Colm Tóibín
Zwei Frauen
Eine Erzählung
Als der Taxifahrer nicht bemerkte, dass die Ampel umgesprungen war, und in einen stumpfen Traum versunken schien, fragte Frances sich, ob es wohl zu unhöflich wäre, ihn darauf hinzuweisen und ihm zu sagen, er solle fahren, sich in Bewegung setzen. Hinter ihnen war kein anderer Wagen, der ungeduldig gehupt hätte; um sechs Uhr morgens war Dublin grau und leer; es war die Stadt, an die sie sich erinnerte und die sie wiederzuerkennen begann, sobald sie die beinahe komisch kurze Schnellstraße hinter sich gelassen hatten und auf der Upper Drumcondra Road waren.
Sie war jetzt überrascht, wie schnell sie nach der Ankunft am Flughafen den Entschluss gefasst hatte, dass sie nie wieder hierherkommen und dies ihr letzter Besuch sein würde. Am Abend zuvor dagegen, am JFK Airport, hatte sie sich dabei ertappt, dass sie sich nach Irland gesehnt und beim Warten am Boardingschalter mit einer irischen Familie geplaudert hatte; der Gedanke, dass diese Menschen zu ihrem Volk gehörten und sie wieder mit ihnen vereint war, hatte sie mit Wärme erfüllt. Doch jetzt, als sie durch die Stadt zu ihrem Hotel gefahren wurde, kam sie sich vor, als bewegte sie sich auf feindlichem Gebiet – niedergedrückt, missgestimmt, finster. Solange sie zu solchen Stimmungsschwankungen fähig war, dachte sie, konnte sie noch nicht alt sein.
In der Hotellobby war es wichtig, energisch aufzutreten, ein Auge auf ihr Gepäck zu haben und das Kinn zu recken, als wäre sie im Begriff, eine schwierige Entscheidung zu treffen. Sie hatte das Zimmer schon für die Nacht zuvor reserviert, damit es bei ihrer Ankunft auch bestimmt bezugsfertig war, und daran erinnerte sie die junge Frau an der Rezeption, während diese auf die Tastatur des Computers einhämmerte und versuchte, die Reservierung zu finden.
Frances deutete auf das Blatt Papier, das auf der Theke lag. »Rossiter,
Frances«, sagte sie. »Der Nachname ist Rossiter. Sehen Sie unter R nach.«
Als die Frau aufsah, wusste Frances, wie einschüchternd sie wirken konnte, und sie gab sich keine Mühe, die harte Ungeduld zu verbergen, die alle, mit denen sie im Lauf der Jahre gearbeitet hatte, kannten.
Die Frau fand endlich die Reservierung und gab ihr eine Karte, die sie ausfüllen sollte, was sie rasch, beinahe flüchtig tat.
»Haben Sie Gepäck?«
»Ja, hier. Können Sie es bitte gleich raufbringen lassen?«
Die große Aktentasche mit ihren Plänen und Zeichnungen trug sie selbst. Sobald sie in ihrem Zimmer war, wusste sie, was nun kommen musste: eine kurze Dusche, um den Schmutzfilm des Nachtflugs abzuwaschen, frische Kleider auf dem Stuhl neben dem Bett und dann Dunkelheit, einfach daliegen und so tun, als wäre sie jung und die ganze Nacht aus gewesen und erst im Morgengrauen nach Hause gekommen. In fünf, sechs Stunden würde sie bereit sein für den neuen Tag und die erste Besprechung.
Um ein Uhr, als Gabi, die junge Frau, die ihre Assistentin sein würde, aus der Lobby anrief, war sie bereits angezogen und hatte eine Liste mit Punkten aufgestellt, über die sie würden sprechen müssen. Sie sagte Gabi, sie solle heraufkommen, nahm das Tablett mit dem halb gegessenen Essen vom Couchtisch und stellte es auf den Flur. Sie überprüfte ihr Aussehen im Spiegel. Gabi hatte höchstwahrscheinlich noch nie in ihrem Leben mit einer Frau zusammengearbeitet, die fast genau in der Mitte zwischen fünfundsiebzig und achtzig war. Sie war alt, und daher war es, wie sie fand, ihre Pflicht, intelligent und beschäftigt auszusehen.
Als Gabi ins Zimmer trat, kam es Frances so vor, als stammte die Szene, die sich entwickelte, direkt aus einem Drehbuch. Gabi war fasziniert von der Größe der Suite und der Aussicht über den Park und sagte ihr dann, wie sehr sie Frances’ Arbeit bewundere und wie viele Leute in Dublin sie beneideten, weil sie einer so berühmten Designerin als Assistentin zugeteilt worden sei.
