Armin Nassehi
Eine Kritik des gesunden Menschenverstandes
Oder: Krankheit als Chance
Ach, wie einfach ist doch diese Aufgabe, eine Kritik des gesunden Menschenverstandes zu schreiben. Wie einfach ist es doch, der vox populi den Spiegel vorzuhalten. Wie schön lässt sich damit punkten, es besser zu wissen. Und ach, wie wohlfeil wäre das! Aber genau hingesehen, ist es vermintes Gelände, und es sich so einfach zu machen, wie es zunächst erscheint, würde manche Mine zur Detonation bringen– und zwar ganz praktisch. Ich würde einen ganz eigentümlichen gesunden Menschenverstand in Anspruch nehmen– und hätte die Aufgabe verfehlt, etwas über den gesunden Menschenverstand gesagt haben zu können. Das wird also nicht einfach.
Ohne Zweifel gibt es so etwas wie einen gesunden Menschenverstand, der uns in die Lage versetzt, das Richtige zu tun, ohne genau und explizit wissen zu müssen, was das Richtige ist. Das ist die eine Seite dessen, was man den gesunden Menschenverstand nennen kann. Andererseits aber weiß der gesunde Menschenverstand allzu genau, was das Richtige ist.
So bewegen wir uns im Alltag mit einer schlafwandlerischen Sicherheit, die sofort verfliegen würde, wenn wir genau wissen müssten, was die Bedingungen unseres Tuns und Erfolgs sind. Wir nehmen am Straßenverkehr teil und gehen davon aus, dass die anderen sich weitgehend an dieselben Regeln halten wie wir. Wir benutzen technische Apparaturen wie U-Bahnen, Züge, Flugzeuge usw. und vertrauen darauf, dass sich jemand darum gekümmert hat, dass sie funktionieren. Wir kommunizieren mit uns völlig Unbekannten und gehen davon aus, dass wir verstanden werden. Wir bringen Geld auf die Bank und vertrauen darauf, dass die Geldscheine, die wir auf unser eigenes Konto eingezahlt haben, auch wirklich noch uns gehören. Wir lassen uns von Anästhesisten sedieren und sind uns ziemlich sicher, dass der Chirurg mit dem scharfen Messer nur das mit uns tut, was er tun sollte. Umgekehrt vermeiden wir tunlichst, uns bei Dunkelheit in bestimmten Gegenden aufzuhalten, geben meistens nur so viel preis, dass wir eigene und fremde Schutzräume nicht verletzen. Es gibt Leute, die wir lieber nicht ansprechen. Wir tun also, was wir tun, zumeist im Zustand einer eher dumpfen, gewohnheitsmäßigen, habitualisierten Einstellung, über die wir weder uns selbst noch anderen explizit Auskunft geben müssen oder können, die aber leitend ist für unser Verhalten im sozialen Raum.
Praxis und bewährtes Wissen
Man kann das vielleicht den praktischen Sinn unseres Tuns nennen, der vor allem deshalb funktioniert, weil wir nicht genauer nachfragen. Es ist dies ein allgemein geteilter Menschenverstand, wenigstens ein unterstellter geteilter Menschenverstand, der uns eigentlich hochvoraussetzungsreiche und schwierige Dinge einfach und leicht erledigen lässt. Das Allgemeine dieses Verstandes betonend, heißt er auf Lateinisch sensus communis und auf Englisch common sense – also ein geteilter Sensus, in der Doppelbedeutung von Sinn und Sentiment. Warum das Allgemeine im Deutschen dann eher gesund genannt wird, darüber muss später noch verhandelt werden. Aber es geht in der ersten Bedeutung des gesunden Menschenverstandes ganz offensichtlich darum, dass wir genauer wissen, was richtig ist, als wir es eigentlich wissen – genauer: dass wir es wissen, ohne es vernünftig wissen zu müssen.
