Aschura
eBook - ePub

Aschura

Die Leichtigkeit der Körper

  1. 25 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Aschura

Die Leichtigkeit der Körper

Über dieses Buch

In der Erzählung "Aschura" aus dem Kursbuch 175 lässt Rainer Merkel seinen Ich-Erzähler an den schiitischen Passionsspielen teilnehmen. Auf dem Höhepunkt dieser verletzen sich einige Teilnehmer mit Schwertern und Langdolchen am Kopf. Vor diesem Anblick gedenkt der Erzähler seiner verstorbenen Großmutter.

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Information

Auflage
1
Rainer Merkel
Aschura
Die Leichtigkeit der Körper
1.
Vielleicht ist es Ausdruck einer Verunsicherung oder der einer Vorahnung, die mich an diesem Morgen, im Couvent de Terre Sainte, in einer fast klösterlich bescheidenen Kammer, um vier Uhr morgens erwachen lässt. Es ist dunkel, ein Gewitter erschüttert das ehemalige Kloster, in dem seit einigen Jahren keine Nonnen mehr leben. Ich bin hier abgestiegen, um mich auf eine der berühmtesten Festlichkeiten des Islam, der Aschura, vorzubereiten. In diesem Moment beschäftigen mich drei Fragen: Ist mein Reiseplan gut? Wie komme ich von Sidon nach Nabatiye? Wie werden meine neuen Schuhe auf das »Blutbad« reagieren, und vor allem, wie kann ich verhindern, dass das angekündigte Unwetter, das am Sonntagvormittag einsetzen soll, alle meine Pläne wieder zunichtemacht. Nabatiye? Ich fahre ohne Begleitung, ohne ortskundigen Führer, Helfer oder Fahrer. Eine Bekannte, die als Journalistin das Aschura-Fest schon ein paar Mal miterlebt hat, ruft mich am Abend vor meiner Abreise an und sagt ihre Teilnahme ab. »Es soll regnen«, erklärt sie, »und zwar richtig«, und dann höre ich sie am anderen Ende der Leitung kurz aufstöhnen. »Also Regen und Blut. Diese Kombination, das muss ich mir jetzt wirklich nicht antun.« Die ganze Reise, die ganze Vorbereitung erscheint im Nachhinein als ein Kraftakt, der notwendig gewesen ist.
Ich musste um vier aufwachen, dem Lärm des Donners und wenige Zeit später dem Gesang des Muezzins ausgesetzt. Ich musste anderthalb Stunden damit zubringen, den Konvent zu finden, der weniger ein Hotel als ein kleines in den Souks verstecktes Kloster ist, das von Katia, der im Bradt-Reiseführer gepriesenen Betreiberin, im Auftrag der katholischen Kirche geführt wird. Es ist eher ein Versteck als eine Herberge. Katia, im Reiseführer »the delightful manager« genannt, amüsiert sich darüber, dass ich mir noch am Vorabend die Haare habe schneiden lassen und mich also bereithalte, am nächsten Morgen auch einen »Cut« abzubekommen. Ihr Schwiegersohn fragt mich, während er auf meinen kurz geschorenen Kopf zeigt: »Du willst auch mitmachen?« Ich lausche auf das Gewitter. Ich frage mich, wie schlimm das Unwetter und der Regen wohl sein werden. Die Kräfte der Natur, auf die ich nicht vorbereitet bin. Ich denke an eine übermächtige Krankheit. Eine Krankheit von alttestamentarischer Wucht, so wie es in meiner Familie schon einige gegeben hat. Eine Krankheit, die hier natürlich erst mal nur in ihrer harmlosen Gestalt, in der Verkleidung einer einfachen Erkältung, einer kleinen Grippe auftritt, mir aber schon jetzt als eine vorweggenommene Kapitulationserklärung erscheint.