»Ich bin keine Designerin«, sagte Frances. »Ich gestalte Filmsets. Und jetzt müssen wir uns konzentrieren, denn es gibt Probleme.«
»Ich wusste gar nicht, dass es so große Suiten gibt«, sagte Gabi. »Kriegen Sie immer eine Suite?«
»Ich mache mich immer gleich an die Arbeit, wenn ich jemand kennengelernt habe. Das ist das, was ich immer tue.«
»Ich weiß«, sagte Gabi. »Ich habe mich erkundigt.«
Der Regisseur wolle bestimmte Farben, könne aber während der Dreharbeiten leicht seine Meinung ändern, sagte sie zu Gabi. Einiges von dem, was ihm vorschwebte, würde nicht funktionieren, dessen war sie sicher. Sie musste Gabi jetzt vor allem klarmachen, wie schnell sie würden sein müssen, wenn der Regisseur Änderungen verlangte, und außerdem musste sie herausfinden, welche Schwierigkeiten das in einem Land bereiten würde, in dem Filme dieser Größenordnung und dieses Anspruchs nur selten gedreht wurden.
»Das meiste wird das Studio im Fundus haben«, sagte Gabi. »Es ist nicht schlecht.«
»Nicht schlecht ist so gut wie gar nichts. Wir werden hinfahren und es uns selbst ansehen, sobald ich mit ein paar Leuten gesprochen habe. Können Sie fahren?«
»Nein.«
»Das Studio hat bestimmt einen Fahrer. Er soll mich morgen früh um zehn abholen. Und rufen Sie die Leute vom Studio an und sagen Sie ihnen, dass ich komme. Ich werde den Mann, der da das Sagen hat – irgendwo hab ich seinen Namen –, für etwa zwei Stunden brauchen. Sie werden vor mir da sein. Und sagen sie denen: kein Empfangskomitee.«
»Einfach nur Arbeit?« Gabi lächelte beinahe spöttisch.
»Keinen Tee, zum Beispiel«, erwiderte sie. »Oder Kaffee oder sonst was.«
»Und Toilettenpausen?«
»Ich hasse Leute, die zur Toilette müssen«, sagte Frances. Sie lachten.
Am meisten Sorgen machte ihr die Pubszene, die der Regisseur wollte. Der Regisseur war einmal jung gewesen – sie lächelte bei dem Gedanken, als sie die mitgebrachten Zeichnungen ausbreitete –, doch jetzt war er es nicht mehr. Er war allerdings noch nicht alt genug, um zu wissen, dass ein echtes Pub, ganz gleich, wie altmodisch und voller Atmosphäre es war, kein bisschen mehr brachte als ein im Studio aufgebautes. Ein Set, das wusste sie, brauchte nur ein paar Requisiten, die etwas andeuteten; bei einem echten Pub dagegen musste man stundenlang Objekte entfernen, die zu viel andeuteten, und Farben übermalen, die für das bloße Auge verblasst wirkten, im Licht der Scheinwerfer aber zu grell waren.
Sie hatte sich nie mit einem Regisseur gestritten und würde es auch jetzt nicht tun. Sie würde zuhören, sich Notizen machen, gründlich nachdenken und so viel wie möglich im Vorfeld klären, und dann würde sie sich an die Arbeit machen, und wenn alles fertig war, würde sie beiseitetreten, damit die eigentliche Arbeit getan werden konnte. Wenn der Film abgedreht war, würden die meisten bereits beinahe vergessen haben, wer sie eigentlich war; auf dem Abschlussfest würde sie im Hintergrund bleiben, und bis dahin würde sie sich ein, zwei Freunde und drei, vier Feinde gemacht haben.
Abgesehen von ihrem Beruf interessierten sie nur noch ihr Haus und ihre Gedanken.
Städte interessierten sie nicht; selbst Dublin, wo sie aufgewachsen war, erschien ihr wie ein Miasma aus unzusammenhängenden Formen und Gestalten, die nichts mit ihr zu tun hatten. Sie würde an einem der letzten Tage, die sie hier verbrachte, nach Killiney fahren und ihre Nichte Betty besuchen, die inzwischen eine Frau in mittleren Jahren war, und vielleicht würde sie auch die Enkelkinder ihrer Nichte sehen. Und das würde schön sein, denn sie hatten genug Geld und keine große emotionale Bindung an sie und würden nichts von ihr wollen.
Jedenfalls hatte sie ihrer Nichte schon vor Jahren gesagt, was mit ihrem Geld und ihrem Haus in Los Angeles geschehen würde, wenn sie tot war. Betty hatte beinahe erleichtert gewirkt. Ihre Zustimmung hatte ehrlich geklungen.
Frances nannte sie inzwischen ihre Nachbarn, doch sie waren nicht die Nachbarn, sondern die Familie, die sich um sie kümmerte und in dem Häuschen in ihrem Garten lebte, das auf Frances’ Kosten mehrfach erweitert worden war.