Einer meiner Lieblingssätze stammt von Thomas Paine. Er hatte in seinem Pamphlet Common Sense; Adressed to the Inhabitants of America von 1776 während der amerikanischen Revolution für die Unabhängigkeit von England, für die Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika und die Etablierung der Menschenrechte gestritten. Dabei geht es mir nicht um die naturrechtlichen und demokratietheoretischen Ideen von Paine, vielmehr sagt dieser wunderbare Satz etwas über das Verständnis Paines aus, wie sich Überzeugungen praktisch bilden und verändern. Der Satz lautet: »Time makes more converts than reason«.1 Als common sense, als gesunder Menschenverstand, so meint Paine wohl, setzt sich das durch, was sich praktisch bewährt, was sich wiederholt, woran wir uns gewöhnen, was keine Unterbrechungen erzeugt, woran leicht anzuschließen ist – und entscheidend: wofür wir keine expliziten Gründe brauchen. Gründe brauchen wir ja nur dafür, was sich nicht von selbst ergibt. Begründungspflichten entstehen nur dort, wo Unterbrechungen, Veränderungen, Nichthabitualisiertes verarbeitet werden muss, wo man gegen Widerstände, also andere mögliche Gründe vorgehen muss. Ohne Zweifel führt Paine viele Gründe für die Demokratie, für den Zusammenschluss der amerikanischen Staaten, gegen die britische Monarchie und für die Menschrechte ins Feld. Und dieser Gründe bedarf es auch, sie wurden sogar gelesen. Paines Pamphlet war ein grandioser Bestseller während der Revolution. Aber Paine wusste auch, dass es nicht Gründe sind, die Überzeugungen ändern, sondern die Gewöhnung in der Zeit. Time, nicht reason – das ist sehr klug gedacht und bringt wirklich grandios auf den Punkt, was den common sense ausmacht, der explizit kein common reason ist, kein explizit geteiltes Wissen, sondern eine Praxisform, die sich dadurch stabilisiert, dass wir gewissermaßen gründelos (nicht: grundlos) praktisch immer schon miteinander kooperieren. Das ist es, was die Ordnung der Welt ausmacht – ein sensus communis, der dadurch wirkt, dass er wirkt. Und: Man muss ihn weder eindeutig beschreiben noch eigens begründen können, um sich in ihm zurechtzufinden – womit im Übrigen nichts über die moralische Qualität jenes sensus gesagt ist. Genau genommen ist es eine Theorie des Mitläufertums – ein Ausdruck, den wir üblicherweise für Diktaturen und andere zweifelhafte Kollektivformen verwenden. Mitläufertum ist irgendwie schäbig, weil der Mitläufer nicht nachdenkt – und Mitläufertum ist auch eine Art moralische Entlastung, eben weil der Mitläufer nicht nachdenkt. Es gibt aber auch ein Mitläufertum in Demokratien, ein Mitläufertum des moralisch Integren (was immer das genau sei), ein Mitläufertum im richtigen Leben. Was wir sind, sind wir aufgrund der Zeitläufte, aufgrund der Gnade oder des Fluchs früherer oder später Geburten, aufgrund der anderen, die uns bestätigen, wie es geht, während wir es ihnen bestätigen. Man muss es nicht genau wissen, es sind tatsächlich die Zeitläufte – eben time, nicht reason.
In der zweiten Bedeutung weiß der gesunde Menschenverstand dagegen womöglich allzu Genaues. Irgendwie wusste der gesunde Menschenverstand, dass die Morde an den Opfern des »Nationalsozialistischen Untergrundes« von Türken oder Arabern verübt worden sein mussten – wer sonst sollte sich für sie interessieren. Der gesunde Menschenverstand wusste auch ziemlich genau, dass Thilo Sarrazin mit seinen Thesen über die Minderwertigkeit bestimmter Völker nicht ganz unrecht hatte. Er weiß auch immer, dass d...