Es ist ein historisches Ereignis, das die Schiiten während der Aschura zu bewältigen versuchen, eine Erfahrung, die sie seitdem in einer Haltung der Schuld auf die Welt schauen lassen. Viele Sunniten und Christen wünschen sich insgeheim, die Schiiten würden auch heute noch in diesem Gefühl verharren und die Welt aus der Sicht des Schuldbeladenen anschauen. »Schaffst du schon«, sagt die junge Frau mit den schlechten Zähnen am Busbahnhof, kurz vor Mitternacht, als ich sie nach dem Bus nach Nabatiye frage. »Stell dich einfach hier hin, und dann kommen sie und holen dich ab.« Sie hat keinen einzigen gesunden Zahn, ihr Gebiss ist eine schaurige Ruine. Es stellt sich heraus, dass sie aus Deutschland kommt und nur für ein paar Wochen zu Besuch bei ihren Verwandten in Sidon ist. Der Anblick ihrer Zähne ist wie ein höhnischer Kommentar, ein hämisches Lachen ihrer ansonsten unbeeinträchtigten Gesundheit, der ganzen Kraft ihrer Jugend, die sie in dieser Nacht zu verschwenden versucht.
»Wenn ich hier bin, lass ich mich immer treiben«, sagt sie. »Weißt du … Irgendwo findet sich immer ein Unterschlupf.« Sie grinst mich an und dann schreibt sie sich mit einem BIC-Kugelschreiber die Telefonnummer des Konvents in die linke Handinnenfläche hinein. Von der Schlacht von Karbala und den Schuldgefühlen der Schiiten, die den Enkel des Propheten nicht vor seinem Untergang haben bewahren können, weiß sie nichts. Und ich bezweifle, dass sie sich überhaupt für solche Fragen interessiert, dass sie sich Gedanken macht über die Frage, ob man sich selbst Gewalt antun, sich selbst für etwas bestrafen und seinen eigenen Körper für etwas verantwortlich machen soll, was vor Hunderten von Jahren passiert ist. Wie süß und lustvoll diese eigentümliche Mischung aus kollektiver Freude und Schuldgefühlen sein kann, von der Hamid Dabashi in Shi’ism. A Religion of Protest erzählt, wissen wir nichts. Davon haben wir beide keine Ahnung. Denn auch ich werde trotz aller Bemühungen und Vorbereitungen davon nichts mitbekommen. Diese Seite des Aschura-Rituals wird mir verborgen bleiben.
2.
Nabatiye ist eine hässliche und graue Stadt. Der Bus lässt uns an einer Stelle raus, wo »die Zone« beginnt, auf die sich die Prozession beschränkt, von der jetzt aber noch nichts zu sehen ist. Ich bin froh, P. begegnet zu sein, der mit Kamera und Rucksack ausgestattet genau in dem Moment aus Beirut losgefahren ist, als ich in Sidon aufgewacht und zum Busbahnhof gegangen bin. Er ist auch das erste Mal hier und strahlt eine gewisse Gelassenheit aus. Er ist politischer Aktivist, der, wie er sagt, oft in Tripoli, im Norden des Libanon unterwegs ist und auch schon einen Schüleraustausch in Europa hinter sich hat. Seine Gastfamilie in Frankreich verweigerte ihm damals beinahe die Aufnahme, sie wollten keinen Araber und schon gar keinen Palästinenser. Wir sind fast die Einzigen in einem gottverlassenen Nabatiye. Es ist halb sieben. P. ist sich nicht ganz sicher, wann es genau losgehen wird. Blut und Regen. Das ist die Vision. Eine grauenvolle Orgie voller Gewalt, Märtyrertum, Grenzüberschreitungen und Schmerzen. Schreie, Schnittverletzungen, Weinende.
Wenig später fallen die ersten Bluttropfen auf den Boden. Die Selbstgeißlungen wie Brustschläge oder Kettenschläge sieht man hier kaum. Man fügt sich Schnitte zu. Der erste Junge wird gebracht. Er ist vielleicht sechs oder sieben, ganz in ein grelles frisches Weiß gehüllt, herbeigeschafft von seinem Vater und zwei, drei Freunden, die ihn begleiten. Die Luft ist noch frisch, noch kann man atmen. P. greift nach seiner Kamera, probiert ein paar Motive aus. Als der Junge gebracht wird, ist er weiter unten auf der Straße unterwegs. Ich habe mich auf dem Vorplatz vor der Moschee positioniert. Die Sonne scheint, es ist angenehm warm. Aus der Moschee ist der Klagegesang eines Geistlichen zu hören. Aber als der Junge abgesetzt und auf den Boden gestellt wird und als der freundlich lächelnde Mann nach seinem Messer greift und es aufklappt und die Rasierklinge auf den Scheitel des Jungen ansetzt, bin ich gar nicht irritiert, ich bin schon darauf vorbereitet, habe das Treiben auf dem Vorplatz schon eine Weile beobachtet.