Ito war ihr Fahrer gewesen, als sie für eines der Studios gearbeitet hatte. Seine Art hatte ihr gefallen, seine Fähigkeit zu schweigen und sich nie zu beklagen, wenn er Überstunden machen oder auf sie warten musste, aber auch seine Intelligenz, sein gutes Aussehen und seine Freundlichkeit. Ein paar Male, wenn er fand, dass sie sich ungesund ernährte, hatte er sie zu Restaurants gebracht, die er für gut hielt, aber nicht ein einziges Mal hatte er sie zum Abendessen, das seine Frau kochte, in die Wohnung eingeladen, in der er mit seiner Frau, seiner Mutter und seinen Töchtern wohnte. Das hatte sie zu schätzen gewusst. Sie wusste, dass er aus Guatemala stammte, aber darüber hinaus wusste sie von ihm und seinen Lebensumständen nichts. Sie fragte nie danach; oft fuhren sie stundenlang, ohne etwas zu sagen. Nicht ein einziges Mal stellte er ihr eine persönliche Frage, und auch das wusste sie zu schätzen.
Als der Mieter aus dem Gartenhaus auszog und sie wusste, dass sie bald in England arbeiten würde, bat sie Ito eines Abends, mitzukommen und sich das Haus anzusehen. Es verfügte nur über zwei Schlafzimmer, doch sie nahm an, dass es größer und besser ausgestattet war als die Wohnung, wo er und seine Familie lebten. Er ging durch die Zimmer, kam zurück ins Wohnzimmer, lächelte sie an und zuckte die Schultern.
»Schön«, sagte er.
»Ist es besser als Ihre jetzige Wohnung?«, fragte sie.
Er antwortete nicht, und sie nahm an, das sollte bedeuten, dass das Haus tatsächlich viel besser war.
»Sie können es umsonst haben«, sagte sie.
»Warum?«
»Weil ich jemanden brauche, der den Rasen mäht und den Zaun streicht und sich um die Blumen kümmert und dafür sorgt, dass nicht eingebrochen wird, wenn ich nicht da bin.«
»Sonst nichts?«
»Sonst nichts.«
Als sie feststellte, dass Itos Frau Rosario ebenso verschwiegen und unaufdringlich intelligent war wie ihr Mann, gab sie ihnen nach und nach mehr Arbeit. Sie waren Teilzeit-Haushilfe und Teilzeit-Fahrer, während Frances das Schulgeld für ihre Töchter zahlte und ihnen das Haus so angenehm wie möglich machte, indem sie zwei Räume anbauen ließ. Sie besorgte ihnen auch Papiere und übernahm schließlich die Kosten der Einbürgerung.
Sie hatte den Eindruck, dass es ihnen gefiel, wenn sie Partys veranstaltete oder Gäste hatte, die bei ihr übernachteten. Dann konnten sie sehen, wie sie war, wenn sie nicht arbeitete; sie bekamen einen Einblick in ihr wirkliches Leben, der ihnen sonst ebenso verwehrt war wie Frances der Einblick in Itos und Rosarios häusliches Leben. Im Lauf der Jahre erfuhr sie über die beiden nicht viel mehr, als sie bereits wusste, aber sie gewöhnte sich an diese taktvolle Freundschaft und fand, manchmal in den ungewöhnlichsten Situationen, Anzeichen dafür, dass sie ihr vertrauten und Zuneigung zu ihr empfanden, und vielleicht, dachte sie, während sie älter wurde, sorgten sie sich auch um sie.
Die Töchter waren inzwischen erwachsen, und an Sonntagen waren das Haus und der Garten erfüllt vom Lärm der Enkelkinder, und da dieser Lärm ihr gefiel und sie ganz und gar nicht störte, machte sie ihnen klar, dass der Garten bei diesen Gelegenheiten ihnen gehörte und sie nichts brauchen würde, und vermied es, eine Einladung zum Essen anzunehmen. Es war Itos und Rosarios Tag mit ihrer Familie, und Frances glaubte nicht, dass sie eine Außenstehende dabeihaben wollten, ganz gleich, wie lange man schon in unmittelbarer Nachbarschaft lebte. Auf jeden Fall hatte sie immer etwas zu tun, auch an heißen Sonntagen, auch zu Hause.
Wenn sie, wie jetzt, im Ausland arbeitete und dann nach Hause kam, waren der Kühlschrank gefüllt, die Betten frisch bezogen, die Kleider gewaschen und der Garten voller Blumen. Sofern Ito nicht im Auftrag des Studios unterwegs war, holte er sie am Flughafen ab. Jetzt, da sie mehr Geld verdiente, bezahlte sie ihnen auch mehr, und als sie ihr Testament machte, bat sie Ito und Rosario, sie zus...