Hegel, der Mensch und die Geschichte
eBook - ePub

Hegel, der Mensch und die Geschichte

  1. 331 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
eBook - ePub

Hegel, der Mensch und die Geschichte

Über dieses Buch

Georges Batailles hier erstmals auf Deutsch vorliegende Essays zu Hegel sind nur der sichtbare Teil einer lebenslangen, oft unterschwelligen Beschäftigung mit dessen Philosophie. Es sind Bruchstücke eines ununterbrochenen Dialogs, denn Hegel war einer von Batailles ständigen philosophischen Wegbegleitern, ohne den sich sein Denken nur bedingt verstehen lässt. Noch ein Jahr vor seinem Tod schreibt er an Alexandre Kojève, dass er etwas der Introduction à la lecture de Hegel Vergleichbares schaffen möchte, "aber das müsste unendlich willkürlicher sein und hauptsächlich auf dem Bestreben beruhen, das zu interpretieren, was Hegel nicht gewusst oder unbeachtet gelassen hat (so die Vorgeschichte, die Gegenwart, die Zukunft etc.)."

Häufig gestellte Fragen

Ja, du kannst dein Abo jederzeit über den Tab Abo in deinen Kontoeinstellungen auf der Perlego-Website kündigen. Dein Abo bleibt bis zum Ende deines aktuellen Abrechnungszeitraums aktiv. Erfahre, wie du dein Abo kündigen kannst.
Derzeit stehen all unsere auf mobile Endgeräte reagierenden ePub-Bücher zum Download über die App zur Verfügung. Die meisten unserer PDFs stehen ebenfalls zum Download bereit; wir arbeiten daran, auch die übrigen PDFs zum Download anzubieten, bei denen dies aktuell noch nicht möglich ist. Weitere Informationen hier.
Perlego bietet zwei Pläne an: Elementar and Erweitert
  • Elementar ist ideal für Lernende und Interessierte, die gerne eine Vielzahl von Themen erkunden. Greife auf die Elementar-Bibliothek mit über 800.000 professionellen Titeln und Bestsellern aus den Bereichen Wirtschaft, Persönlichkeitsentwicklung und Geisteswissenschaften zu. Mit unbegrenzter Lesezeit und Standard-Vorlesefunktion.
  • Erweitert: Perfekt für Fortgeschrittene Studenten und Akademiker, die uneingeschränkten Zugriff benötigen. Schalte über 1,4 Mio. Bücher in Hunderten von Fachgebieten frei. Der Erweitert-Plan enthält außerdem fortgeschrittene Funktionen wie Premium Read Aloud und Research Assistant.
Beide Pläne können monatlich, alle 4 Monate oder jährlich abgerechnet werden.
Wir sind ein Online-Abodienst für Lehrbücher, bei dem du für weniger als den Preis eines einzelnen Buches pro Monat Zugang zu einer ganzen Online-Bibliothek erhältst. Mit über 1 Million Büchern zu über 1.000 verschiedenen Themen haben wir bestimmt alles, was du brauchst! Weitere Informationen hier.
Achte auf das Symbol zum Vorlesen in deinem nächsten Buch, um zu sehen, ob du es dir auch anhören kannst. Bei diesem Tool wird dir Text laut vorgelesen, wobei der Text beim Vorlesen auch grafisch hervorgehoben wird. Du kannst das Vorlesen jederzeit anhalten, beschleunigen und verlangsamen. Weitere Informationen hier.
Ja! Du kannst die Perlego-App sowohl auf iOS- als auch auf Android-Geräten verwenden, um jederzeit und überall zu lesen – sogar offline. Perfekt für den Weg zur Arbeit oder wenn du unterwegs bist.
Bitte beachte, dass wir keine Geräte unterstützen können, die mit iOS 13 oder Android 7 oder früheren Versionen laufen. Lerne mehr über die Nutzung der App.
Ja, du hast Zugang zu Hegel, der Mensch und die Geschichte von Georges Bataille, Rita Bischof im PDF- und/oder ePub-Format sowie zu anderen beliebten Büchern aus Philosophy & Philosophy History & Theory. Aus unserem Katalog stehen dir über 1 Million Bücher zur Verfügung.
Rita Bischof

