Harald Lesch
Warum bin ich ein Mensch?
Nichtwissen in der Physik
Will man etwas verstehen, muss man sich mit äußerst einfachen Phänomenen beschäftigen. Physikerinnen und Physiker haben das begriffen. Und ihr Fach befasst sich mit derart einfachen und von äußeren Störungen weitgehend unbeeinflussten natürlichen Erscheinungen, dass man mit einer vernünftigen Perspektive auf Erfolg hoffen kann, sie mathematisch präzise zu beschreiben. Damit kann diese Wissenschaft in einem gewissen Ausmaß relevante Aussagen über Eigenschaften der natürlichen Welt machen, sogar über manche Aspekte der Zukunft. Beispiele hierfür sind Vorhersagen über das Eintreten von Sonnen- und Mondfinsternissen, das Auftauchen von periodischen Kometen, die Planetenstellungen, den Gefrierpunkt von Wasser, den Zerfall instabiler Atomkerne bis hin zur Explosion einer Wasserstoffbombe. Der Physik gelingt in überzeugender Weise die mathematisch präzise Beschreibung bestimmter Prozesse in der Natur. In der Tat hat die Beschränkung auf die reinen natürlichen Phänomene nicht nur unsere Erkenntnisse und unser Bild von der Welt entscheidend geprägt, sondern wir haben mit der technischen Umsetzung physikalischer Grundlagenforschung unsere Welt tief greifend verändert. Die gesamte moderne Technologie, ihre elektromagnetischen und digitalen Gerätschaften, die Verwendung von mechanischen und elektrischen Maschinen, Motoren, Kraftwerken, Kommunikationstechnologien, Intensivlichtquellen wie Laser oder Computer, alles fußt auf den Kenntnissen der Physik. Wir leben im Zeitalter der Physik – im Physikum. Kurzum, die Moderne, die Postmoderne und die Postpostmoderne wären ohne die Erkenntnisse über den Aufbau der Materie, den Zusammenhang von Energie, Licht und Materie nicht denkbar. Selbst die schärfsten Kritiker, die radikalsten Konstruktivisten, die auch die Physik nur für ein Sprachspiel unter vielen Sprachspielen halten, selbst die müssen schlicht zur Kenntnis nehmen, dass die Physik die erfolgreichste empirische Wissenschaft ist, die die Menschheit je entwickelt hat. Man kann sie verfluchen, ablehnen, ignorieren, belächeln, aber man kommt nicht um sie herum, will man sich nicht völlig der Welt versagen. Die Methoden und Erkenntnisse der Physik sind von grundsätzlicher Bedeutung für unser Bild von der Natur und den Umgang mit ihr und den Chancen und Risiken der technischen Entwicklungen. Deshalb ist es durchaus interessant zu fragen, was sie eigentlich nicht weiß, beziehungsweise nicht wissen kann.
Sammeln, was da ist
Nun, ganz offensichtlich kann sie nicht die Welt erklären! Die Physik sammelt, was da ist, macht also Inventur der Natur. Sie blickt dank kilometerlanger Teilchenbeschleuniger tief in die allerkleinsten Strukturen der Materie. Mit der kürzlichen Entdeckung des sogenannten Higgs-Teilchens hat die moderne Physik das vor über 2500 Jahren begonnene Projekt der griechischen Naturphilosophen zu einem vorläufigen Höhepunkt gebracht. Angefangen vom Atom über den Begriff des Atomkerns, seiner Bestandteile und deren Bestandteile und anderer Elementarteilchen, kennt man jetzt die Ursache für die Masse einiger Bausteine der Materie. Aber niemand kennt die Ursache dieser Ursache. Dort unten, bei den kleinsten räumlichen Ausdehnungen und zugleich den höchsten Energien, die wir auf der Erde freisetzen können, löst die Materie sich in Energie auf. Warum? Weiß niemand.
Mit gewaltigen Teleskopen, deren Spiegeldurchmesser inzwischen mehr als zehn Meter groß sind, blickt die Astrophysik ins Universum. Sie entdeckt die Bildung der Sterne und Galaxien in Milliarden Lichtjahren Entfernung. Sie fördert zutage, woher die chemischen Elemente kommen und wie sie in den Galaxien verteilt werden....
