das Saugen des zurückströmenden Wassers war kaum noch zu hören, dafür wurden die Schreie umso lauter, das Heulen, das Röcheln. Philippe erreichte die Straße, dann, etwas weiter oben, die Kante, an der die Welle umgekehrt war. Diese scharf markierte Grenze war seltsam: unterhalb davon das Chaos, oberhalb die normale, völlig intakte Welt, die Häuschen aus rosa oder blassgrünen Backsteinen, die Wege aus rotem Laterit, Verkaufsbuden, Mofas, bekleidete, geschäftige, lebendige Menschen, die gerade erst zu begreifen begannen, dass etwas Gewaltiges, Grauenhaftes geschehen war; aber sie wussten noch nicht genau, was. Die Zombies, die wie Philippe wieder einen Fuß in die Welt der Lebenden setzten, konnten nichts anderes stammeln als das Wort »Welle«, und dieses Wort verbreitete sich im Dorf wie ein Lauffeuer, ähnlich, wie das Wort »Flugzeug« am 11. September 2001 in Manhattan die Runde gemacht haben musste. Panikwellen trieben die Menschen in zwei Richtungen: hin zum Meer, um zu sehen, was geschehen war, und um die zu retten, die noch zu retten waren, oder weg vom Meer, so weit weg wie möglich, für den Fall, dass das Ganze noch einmal von vorn begann. Durch das Gedränge und die Schreie hindurch lief Philippe die Hauptstraße hinauf bis zum Markt. Es war die Zeit des größten Andrangs, er machte sich darauf gefasst, Delphine und Jérôme lange suchen zu müssen, doch er sah sie sofort, sie standen unter der Turmuhr. Das Gerücht einer Katastrophe, das sie gerade erreichte, war so konfus, dass Jérôme im ersten Moment glaubte, ein Amokläufer habe irgendwo in Tangalle ein Feuer eröffnet. Philippe steuerte auf sie zu; er wusste, dies waren ihre letzten glücklichen Sekunden. Sie sahen ihn auf sich zukommen, dann stand er vor ihnen, mit Schlamm und Blut besudelt, das Gesicht verzerrt, und an diesem Punkt endet Philipps Bericht. Er schafft es nicht weiterzuerzählen. Sein Mund bleibt offen stehen, und es gelingt ihm nicht, noch einmal die drei Worte zu formulieren, die er in diesem Augenblick hatte aussprechen müssen.
Delphine schrie los, Jerôme nicht. Er nahm Delphine in die Arme und presste sie an sich, so fest er konnte, während sie weiter schrie und schrie und schrie, und in diesem Moment fasste er den Entschluss: Ich kann für meine Tochter nichts mehr tun, also rette ich meine Frau. – Ich habe diese Szene nicht miterlebt, ich erzähle sie nach Philippes Bericht. Aber ich war in der Folge dabei und habe Jérôme diesem Beschluss folgen sehen. Er verlor keine Zeit damit, weiter zu hoffen. Philippe war nicht nur sein Schwiegervater, sondern auch sein Freund. Er vertraute ihm vollkommen, und er hatte sofort verstanden: Wie geschockt und verwirrt Philippe auch immer sein mochte, wenn er diese drei Worte ausgesprochen hatte, waren sie wahr. Delphine dagegen wollte glauben, dass er sich irrte. Er selbst war doch auch davongekommen, also vielleicht auch Juliette ... Philippe schüttelte den Kopf: Unmöglich, Juliette und Osandi standen direkt am Wasser, es gibt keine Hoffnung, nicht die geringste. Sie fanden sie schließlich im Krankenhaus wieder, zwischen den Dutzenden oder schon Hunderten von Leichen, die der Ozean wieder ausgespuckt hatte und die man aus Platzmangel bereits in die Flure legte....
Inhaltsverzeichnis
- Cover
- Titel
- Inhalt
- Alles ist wahr
- Anhang
- Impressum