Negativität und Anerkennung

Hegel, Kojève, Bataille und das Ende der Geschichte

Vorbemerkung
Als Georges Bataille begann, in Hegel mehr als nur den Gegenstand einer Polemik mit seinen Zeitgenossen zu sehen, war er von der Idee besessen, eine positive Kritik der Hegel’schen Philosophie zu entwerfen. Schon 1932, in seinem ersten Hegel-Essay, ging es ihm darum zu klären, was das dialektische Denken ist, welches seine genuinen Themen sind und wo seine Grenzen liegen. Bataille sah darin ein Desiderat, das aus der zeitgenössischen Diskussion um Hegel und den Verwirrungen, zu denen sie geführt hatte, erwachsen war. Noch 1956, in »Hegel, der Mensch und die Geschichte« spielt er auf die Ausgangssituation an. »Die nahezu beherrschende Rolle, die der Marxismus heute spielt, hat übrigens dazu beigetragen, die Aufmerksamkeit auf die Philosophie Hegels zu lenken, aber eine eher von Engels als von Hegel selbst ausgehende Tendenz, die dialektischen Aspekte der Natur in den Vordergrund zu stellen, hat die grundlegende dialektische Entwicklung der Hegel’schen Philosophie, die sich auf den Geist – das heißt auf den Menschen – bezieht und deren entscheidende Bewegung aus dem Gegensatz von Herr und Knecht (der Teilung der menschlichen Gattung in entgegengesetzte Klassen) resultiert, in den Hintergrund gedrängt.«78
Batailles mit diesem Band erstmals auf Deutsch vorliegende Essays sind nur der sichtbare Teil einer lebenslangen, oft unterschwelligen Beschäftigung mit Hegels Philosophie. Sie sind zwar repräsentativ für den inneren Dialog, den er insbesondere mit der Phänomenologie des Geistes führte, können diesen Dialog aber nicht erschöpfend abbilden. Wie intensiv sich Bataille mit Hegel beschäftigt hat und wie entscheidend das für die Entwicklung seines eigenen Denkens war, zeigt sich erst, wenn man sich in seine unveröffentlichten Manuskripte aus den vierziger und fünfziger Jahren vertieft, zumeist über Le Non-Savoir oder Le Pur bonheur, den beiden nie fertiggestellten Bänden, die seine anti-thomistische Summa Atheologica hätten vollenden sollen. Aber auch die sehr umfangreichen Manuskripte zu einer Theorie der Souveränität müssen erwähnt werden, an der Bataille bis in seine letzten Jahre gearbeitet, die er aber nicht mehr abgeschlossen hat. In allen diesen Texten ist Hegel gegenwärtig, wenn auch nicht Thema. Sogar in Batailles erotischer Literatur finden sich Anspielungen auf ihn, die zunächst nicht sehr explizit sind, aber bereits ab den frühen vierziger Jahren für Erzählungen wie Madame Edwarda (1941)79 und Le Petit (1943) eine konstitutive Bedeutung besitzen. Mit Madame Edwarda hat Bataille das Thema des Je suis Dieu, das über verschiedene Stufen mit Hegel80 vermittelt ist, in sein »obszönes Werk« eingeführt. In dieselbe Tradition hatte er aber schon Dirty81 gestellt, einen Text, der 1928, unmittelbar nach L’Anus solaire, entstanden ist und 1935 als Einleitung in den Roman Le Bleu du ciel aufgenommen wurde. Da Bataille den Roman aufgrund seines stark autobiografischen Charakters zunächst nicht zur Veröffentlichung82 vorgesehen hatte, ihm aber sehr an dem Porträt von Dirty lag, brachte er den Text 1945 als Separatdruck in der Reihe L’Age d’or heraus. Anlässlich dieses Erstdrucks stellte er ihm eine lange Passage aus der Einleitung in die Phänomenologie83 voran. Später hat er auch Madame Edwarda, genauer ein für die stark überarbeitete Neuauflage von 1956 verfasstes und mit Georges Bataille gezeichnetes Vorwort unter ein Hegel’sches Motto gestellt: Der Tod ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, das, was die größte Kraft erfordert84, und damit angedeutet, dass er den Text auch als Allegorie auf eine Grundfigur der Phänomenologie verstanden wissen wollte. Doch ist das lange Epigraph aus Dirty mehr als nur ein Motto, nämlich eine Begründung für diese Art grenzüberschreitenden Schreibens, dessen Ergebnisse Bataille nie unter seinem eigenen Namen veröffentlicht hat. Er deutet damit an, dass es sich hier nicht nur um eine andere Art von Texten, sondern auch um die Texte eines Anderen – Texte des Anderen – handelt. Und obwohl die lange Passage nicht als eine Hommage an Hegel zu verstehen ist, hat Bataille, indem er sie zitiert, einbekannt, dass die Phänomenologie des Geistes an der Entstehung dieser Schreibweise paradoxerweise Anteil hatte.85
