Karsten Fischer
Überwachen und steuern
Was der Staat nicht wissen darf und auch nicht wissen wollen sollte
Wie alt das Interesse der Regierenden an Informationen über die Regierten ist, könnte jedes Jahr zur Weihnachtszeit erneut deutlich werden, hören wir dann doch stets, dass seinerzeit »ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde« (Lukas 2,1; Luther-Übersetzung), und die Einheitsübersetzung der Bibel erlaubt sich, diesen Zensus des römischen Imperiums als Eintragung in »Steuerlisten« fiskalisch zu konkretisieren. Ohne solch heilsgeschichtliche Konsequenzen finden sich solche Maßnahmen mit unterschiedlichen herrschaftstechnischen Motiven bereits zuvor und seither in unregelmäßiger Vielzahl. Doch erst in der Moderne, also an der Schwelle zum 18. Jahrhundert, begannen die seit dem Westfälischen Frieden von 1648 sukzessive ausdifferenzierten Territorialstaaten, Informationen über ihre Bürger regelmäßig und systematisch zu erheben und zu einem institutionalisierten System der Überwachung im wörtlichen Sinn zu nutzen. Denn nun war laut Michel Foucaults Geschichte der Gouvernementalität die Bevölkerung als politischer Faktor zutage getreten, zu dessen Regierung durch einen vor- und zunehmend auch versorgenden Staat bestimmte Wissensformen und -techniken dienten, unter denen der Statistik eine besondere Bedeutung zukam. Im Sinne einer wechselseitigen Konstitution von Subjekt und Objekt wurde damit der vormals abstrakt verstandene Staat als objektivierte Gesamtheit sozialer Beziehungen erfahren, die sich institutionell verfestigt hatten und solchermaßen für die Individuen adressierbar wurden, während umgekehrt die Wahrnehmung und Behandlung dieser Individuen seitens des Staates durch »Zusammenfassungen, Codierungen, Totalisierungen, Berechnungen und Konstruktionen von Tabellen und grafischen Darstellungen«1 gekennzeichnet war. Auf diese Weise wurde das in Modernisierungsprozessen spärliche Institutionenvertrauen vermittelt, weil auch und gerade für die Bürger das staatliche Handeln im doppeldeutigen Sinne berechenbar war oder zumindest schien. Und zumal innerhalb des in den USA entwickelten, pluralistischen Arrangements sozialer Ambitionen wurden Statistiken zu allseits verfügbaren und einsetzbaren Argumenten, die es den Individuen erlaubten, ihre Interessen auch gegenüber staatlichen Institutionen und Gemeinwohlprätentionen zu reklamieren.
Allein dies zeigt die Ungenauigkeit des verbreiteten Versuchs, unsere zeitgenössische Problematik digitaler Überwachung auf der Basis von Big Data unter unmittelbarem Rückgriff auf Foucaults Buch Überwachen und Strafen zu interpretieren und damit einseitig die repressive Seite jeglicher Überwachungspraktiken zu insinuieren. Ganz im Gegenteil war es Foucault schließlich darum gegangen, den sich im 18. Jahrhundert vollziehenden, sukzessiven Übergang vom Strafen zum Überwachen als einen wesentlichen Wandel der sozialen Praktiken darzustellen, dessen Pointe darin besteht, dass sich sowohl die Zwecke als auch die Mittel geändert haben, ohne dass hieraus geschlossen werden dürfte, Überwachung sei ein bloß residualer und illegitimer Bestandteil liberaler Gouvernementalität. Stattdessen handelt es sich laut Foucault um eine veränderte »politische Ökonomie des Körpers«. So bildete der Verurteilte in den frühneuzeitlichen Strafpraktiken als der »düstersten Region des Politischen« die »Gegengestalt des Königs«. An diesem Anti-Körper sollte »allen die entfesselte Gegenwart des Souveräns spürbar gemacht werden«, und also lag dieser »Politik des Schreckens« nicht etwa an einer Wiederherstellung des Status quo oder anderen Zielen, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip oder gar das Übermaßverbot hätten fordern oder auch nur nahelegen können. Vielmehr ging es gerade darum, »die Asymmetrie zwischen dem Subjekt, welches das Gesetz zu verletzen gewagt hat, und dem allmächtigen Souverän, der das Gesetz zur Geltung bringt, bis zum Äußersten« auszuspielen. Insofern hatte die Marter in der Frühen Neuzeit »eine rechtlich-politische Funktion« als »Zeremoniell zur Wiederherstellung der für einen Augenblick verletzten Souveränität«, die seinerzeit noch keine außerhalb ihrer selbst liegende und sie mithin begrenzende Zielbestimmung kannte.2
An der Schwelle zur Moderne ändert sich dies, und anstelle des Körpers wird nun, laut Foucault, die Seele »Effekt und Instrument einer politischen Anatomie«. In diesem »Zeitalter der Strafnüchternheit« kommt es zum Übergang »von der Leibesmarter zur Zeitplanung, von der Züchtigung des Körpers zur Kontrolle der Seele«, verbunden mit zunehmender Szientifizierung und Anonymisierung, wie sie in der Erfindung des berühmten Panopticon als einer »Perfektion der Macht«, die ihre tatsächliche Ausübung zu erübrigen vermag, gipfelt: Weil alle Gefangenenzellen vom zentrierten Wachturm aus einsehbar sind, nicht aber umgekehrt die Besetzung des Wachturms von den Zellen aus, bedarf es keiner Wächter mehr, um aus der Strafandrohung für Fehlverhalten eine Quelle der Selbstkontrolle aller Inhaftierten zu machen.3
Von den symbolischen Machtbeweisen durch grausame, physische Vernichtung führte demnach der Weg zu einem Kontrollnetz von Verhaltensvorschriften, mit dem die Individuen nicht mehr ausgeschaltet, sondern resozialisiert werden sollen, und eine entsprechende Geschichte erzählt Foucault für den Bereich der Medizin, in dem die Bekämpfung der Lepra und die Eindämmung der Pest nicht derselben politischen Logik folgten. Vielmehr wurde im einen Fall die Gemeinsch...
