Joachim Behnke
Wozu Wahlen?
Über Urteile und Fehlurteile, Fairness und Gerechtigkeit
Alle vier Jahre haben die deutschen Bürger die Gelegenheit, ihre Regierung mithilfe von Wahlen zu bestellen. Wir haben dabei einerseits die Möglichkeit, die neue beziehungsweise nächste Regierung zu wählen, und andererseits – wichtiger noch –, die alte Regierung abzuwählen, falls sie nicht mehr unseren Ansprüchen genügt. Dies geschieht üblicherweise auf spektakulär unblutige Weise, zumindest solange die abgewählte Regierung bereit ist, das Ergebnis der Wahl zu akzeptieren. Diese Abberufbarkeit der Regierung durch Vertrauensentzug seitens der Regierten mittels Wahlen stellt das Kernelement moderner, rechtsstaatlicher Demokratien dar. Wir lassen Regierungen »sterben« und nicht mehr Menschen, wenn wir eine Herrschaft durch eine andere ablösen lassen wollen.
Der Zweck von politischen Wahlen besteht in der Selektion bestimmter Personen zur Herrschaftsausübung. Doch diese Selektion kann mithilfe verschiedener Mechanismen vorgenommen werden, von denen Zufall, Erbfolge und Kooptation nur die bekanntesten »Konkurrenten« der Wahl sind. Die Vorzugwürdigkeit der Wahl gegenüber ihren Konkurrenzverfahren besteht in ihren spezifischen Eigenschaften, von denen die epistemische Funktion und die legitimationsstiftende wohl die wichtigsten sind. Darüber hinaus erfüllen Wahlen in hinreichendem Maße bestimmte einzuhaltende Nebenbedingungen von Fairness und Gerechtigkeit.
Wahlen als Entdeckungsinstrument der Wahrheit
Wahlen als Errungenschaft der modernen Zivilisation sind uns so selbstverständlich geworden, dass wir geneigt sind, Demokratie automatisch mit Wahlen und insbesondere dem dabei in der einen oder anderen Form geltenden Mehrheitsprinzip gleichzusetzen. In der Wiege der Demokratie, im antiken Griechenland, wurden die meisten Regierungs- und Verwaltungsämter jedoch keineswegs durch Wahlen bestellt, sondern durch Losverfahren. Dieses wurde als ganz und gar wesentlich für den demokratischen Charakter des Staates gesehen. Das Losverfahren gewährleistete eine weitverbreitete Partizipation, natürlich beschränkt auf die athenischen Bürger, und war ein effektives Bollwerk gegen die Herausbildung eines aristokratischen Klüngels von Herrschern, der sich womöglich in wenigen Familien konzentrierte. Auch in manchen italienischen Stadtstaaten der Renaissance wurde aus diesem Grund das Losverfahren als probates Mittel zur Auswahl der Regierenden angesehen.
Während bei den meisten administrativen Aufgaben davon ausgegangen wurde, dass sie von einem normal begabten Bürger hinreichend gut erfüllt werden konnten und somit von jedem, der durch das Los gezogen worden war, erforderten bestimmte Ämter spezifische Erfahrungen und Kenntnisse. Diese wurden durch Wahl vergeben. Zu diesen Ämtern zählten insbesondere hohe militärische Positionen sowie zum Beispiel Architekten beziehungsweise die Aufseher über öffentliche Bauten.
Wahlen können in diesem Sinne als Abstimmungen verstanden werden, in denen eine Entscheidung epistemischer Natur getroffen werden soll, in denen es also darum geht, die »wahre« oder »richtige« Entscheidung zu treffen. Den Prototyp einer solchen Abstimmung stellt die Entscheidung einer Jury dar, die zum Beispiel im strafrechtlichen Kontext über Schuld oder Unschuld eines Angeklagten zu entscheiden hat oder im Falle einer Preisverleihung über die Vergabe der Auszeichnung an denjenigen, der sie am meisten verdient hat. So wie wir im Strafrechtsverfahren vermeiden wollen, dass ein Unschuldiger zu Unrecht verurteilt oder ein Schuldiger fälschlich freigesprochen wird, wollen wir bei einer Preisverleihung, dass derjenige die Auszeichnung erhält, der sich ihr am würdigsten erweist. Die »beste« Eiskunstläuferin soll den Preis oder die Medaille erhalten, der »beste« Film den Oscar usw. Insofern sind epistemische Entscheidungen oft mit Aspekten von Gerechtigkeit verbunden, wenn ein Urteil über die Wahrheit eines bestimmten Sachverhalts nur dann den Betroffenen gerecht werden und damit gerecht sein kann, wenn dieses Urteil das richtige ist.
Im Falle epistemischer Entscheidungen gibt es eine objektiv vorhandene Qualität, über die eine Bewertung vorgenommen werden soll: Der Angeklagte ist schuldig oder eben nicht, eine der Eiskunstläuferinnen hat nach den relevanten Kriterien die beste Performance abgelegt usw. Doch auch wenn die Qualität objektiv vorhanden ist, so ist sie leider keineswegs objektiv feststellbar, das heißt, es existiert keine eindeutig definierte Messoperation, die dem zu bewertenden Sachverhalt den richtigen Wert direkt und unmittelbar zuordnet. Es verhält sich in diesen Fällen so, wie wenn wir die Körpergröße einer Person mit bloßem Auge schätzen müssten, da uns präzise Messinstrumente wie ein Meterstab oder Ähnliches nicht zur Verfügung stehen. In solchen Fällen sind die intuitiven Urteile der Gutachter beziehungsweise Jurymitglieder die bestmögliche Approximation an den Wert, den uns eine objektive Messvorrichtung liefern würde, wenn sie denn existieren würde. Diese Urteile sind aber der Natur der Sache gemäß mit einem mehr oder weniger großen »Messfehler« behaftet. Das grundsätzliche Dilemma epistemischer Entscheidungen besteht daher darin, dass selbst wenn der substanzielle Sachverhalt, über den zu entscheiden ist, zwar eindeutig wahr oder falsch ist, das Urteil über die Wahrheit dennoch nur mit mehr oder weniger Sicherheit getroffen werden kann, also probabilistischer Natur ist. Wir können letztlich niemals mit Sicherheit wissen, ob zum Beispiel der Angeklagte zu Recht für schuldig befunden worden ist, ob ihm also im Urteil Gerechtigkeit widerfahren ist. Wir können aber das Verfahren der Urteilsfindung so gestalten, dass ihm im Verfahren Gerechtigkeit im Sinne von Fairness widerfährt, indem ihm die bestmögliche Chance eingeräumt wird, nicht zu Unrecht verurteilt zu werden.
Theoretische Begründung einer epistemischen Auffassung von Wahlen und Folgen für das Verfahren
Die theoretische Begründung der epistemischen Auffassung von Abstimmungen und Wahlen lieferte im 18. Jahrhundert kurz vor der Revolution der Mathematiker Condorcet. Das nach ihm benannte Jury-Theorem beweist, dass die Mehrheitsentscheidung einer Gruppe von Abstimmenden mit zunehmender Wahrscheinlichkeit zur richtigen Entscheidung führt, je mehr Personen an der Abstimmung teilnehmen, solange vorausgesetzt werden kann, dass der einzelne Abstimmende die ric...
