Stefan Welzk
Der Wald, die Angst und das Geld
Vertagte Katastrophen, bedrohte Symbiosen
Es ist das Wesen der romantischen Seele, ihren Gegenstand außerhalb der Wirklichkeit zu haben. Wo denn findet er sich, der deutsche Wald? Was da rumsteht von der Luhe bis zur Isar, Kiefern Stamm bei Stamm, in korrekten Gevierten und kerzengerader Monotonie, ganz oben, nur ahnbar noch, etwas Nadelgrün, das hat doch mit dem, was die Leute aus deutscher Oper und Heimatkundeunterricht als Wald im Kopf haben, überhaupt nichts zu tun. Nutzwald eben, ein Produkt des 19. Jahrhunderts wie die ganze Romantik, die das nicht wahrhaben will und eigens entstanden ist, um die Industrialisierung fortzulügen. (…)
Das Entscheidende in unserer Ordnung ist der Mensch, jeder einzelne, und nicht irgendeine Konifere. Seinem Votum haben wir uns zu beugen. Die Bevölkerungskonzentration in den am stärksten vergifteten, ökologisch am schwersten geschädigten Gebieten ist eine tägliche Volksabstimmung für industriellen Fortschritt, internationale Konkurrenzfähigkeit und Wohlstand. Warum ziehen die Leute nicht weg aus den Ballungsräumen, dorthin, wo die Gewässer klar und die Mieten niedrig sind? Zumindest die Arbeitslosen könnten das doch tun. (…) Eindeutig setzt das Volk seine Prioritäten anders, als der arrogante Umwelttotalitarismus es ihm in den Mund zu legen versucht. Wer das nicht akzeptiert, der verneint die Demokratie. Der verläßt den Boden unserer freiheitlichen Grundordnung und sollte deshalb auch die in ihr verbrieften Rechte nicht unbegrenzt ge- und mißbrauchen können. Die Gewaltsamkeit, mit der radikale ökologische Minderheiten wie Greenpeace ohne jede Rücksicht auf Arbeitsplätze die Hobbys und Präferenzen einer akademisierten sorglosen Oberschicht verfolgen, sollte uns zu denken geben. Umweltschutz ist Klassenpolitik.
Wenn wir alle den Gürtel enger schnallen müssen, warum dann nicht auch die Natur? Warum soll gerade sie allem heilsamen Leistungs- und Anpassungsdruck entzogen werden? Mit übereilten Regulierungen nehmen wir ihr gerade die Chance, von sich aus widerstandsfähige Arten, angepaßt an unsere heimatlichen Schadstoffe, zu entwickeln. (…) Das Opfer des Waldes ist angemessen, und sei es auch nur, um ein Symbol zu setzten, ein Zeichen unserer Entschlossenheit, uns um keinen Preis aus unserem Rang in der Hierarchie der internationalen Arbeitsteilung verdrängen zu lassen.
Aus: Kursbuch 74, »Zumutungen an die Grünen«, 1983, S. 29, 35, 38
Schockiert vom Beitrag »Fetisch Wald. Scherzo funebre« hatten damals, 1983, einige Kursbuch-Abonnenten der Redaktion ihre Kündigung mitgeteilt. Offenbar war der Sarkasmus des Textes – eine Persiflage auf die damals gängige lobbyistische Verharmlosung und Verantwortungslosigkeit, gespickt mit namentlichen Zitaten – nicht von allen durchschaut worden. Doch seinen Zweck hatte er erreicht: Betroffenheit und Entsetzen ob der verlogenen bis zynischen Reaktionen der Zitierten und ihrer Verbände auf dieses doch unübersehbare ökologische Desaster. Angeregt zu dieser Art von Brutalsatire hatte mich der irische Schriftsteller Jonathan Swift. Während einer Hungersnot in Irland empfahl er in seiner Broschüre A Modest Proposal, die Kinder von Armen einzupökeln, denn diese hätten ohnehin keine Überlebenschancen, und das Fleisch nach England zu verkaufen, damit das Land zu Wohlstand käme. Sarkasmus bleibt in seiner amüsanten Bitterkeit eines der erfolgreichsten Mittel, Unsensibilität vorzuführen. Die ihm eigene Übertreibung findet freilich dort ihre Grenzen, wo die Furchtbarkeit des Wirklichen nicht mehr übertreibbar ist. Paradigma dafür bietet heute der Quer-Kannibalismus von Organtransplantationen. An dieser Stelle nur ein Detail: In chinesischen Gefängnissen sitzen angeblich Tausende Falun-Gong-Anhänger, die bedarfsgerecht hingerichtet werden. Amerikaner sucht Niere, China liefert Niere. In Deutschland hat ein Herr vom Professoren-Panel der »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« verlangt, Menschen, die nicht genug Geld für den Lebensunterhalt der Familie haben, »die Möglichkeit zu einem geregelten Verkauf ihrer Organe zu eröffnen«. Im Kursbuch 169 versuchte ich mit einem fiktiven Bericht aus einer ostasiatischen Triade dieses Geschehen zu fassen, doch keine schriftstellerische Verarbeitung, kein Sarkasmus kann einer solchen Realität angemessen sein.
Nun aber zurück zum Wald. Wann hat man das letzte Mal etwas vom dessen Ableben gehört? 2003 wurde das Waldsterben von Renate Künast, Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, für beendet erklärt. Der Trend sei gestoppt. Noch immer rauschen die deutsch...
