Peter Schneider
Revisiting end
Anatomie eines Irrwegs
»Was nützt das schönste Talent, wenn es sich nicht zum Sprecher derjenigen macht, deren Mangel an Talent dazu benützt wird, ihre elementarsten Bedürfnisse zu unterdrücken. In dem Maße, wie das Kapital sämtliche Fasern der Gesellschaft nach seinen Bedürfnissen durchformuliert, verliert die Phantasie in der Wirklichkeit ihren Existenzboden, findet keine Lücken mehr, in denen die Zukunft sichtbar würde, wird aus dem letzten Schlupfwinkel vertrieben und in den Untergrund gedrängt. Wenn aber die Phantasie aus der Gesellschaft so vollständig vertrieben ist, daß die Kunst zur Vertretung der Bürokratie im Reich der Einbildung wird, dann müssen die Wünsche und Phantasien ihre Form als Kunst sprengen und sich die politische Form suchen. Die Phantasie kann nur am Leben bleiben, wenn sie das Terrain in Wirklichkeit erobert, das ihr ja wirklich, nicht in der Einbildung, genommen wurde.«
Aus: Kursbuch 16, »Kulturrevolution. Dialektik der Befreiung«, 1969, S. 27
Ich glaube, es gibt keinen anderen Text von mir, der sich durch ein solches Nebeneinander von Hellsichtigkeit und haarsträubendem Unsinn, von Erkenntnis und Verstiegenheit auszeichnet. Auch wenn dieser ziemlich verrückte Artikel dann doch erstaunlich schwungvoll geschrieben ist.
Als ich ihn verfasste, war ich in einem Zustand, wie ich ihn in meinem Roman Lenz beschrieben habe. Ich hatte mich von der großen Liebe jener Jahre getrennt und wurde mit dieser Trennung nicht fertig. Ich hatte Berlin den Rücken gekehrt und war nach Italien gefahren, übrigens zum ersten Mal in meinem Leben. Leisten konnte ich mir die Reise nur, weil ich von Karl Markus Michel einen Vorschuss von 2000 D-Mark erhalten hatte, um den oben erwähnten Aufsatz zu schreiben. Ich wohnte zunächst in einer fantastisch billigen Pension in Rom in unmittelbarer Nähe zur Fontana di Trevi, für umgerechnet zwölf Mark pro Nacht. In Italien kannte ich damals niemanden außer dem Komponisten Hans Werner Henze, dem ich im SDS öfters begegnet war. Henze lebte in seiner Villa in Marino und hatte mich eingeladen, ihn zu besuchen. Bei Henze hatte damals Rudi Dutschke, der noch an den Folgen des Attentats litt, Unterschlupf gefunden. Er war noch ganz am Anfang seiner Rekonvaleszenz, hatte Wortfindungsschwierigkeiten und fragte mich, ob wir uns denn eigentlich kennen würden. Er ...