Hegel ist ohne jeden Zweifel einer von Batailles ständigen philosophischen Wegbegleitern, auch wenn viele seiner Interpreten diese Nähe als Ergebnis eines Missverständnisses dargestellt haben. Würde man aber Hegel aus Batailles Denken subtrahieren, wäre es nicht mehr dasselbe Denken. Noch ein Jahr vor seinem Tod schreibt er an Alexandre Kojève, dass er etwas der Introduction à la lecture de Hegel Vergleichbares schaffen möchte, »aber das müsste unendlich willkürlicher sein und hauptsächlich auf dem Bestreben beruhen, das zu interpretieren, was Hegel nicht gewusst oder unbeachtet gelassen hat (so die Vorgeschichte, die Gegenwart, die Zukunft etc.)«.86 In dieser Idee, die er ganz ähnlich schon zu Beginn der dreißiger Jahre geäußert hatte, ist die Essenz seines lebenslangen Dialogs mit Hegel enthalten. Das zeigt nicht nur, dass Bataille in Hegel’schen Kategorien dachte – alle seine Begriffe lassen sich letztlich von ihnen herleiten,87 sondern auch, dass er sie in Bereiche transponierte, die in Hegels Philosophie keine Rolle gespielt haben. Bataille übernimmt die Hegel’schen Figuren nicht, um sie zu affirmieren, auch nicht um sie zu widerlegen, vielmehr geht es ihm darum, mit ihnen zu arbeiten, sie zu aktualisieren und im Licht der modernen Geisteswissenschaften neu auszulegen.
Um seiner Auseinandersetzung mit dem dialektischen Denken gerecht zu werden, schien es mir daher unumgänglich, einen Blick auf ihre Entwicklung zu werfen, von den sehr fragmentarischen Ansätzen in der Zeitschrift Documents bis zu den späten Essays, in denen Bataille seine Haltung zu Hegel unmissverständlich klargelegt hat. Doch auch diese Essays haben keinen Schlusspunkt gesetzt, Bataille hat bis an sein Lebensende nicht aufgehört, mit Hegel, gegen Hegel und über Hegel nachzudenken.
Zwischen dem ersten der drei hier veröffentlichten Essays und den letzten beiden liegt eine Spanne von fast einem Vierteljahrhundert. Der erste wurde unter Mitarbeit von Raymond Queneau verfasst und ist 1932 in der Zeitschrift La Critique Sociale erschienen. Die darin versuchte positive Hegel-Kritik läutete sozusagen das Ende von Batailles Frühphase ein und kann als deren Resümee verstanden werden. Die beiden anderen wurden in den Jahren 1955 und 1956 geschrieben und publiziert, als Bataille versuchte, noch einmal alles, was ihm wichtig war, zur Sprache zu bringen und seinem Denken den letzten Schliff zu geben. Das Gemeinsame seiner verschiedenen Lektüren aber ist, dass sie sich von Anbeginn, wie absichtslos, gerade solchen Konfigurationen, Motiven oder Themen ankristallisieren, die in der deutschen Rezeption der Phänomenologie nur eine geringe Rolle gespielt haben. Überraschend sind daher auch die Schlüsse, die Bataille aus der Hegel’schen Philosophie zieht und die zu ziehen einem deutschen Leser bis weit in die zweite Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein kaum in den Sinn gekommen wäre. Einige Interpreten haben daher die Rede von einer surrealistischen Lektüre Hegels eingeführt, um das Spezifische der damaligen französischen Rezeption zu benennen. Allerdings haben sie offengelassen, was genau dieser Begriff meint und wodurch eine solche Lektüre bedingt sein könnte.
Der surrealistische Hegel

