Kunst kann was
Gespräche mit Kuratoren & Direktoren (1).
Von Jakob Schrenk
Chris Dercon
1. Was macht eigentlich ein Kurator?
Ein intelligenter Kurator bringt Objekte zusammen, die für den Durchschnittsbetrachter überhaupt nicht zusammengehören – und mit einem Mal macht diese Kombination Sinn. Der Kurator kann so die Bedeutung des Zwischenraums zeigen, das Gefäß der Zeit fühlen, von Unterschieden und Ähnlichkeiten berichten, Einzelheiten in einen größeren Zusammenhang stellen, die Imagination des Künstlers re-imaginieren, den Künstler auf neuen formalen Wegen begleiten, die erste Darstellungsebene einer künstlerischen Vision entdecken und hoffentlich auch tiefere Bedeutungsschichten beilegen. Das Ziel ist, den Betrachter zu verblüffen: Er hat das auf diese Weise noch nie gesehen, gerade wegen der Distanz zwischen den Objekten. Und ohnehin befindet sich ja jedes künstlerische Objekt auf Distanz zum Betrachter. In letzter Zeit muss ein intelligenter Kurator übrigens auch noch den Unterschied zeigen und erklären, der zwischen Kunstobjekten der Luxusindustrie herrscht und jenen Kunstobjekten, die wahre kulturelle Errungenschaften sind.
2. Was kann die Kunst?
Die Kunst, an der ich interessiert bin, entdeckt Formen und Ideen, an die ich noch nie gedacht habe, die ich nicht auf Anhieb oder gar nicht vollständig verstehe. In letzter Zeit interessiert mich vor allem die Kunst, die sich im sozialen und politischen Raum positioniert. Es ist Zeit, dass sich die Kunst neu definiert. Die Ethik ist ein Schlüsselwert für alle Kunstinstitutionen.
3. Und was nicht?
Die Kunst alleine kann nicht die schwache Verbindung zwischen Kunst und Politik überbrücken. Aber dennoch muss die Kunst ihren Glauben an eine starke, idealerweise politische Idee ausdrücken. Die Kunst kann nicht die Politik ersetzen, aber sie kann die Realität der Ereignisse stark machen, die sie zeigt und auf die sie sich einlässt. Ganz allgemein sind Künstler in einer viel besseren Position als andere Menschen, um den Wandel zu zeigen und von ihm zu sprechen, schon weil sie so sichtbar sind. »Shock and Awe« sind aber keine brauchbaren Werkzeuge mehr, das sind die Instrumente der alten Avantgarde. Der intelligente Künstler ist auf vollkommen neue Weise sozial.
4. Ein Museum, in das jeder gehen sollte.
In diesen Zeiten würde ich die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden empfehlen. Nicht nur wegen der prächtigen Architektur, der ausgestellten Schätze, der Schaukästen. Das alles ist alt und neu, groß und nicht ganz so groß, komplex und direkt, autonom und praktisch, privat und öffentlich. Tatsächlich ermöglichen nur große Kunstsammlungen solche Gegensätze. Und natürlich ist das Museum auch ein Gegensatz zu dem, was derzeit jeden Montag in Dresden geschieht. Das Museum ist auch ein Symbol der Andersartigkeit, des Ernstes, der Eigentümlichkeit, der Durchlässigkeit, der Beweglichkeit und des Unterschieds. Also ein Ort, an dem die Perversitäten von PEGIDA keinen Platz haben.
5. Schauen Sie manchmal im Museum nur aus dem Fenster?
Das Museum ist ein einzigartiger Ort. Es ist erlaubt, hier Menschen anzuschauen. Und diese Menschen schauen auf … Kunst. Deswegen ist das Museum der ideale Dating-Ort.
6. Wie sieht das Museum der Zukunft aus?
Das Museum der Zukunft wird ein Ort der Begegnung sein, wo die Menschen sich auf die Welt und auf sich selbst einlassen. Der Guardian hat neulich, zugegebenermaßen provokant, geschrieben: Eine Galerie ohne Bilder, warum nicht? Tony Bennett, der so brillant über die Geburt des Museums schrieb, hat formuliert: Gebt mir ein Museum und ich werde die Gesellschaft verändern. Durch die wohlüberlegte Manipulation der Beziehung zwischen Menschen und Dingen in einer maßgefertigten Umgebung ist das Museum in der Lage, neue Instanzen zu schaffen, die sowohl innerhalb als auch außerhalb des Museums mobilisiert werden können. Das ist auch die perfekte Zusammenfassung aller meiner Antworten, die ich weiter oben gegeben habe, aller meiner Hoffnungen und Wünsche.