»Es ist wirklich überraschend zu sehen«, schreibe ich in mein Notizbuch, »mit welcher Entschiedenheit, aber gleichzeitig doch wie zartfühlend dieser Schnitt erfolgt.« Es ist so, als würde man eine wertvolle oder noch unbekannte Frucht zu öffnen versuchen, über deren Inhalt man sich noch nicht im Klaren ist. Der Junge wehrt sich trotzdem. Sein Vater hält ihn fest. Es bedarf mehrerer solcher zarten Schläge und Schnitte. Der Kopf des Jungen ist nicht geschoren. Er hat dichtes, schwarzes Haar. Und so dauert es eine Weile, bis schließlich der erste Bluttropfen aus dem Kopf des Jungen auf die Erde fällt. Wir sind alle froh, der Vater, der Mann mit dem Messer. »Haydar, Haydar«, ruft der Vater, schlägt seinem Sohn immer wieder auf den Kopf und trägt ihn vom Vorplatz auf die Straße, wo er von seinen Freunden fotografiert wird.
Unten steht ein Franzose und filmt. Er ist Teil eines fünfköpfigen Teams, das hier alles dokumentiert. Die anderen vier Kameramänner, von denen er mir erzählt, tauchen aber nie auf. »Wir nehmen es aus mehreren Perspektiven auf«, sagt er. »Wir versuchen, es mit mehreren Augen zu sehen. Multiperspektivisch eben.« Das Blut des Jungen tropft zögernd, dann entschlossen und mit einer gewissen Leidenschaft auf den Steinboden vor der Moschee. Wir sind noch unter uns, es ist das erste Blut, das an diesem Morgen vergossen wird, jedenfalls an dieser Stelle. Die Bluttropfen erscheinen mir im Nachhinein wie wertvolle Geschenke, die der Vater niemandem als sich selbst gemacht hat, so glücklich und erleichtert, wie er ist, und immer wieder »Haydar, Haydar« ruft. Während der Junge kaum hörbar weint. Eigentlich ist es nicht weiter schlimm. »Kein Problem«, schreibe ich in mein Notizbuch. Etwas, auf das wir die ganze Zeit gewartet haben. Es ist ein Augenblick der Schönheit, der Zeugenschaft, wenn auch mit den Tränen des unentwegt heulenden Jungen erkauft. Ich wende mich von dem Jungen ab und gehe auf die Straße. Es ist mein Versuch, hier einzutauchen, Anteil zu nehmen und meinen Beobachterposten so gut, wie es geht, nicht zu verlassen. Ohne dass ich es merke, tropft ein Bluttropfen nach dem anderen auf den Boden, beugen sich die Köpfe vor und brechen die Kopfhäute auf. Ich mache einen Schritt nach links und weiche dem frischen Blut, das der Junge vergossen hat, aus.
3.
Es gibt Teilnehmer in allen verschiedenen Zuständen und Entwicklungsphasen. Mit ersten kaum sichtbaren Schnitten, aus denen langsam und träge Blut herausströmt, vorsichtig aus dichtem Haar sickert und Blasen werfend über geschorene Schädel strömt, über die Nase, in die Augenhöhlen hinein und über den Mund. Manche Teilnehmer tragen dunkelbraun verfärbte T-Shirts, die so aussehen, als hätten sie sie letztes Jahr auch schon getragen, mit dem Blut, das sie letztes Jahr auch schon vergossen haben. Andere schlagen sich rhythmisch auf den Kopf und warten. Es kommt kein Blut oder zu wenig. Dann geht man zurück zu einem der Männer auf dem Vorplatz, und der hebt erneut sein Messer und tippt einem auf den Kopf, um die Schnitte zu erneuern oder vielleicht zu verbreitern. Diese eigentlich entscheidende Prozedur, der Moment des Schneidens, ist aber relativ harmlos und unbedenklich. Nicht so schlimm. Schlimm ist eigentlich überhaupt gar nichts. Wenn man sich den Zusammenhang vor Augen führt. Ich sehe nur Blut. Blut, das aus Wunden fließt, die im ersten Moment gar nicht zu erkennen sind. Ich gehe von Teilnehmer zu Teilne...

Inhaltsverzeichnis

  1. Cover
  2. Verlag
  3. Rainer Merkel
  4. Aschura
  5. Über den Autor
  6. Impressum