1. Hegel und Sade

Eine Koinzidenz, die zweifellos etwas Aufreizendes besitzt, will, dass die Namen Hegel und Sade gleichzeitig in Batailles Texten aufgetaucht sind. Das besagt zwar noch nicht viel, zumal diese Koinzidenz eine äußerliche, bloß faktische ist und Bataille weder damals noch später zwischen beiden eine direkte Beziehung hergestellt hat. So gesehen scheint es müßig, den berühmten Vergleichen Sades mit Kant88 oder mit Plato89 einen Vergleich Sades mit Hegel an die Seite zu stellen. Was auch könnte den Verfechter eines unveräußerlichen (Herren-)Rechts auf Genuss in die Nähe des Verfassers der Phänomenologie des Geistes rücken, eines Geistes, der wesentlich Arbeit ist und seine Macht gerade daraus gewinnt, dass er zwar aus sich herausgeht, sich entfremdet und sein Leben aufs Spiel setzt, aber doch so, dass er den Tod in Schach hält, das Risiko begrenzt und den Genuss auf später verschiebt? – Nichts, wenn man nicht auf die Geschichte rekurriert, auf die Sade und Hegel, beide in je eigener Weise, reagierten. Tatsache ist, dass sich Bataille seit seinen ersten Artikeln für die Zeitschrift Documents bald auf den einen, bald auf den anderen der beiden Denker der Revolutionszeit bezieht, die ihm zum Argument werden, noch bevor er eine wirkliche Kenntnis von ihren jeweiligen Werken besitzt. Diese Bezugnahmen fallen zwar höchst unterschiedlich aus: Bataille hat Hegel von Anfang an in eine kritische Perspektive gestellt und damit seinen Ruf eines »Anti-Hegelianers« begründet; gleichzeitig ist es ihm ein Anliegen, Sade gegen seine Liebhaber zu verteidigen. Trotzdem gibt es einige markante Parallelen wie beispielsweise die, dass es ihm weniger um eine Exegese ihrer Werke ging, die damals in Frankreich nur schwer zugänglich waren, als vielmehr um eine Kritik am Umgang der Intellektuellen mit ihnen. Bataille fragt nach dem Gebrauchswert, den seine Zeitgenossen von den beiden Denkern machen, und wirft damit zumindest implizit die Frage auf, welchen Gebrauchswert ihre jeweiligen Philosophien tatsächlich haben.
Was aber trotz allem Hegel und Sade im Denken Batailles tatsächlich in einer gewissen Nähe hält, ist eine Frage, die er beiden stellt, nämlich die Frage nach dem Verhältnis von Herrschaft und Souveränität. Dies und die eng damit assoziierte Erfahrung der Negativität sollten für ihn in der Folge immer wichtiger werden. Zwar ist Bataille 1929/30 noch weit davon entfernt, diese Begriffe für sich selbst geklärt zu haben; noch spricht er in Andeutungen. Trotzdem ist nicht zu übersehen, wie sich in seinen Reflexionen auf dieses Problem die Vorstellungen beider Denker zu überlagern beginnen. Bemerkenswert ist überdies, dass bereits in diesen frühen Entwürfen die Richtung erkennbar wird, in die sich Batailles Denken entwickeln wird. Das hat sich wenig später in den Artikeln für La Critique Sociale auch in theoretischer Form niedergeschlagen.