Foto: Klaus Haag
Boris Groys
Die Wahrheit der Kunst
Versuch, die Welt zu verändern
Die wesentliche Frage, die sich uns zur Kunst stellt, lautet: Kann Kunst ein Medium der Wahrheit sein? Diese Frage ist wesentlich für die Existenz und das Überleben der Kunst. Denn wenn Kunst kein Medium der Wahrheit sein kann, dann ist sie nur eine Sache des Geschmacks. Die Wahrheit muss man akzeptieren, selbst wenn sie einem nicht gefällt. Doch wenn die Kunst nur eine Sache des Geschmacks ist, dann wird der Betrachter wichtiger als der Produzent. In diesem Fall kann die Kunst nur soziologisch oder unter Aspekten des Kunstmarkts betrachtet werden – sie hat keine Eigenständigkeit und keine Macht. Kunst wird gleichbedeutend mit Design.
Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie wir über Kunst als Medium der Wahrheit sprechen können. Lassen Sie mich eine dieser Möglichkeiten aufgreifen. Unsere Welt wird von großen Kollektiven dominiert: Staaten, politischen Parteien, Unternehmen, wissenschaftlichen Communitys etc. Innerhalb dieser Kollektive kann der Einzelne die Möglichkeiten und Einschränkungen seines eigenen Handelns nicht erfahren – sein Handeln wird von den Aktivitäten des Kollektivs absorbiert. Nun beruht unser Kunstbetrieb jedoch auf der Voraussetzung, dass ein individuelles Kunstwerk zu schaffen oder eine Kunstaktion umzusetzen der Verantwortung des einzelnen Künstlers obliegt. Deshalb ist die Kunst in der heutigen Welt der einzige anerkannte Bereich, in dem persönliche Verantwortung existiert. Der nicht anerkannte Bereich mit persönlicher Verantwortung, den es natürlich auch gibt, ist der der kriminellen Handlungen. Die Analogie zwischen Kunst und Verbrechen hat eine lange Geschichte, auf die ich hier nicht eingehen werde. Heute möchte ich lieber folgende Frage aufwerfen: Bis zu welchem Grad und auf welche Weise kann der Einzelne hoffen, die Welt, in der er lebt, zu verändern? Betrachten wir die Kunst nun als einen Bereich, in dem Künstler immer wieder versuchen, die Welt zu verändern, und sehen, wie diese Versuche funktionieren. Dabei interessiere ich mich hier weniger für die Resultate dieser Versuche als für die Strategien, zu denen die Künstler greifen, um sie umzusetzen.
Wenn die Künstler tatsächlich die Welt verändern wollen, stellt sich die folgende Frage: In welcher Weise vermag Kunst die Welt, in der wir leben, zu beeinflussen? Grundsätzlich sind zwei Antworten auf diese Frage möglich. Die erste Antwort: Kunst kann die Fantasie anregen und das Bewusstsein der Menschen verändern. Wenn das Bewusstsein der Menschen sich verändert – dann werden diese veränderten Menschen auch die Welt verändern, in der sie leben. In diesem Fall wird Kunst als eine Art Sprache verstanden, die es dem Künstler erlaubt, eine Botschaft zu verbreiten. Und diese Botschaft ist darauf angelegt, die Seelen der Empfänger zu erreichen und ihre Sensibilität, ihre Geisteshaltung und ihre moralischen Überzeugungen zu verändern. So gesehen handelt es sich um eine idealistische Kunstauffassung – vergleichbar mit unserem Verständnis von Religion und dem Einfluss, den sie auf die Welt hat.
Um eine Botschaft zu verbreiten, muss der Künstler jedoch dieselbe Sprache sprechen wie sein Publikum. Die Statuen in antiken Tempeln wurden als Verkörperungen der Götter angesehen: Sie wurden verehrt, man fiel demütig vor ihnen auf die Knie, um zu beten, man erwartete Hilfe von ihnen und fürchtete ihren Zorn und ihre Strafe. Gleichermaßen hat die Verehrung von Heiligenbildern eine lange Tradition im Christentum – selbst wenn Gott als unsichtbar gilt. Hier hat die gemeinsame Sprache ihre Wurzeln in den gemeinsamen religiösen Bräuchen. Doch kein moderner Künstler kann erwarten, dass sich jemand vor seinem Werk zum Beten niederkniet, praktische Hilfe von ihm erwartet oder sich seiner bedient, um Gefahr abzuwenden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts diagnostizierte Hegel diesen Verlust des gemeinsamen Glaubens in die Gestalt gewordenen, sichtbaren Gottheiten als den Grund dafür, dass die Kunst ihre Wahrheit verloren habe: Hegel zufolge gehörte die Wahrheit der Kunst nunmehr der Vergangenheit an. (Er spricht von dem bildhaften Denken der alten Religionen im Gegensatz zu unsichtbaren Kräften wie Gesetz, Vernunft und Wissenschaft, die die moderne Welt beherrschen.) Im Laufe der Neuzeit haben sich viele moderne und zeitgenössische Künstler vermittels eines wie auch immer gearteten politischen oder ideologischen Engagements bemüht, wieder zu einer gemeinsamen Sprache mit ihrem Publikum zu finden. So wurde die religiöse Gemeinschaft von einer politischen Bewegung ersetzt, an der sich sowohl die Künstler als auch ihr Publikum beteiligten.
