Elmar Altvater
Die Dialektik der Ausbeutung
Ohne Ausbeutung keine Moderne, mit Ausbeutung keine Zukunft
Zur Ausbeutung gehören mindestens zwei: einer, der ausbeutet, und ein anderer, der ausgebeutet wird. Herrschaft und Ungleichheit der sozialen Lage in der Gesellschaft sind daher eine notwendige Bedingung dafür, dass ein Ausbeutungsverhältnis zustande kommt. Auch die Freiheit, ausbeuten zu können und zu dürfen, muss gegeben sein. Das müssen Sitte und Anstand, die Rechtsordnung und die ökonomischen Verhältnisse zulassen. Insofern ist der kakofonische Dreiklang dieses Kursbuches »Freiheit, Gleichheit, Ausbeutung« nur einer, wenn man statt Gleichheit die Ungleichheit setzt: Ungleichheit von Einkommen und Vermögen, von Einfluss und Macht.
Dass in der heutigen Welt die Ungleichheit extrem ist, pfeifen die Spatzen von den Dächern. Einer der Spatzen ist Philip Vermeulen von der Europäischen Zentralbank (EZB), der die Vermögen der Topverdiener beiderseits des Atlantiks berechnet hat und feststellen musste, dass deren Vermögen noch ungleicher verteilt sind als bisher angenommen. Das reichste Prozent der Deutschen besitzt ein Drittel der Vermögenswerte, die reichsten fünf Prozent mehr als die Hälfte. In den USA sind die Verhältnisse noch gegensätzlicher.1 Ein anderer Twitter-Spatz, die Schweizer Megabank UBS, findet heraus, dass etwa 18 000 Superreiche in der Welt ein Geldvermögen von 2300 Milliarden Euro ihr Eigen nennen – Sachvermögen, Kunstschätze oder sogenanntes Humankapital nicht mitgerechnet. Interesse haben die Banker daran jedoch nur bedingt, genauso wenig wie an der Tatsache, dass 3,5 Milliarden Menschen so viele Milliarden ihr Eigen nennen können wie gerade einmal 85 superreiche Vermögensweltrekordhalter. Denn die vermögensverwaltenden Banker sind auf der rastlosen Suche nach lockeren, zum Zocken aufgelegten Milliarden, die sie in ihre mehr oder weniger ehrbaren, halb- oder auch nur achtellegalen Angebote für Kapitalanlagen lenken können, um vom Reichtum der Superreichen nicht nur Brosamen, sondern einen gehörigen Batzen abzubekommen.
Wo der Reichtum auf Hochglanz poliert wird, nimmt man der Armut noch die Würde. Eine aktuelle Beschreibung aus der Hotellerie lässt das hässliche Gesicht der Ungleichheit erkennen. So schreibt Stefanie Hirsbrunner in ihrem Buch Hotel Fünf Sterne. Reichtum, Macht und die Leiden einer jungen Angestellten: »Als Servicemitarbeiter in der Fünf-Sterne-Gastronomie lebten wir dafür, den Reichen und Superreichen dieser Welt ein Sorglosleben zu ermöglichen. (…) Wir Hotel-Angestellten waren durch unsere Mittellosigkeit, aber auch durch unser Eingebundensein in strenge Hierarchien und feste Dienstpläne ganz besonders unfrei. (…) Während unsere Gäste die große weite Welt, das Reisen in ferne Länder sowie die individuelle Freiheit repräsentierten, musste ich oft sogar darum bitten, während des Dienstes auf die Toilette gehen zu dürfen.« Als die New Economy in den USA vor mehr als einem Jahrzehnt ihren Hype erlebte, konnte man ähnlich deprimierende Berichte lesen, von Kassiererinnen beispielsweise, die in Windeln an der Kasse standen, weil ihnen vom Management der Luxus einer Pinkelpause nicht vergönnt war.
Marx schreibt schon über die große Industrie seiner Zeit, dass dem Kapital die selbstverständlichsten Gesetze der Körperpflege abgerungen werden müssen: »Was könnte die kapitalistische Produktionsweise besser charakterisieren als die Notwendigkeit, ihr durch Zwangsgesetz von Staats wegen die einfachsten Reinlichkeits- und Gesundheitsvorrichtungen aufzuherrschen?«2 Die Staatseinmischung mithilfe der Fabrikgesetzgebung ist im England des 19. Jahrhunderts gegen die kapitalistische Barbarei ein zivilisierender Akt, der von den Kapitalvertretern als Eingriff in die Freiheit des Unternehmers heftig attackiert wurde.
An den frühkapitalistischen Zuständen hat sich auch im hochmodernen Turbokapitalismus nichts Grundlegendes geändert. Im Juli 2013 starben in Bangladesch 1132 Menschen, vor allem Frauen, als ein Fabrikgebäude einstürzte, wo unter erbärmlichen Umständen Kleidung für die europäischen und US-amerikanischen Handelsketten und deren konsumierende Kundschaft billigst produziert wurde – und auch nach dem Desaster weiter produziert wird. Auch heute sind gesellschaftliche und staatliche Eingriffe in die »Satansmühle« der Ausbeutung ebenso notwendig, wie sie ideologisch und politisch bekämpft werden.
Der Begriff »Satansmühle« stammt von Karl Polany. Der ungarisch-österreichische Wirtschaftshistoriker beschreibt die »große Transformation« zur kapitalistischen Marktwirtschaft im 18. und 19. Jahrhundert in England und dann weltweit als Prozess der »Entbettung des Marktes aus der Gesellschaft«. Der Arbeitskraft wird nun der Schutz gegen die Ausbeutung genommen, die durch die Unterbietungskonkurrenz bei den Arbeitskosten immer weiter verschärft wird und jedes Maß verliert. Die Lohnabhängigen müssen dann organisiert darum kämpfen, in der Satansmühle von Arbeitsmarkt und industrieller Ausbeutung nicht aufgerieben zu werden.
Die Normalität der Ausbeutung des industriellen Proletariats hatte Rosa Luxemburg im Sinn, als sie der Dialektik von Freiheit und Gleichheit mit den Worten Ausdruck verlieh: »Freiheit ohne Gleichheit ist Ausbeutung, Gleichheit ohne Freiheit ist Unterdrückung.« Oskar Lafontaine hat diese Worte oft zitiert, manchmal als deutsch-deutsche Zuspitzung. Die DDR war für ihn »ein Staat, in dem Gleichheit ohne Freiheit herrschte«. Das führe zur Unterdrückung. Während in der Bundesrepublik, in der es Freiheit ohne Gleichheit gebe, die Ausbeutung dominiere. Man könnte auch sagen, hier prallen Politik der Freiheit und Ökonomie der Ungleichheit unmoderiert aufeinander. Die Auswüchse der Freiheit zur Ausbeutung können nur von sozialen Bewegungen bekämpft werden, im Arbeitsleben und in der Wirtschaftswelt in erster Linie von den Gewerkschaften. Das, was sie erkämpfen, muss in staatlich garantierte Regeln und Gesetze umgewandelt werden. Der Reformismus kann loslegen. Erst kämpfen soziale Bewegungen gegen die Ausbeutung. Sind sie erfolgreich, müssen sie die Erfolge sichern, durch »Eintritt der Massen in den Staat« und durch Mitwirkung bei der Sicherung einer Ordnung der »Normalität der Ausbeutung«.
Ausbeutung ist älter als der Kapitalismus
Das ist klare Kante und verdeutlicht den kniffligen Zusammenhang von Freiheit, Gl...