2. Der dadaistische Hegel

Zwar kann es hier nicht um die Frage gehen, wie sich Sade zu Hegel oder Hegel zu Sade verhält, vielmehr stellt sich das Problem, wie, warum und unter welchen Umständen Bataille in Documents auf Hegel Bezug genommen hat. Und zu diesen Umständen gehört Sade. Die Entdeckung der beiden Denker fällt nicht nur zeitlich zusammen, sie hat auch dieselbe Genese. Batailles erste veröffentlichte Stellungnahmen zu Hegel wie zu Sade stehen in engem Zusammenhang mit der Polemik mit André Breton90, der aus ihnen – ebenfalls ohne genauere Werkkenntnisse – sehr früh schon die Schutzheiligen des nachmaligen Surrealismus91 gemacht hatte. Noch zu Dada-Zeiten, 1923, hatte Breton in einer Nummer der Zeitschrift Littérature mit dem Titel »Erutaréttil«92 eine Rangliste der achtzehn größten Geister aufgestellt, in der Hegel in einer Reihe mit anderen, für ihn wichtigen Dichtern und Denkern, darunter auch Sade und Lautréamont93, zu stehen kam. Breton liebte bekanntlich solche Aufstellungen, die er von Zeit zu Zeit aktualisierte, die von ihm aber in der Regel nicht hierarchisch intendiert waren. Eher handelt es sich um die Erstellung einer Ahnengalerie, das heißt, die Genannten stehen für die Surrealisten auf ein- und derselben Ebene, die die einer Wahlverwandtschaft ist. Man könnte sagen, dass Breton, indem er solche Listen erstellte, vor allem geteilte Momente, getauschte Gedanken und Perspektiven festhielt.
Offenbar aber hat diese Nebeneinanderstellung einige Interpreten so stark provoziert, dass sie auf ihr die These von einer surrealistischen Lektüre Hegels – auf Seiten Batailles94 wie auf Seiten Kojèves95 – zu begründen suchten. Die These kam etwa um die Jahrtausendwende auf und kann sich auf kaum mehr als Bretons sporadische Teilnahme an den Hegel-Vorlesungen stützen. Es gab wohl auch einige gemeinsame Essen mit Kojève und Bataille im Anschluss an diese Vorlesungen96, aber eine wirkliche Beziehung zwischen Kojève und den Surrealisten ist nicht nachzuweisen.97 Zwischen Bataille und dem Surrealismus hat es zwar Beziehungen gegeben, und diese sind ziemlich verzwickt. Schaut man sich aber die Texte an, in denen sich seine Beschäftigung mit Hegel niedergeschlagen hat, drängt sich die Erkenntnis auf, dass sich seine Auffassung in ausdrücklichem Widerspruch zur surrealistischen herausgebildet hat. Das gilt selbstverständlich nur für die Anfänge.98
Genauso gut, vielleicht sogar mit mehr Recht hätte man von einer dadaistischen Rezeption Hegels sprechen können. Hier findet sich schnell ein tertium comparationis, nämlich die Emphase, die jeweils der Negativität gilt. Tatsächlich haben französische Journalisten eine solche Beziehung in polemischer, Hegel herabsetzender Absicht damals auch hergestellt. Umgekehrt waren die Pariser Dadaisten – neben Breton vor allem Tristan Tzara – nach Kräften darum bemüht, aus Hegel einen ihrer Geistesverwandten zu machen. Einige wollten im Leben Jacques Vachés, des Dandys der Schlachtfelder und des Erfinders des umour99, eine vollkommene Entsprechung zu Hegels dialektischem Denken erkennen.100 Georges Ribemont-Dessaignes, darin nicht wirklich involviert, hat das 1922 in der Zeitschrift Der Sturm kommentiert: »Man wirft uns den Namen Hegel zwischen die Beine, Bonjour Papa. Macht Ihnen das Spaß? Seine kleine, sehr sympathische Negation hat nichts zerstört. Sie ist bloß traurig.«101 Im Unterschied zu Breton und Tzara hat Ribemont-Dessaignes eine dezidiert negative Beziehung zwischen der Avantgarde und Hegel hergestellt. Anlässlich der Aufführung von Tzaras Stück Die ersten himmlischen Abenteuer des Monsieur Antipiryne im Théâtre de la Maison de l’Œuvre bemerkt er, dass an jenem Abend »die Konditionierung und die Mystifikation des Publikums durch die Dadaisten in sehr konkreter Weise die Hegel’sche Negation und das Hegel’sche Wissen überschritten« habe. »[…] das Publikum hat eine Stunde lang Brechwurz geschluckt: Dada versteht es, ihn zuzubereiten. Das ist eine andere Wirkung als diejenige Hegels.«102
Doch im Grunde konnte damals, trotz aller Absichtserklärungen Bretons, von einer Hegel-Lektüre103 keine Rede sein. Noch in Nadja (1928) hat er Hegel nur nach der Sekundärliteratur zitiert104, und doch ist es als eine Antwort auf Breton zu verstehen, wenn Bataille 1929 im vierten Heft von Documents, sichtlich genervt, Hegel namentlich in seinen Diskurs einführt. Breton, obwohl in keinem einzigen Artikel aus Documents mit Namen genannt, ist der eigentliche Adressat seiner Einlassungen zu Hegel oder zu Sade. Das erklärt vielleicht auch, warum er in den unterschiedlichen Kontexten ähnliche Argumente gebraucht hat. Was Bataille zunächst Hegel vorwirft, das Problem konkreter Disproportionen zwar erkannt, ihm aber nur einen abstrakten Ausdruck gegeben zu haben, hat er in dem wenig später entstandenen, aber erst posthum veröffentlichten Text »Der Gebrauchswert des D. A. F. de Sade« seiner Kritik am Surrealismus zugrunde gelegt. Dieser sei zwar bemüht, das Andere oder Heterogene in seinen Diskurs aufzunehmen, bediene sich aber ei...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Kritik der Grundlagen der Hegel’schen Dialektik
  5. Hegel, der Tod und das Opfer
  6. Hegel, der Mensch und die Geschichte
  7. Negativität und Anerkennung. Hegel, Kojève, Bataille und das Ende der Geschichte
  8. Anmerkungen
  9. Impressum