Soll Kunst jedoch politische Wirkung haben und als politische Propaganda genutzt werden, muss sie dem Publikum gefallen. Doch eine Gemeinschaft, die auf der Grundlage entstanden ist, dass bestimmte künstlerische Projekte als gut empfunden werden und gefallen, ist nicht notwendigerweise eine transformative Gemeinschaft – eine Gemeinschaft, die die Welt tatsächlich verändern kann. Wir wissen, dass ein modernes Kunstwerk vom zeitgenössischen Publikum abgelehnt werden muss, wenn es als wirklich gut gelten soll (innovativ, radikal, zukunftsweisend) – andernfalls gerät es unter den Verdacht, konventionell, trivial und rein kommerziell zu sein. (Wir wissen, dass politisch progressive Bewegungen in Fragen der Kultur häufig konservativ waren – und letztendlich war es diese konservative Dimension, die sich durchsetzte.)
Deshalb misstrauen zeitgenössische Künstler dem Geschmack der Öffentlichkeit. Und das zeitgenössische Publikum misstraut seinem eigenen Geschmack ebenfalls. Wir glauben, die Tatsache, dass uns ein Kunstwerk gefällt, könnte bedeuten, dass dieses Kunstwerk nicht gut genug sei – und die Tatsache, dass uns ein Kunstwerk nicht gefällt, könnte bedeuten, dass es ein wirklich gutes Kunstwerk sei. Kasimir Malewitsch war der Überzeugung, dass der größte Feind des Künstlers die Aufrichtigkeit sei: Der Künstler sollte niemals etwas erschaffen, das ihm wirklich gefällt, denn es sei sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um etwas Triviales und künstlerisch Irrelevantes handele. Tatsächlich wollten die künstlerischen Avantgarden nie gefallen. Und – was noch wichtiger ist – sie wollten nicht »verstanden« werden, wollten nicht dieselbe Sprache wie ihr Publikum sprechen. Folglich waren die Avantgarden äußerst skeptisch, was die Möglichkeit betraf, die Seele der Öffentlichkeit zu beeinflussen und eine Gemeinschaft aufzubauen, an der sie teilhaben konnten.
An dieser Stelle kommt die zweite Möglichkeit, die Welt durch Kunst zu verändern, ins Spiel. Hier wird Kunst nicht als Produktion von Botschaften verstanden, sondern vielmehr als Produktion von Dingen. Selbst wenn der Künstler und sein Publikum nicht dieselbe Sprache sprechen, leben sie dennoch in derselben materiellen Welt. Als spezifische Form von Technologie hat Kunst nicht den Anspruch, die Seele des Betrachters zu verändern. Vielmehr verändert sie die Welt, in der dieser Betrachter tatsächlich lebt – und indem er sich an die neuen Bedingungen seiner Umwelt anzupassen versucht, verändern sich seine Sensibilität und seine Geisteshaltung. In marxistischen Begriffen ausgedrückt hieße das: Kunst kann als Teil des Überbaus oder als Teil der materiellen Basis betrachtet werden. Oder anders formuliert, Kunst kann als Ideologie oder als Technologie verstanden werden. Die radikalen künstlerischen Avantgarden verfolgten diesen zweiten, technologischen Weg der Weltveränderung. Sie versuchten neue Umfelder zu erschaffen, die die Menschen verändern würden, indem sie sie in diese neuen Umfelder versetzten. In seiner radikalsten Form wurde dieses Prinzip von den Avantgardebewegungen der 1920er-Jahre verfolgt: russischer Konstruktivismus, Bauhaus, De Stijl. Die Kunst der Avantgarde sollte nicht der bestehenden Öffentlichkeit gefallen. Die Avantgarde wollte ein neues Publikum für ihre Kunst erschaffen. Denn wenn man in eine neue visuelle Umgebung versetzt wird, beginnt man, seine eigene Sensibilität daran anzupassen, und mit der Zeit wird man Gefallen daran finden. (Der Eiffelturm ist ein gutes Beispiel dafür.) Demnach wollten die Künstler der Avantgarde ebenfalls eine Gemeinschaft aufbauen – doch sie sahen sich selbst nicht als Teil dieser Gemeinschaft. Sie teilten sich dieselbe Welt mit ihrem Publikum – aber nicht dieselbe Sprache.
Natürlich war die historische Avantgarde eine Reaktion auf d...