Kalt und flach

Erzählung

Volker Harry Altwasser

• Verlag: Matthes & Seitz Berlin Verlag
• Jahr: 2014
• eBook-ISBN: 9783957570635
• Auflage: 1
• Thema: Letteratura
• Thema: Letteratura generale

Volker Harry Altwasser schreibt über Volker Harry Altwasser: Der Autor des Romans Letzte Haut soll in einer Berufsschule sein Buch über den NS-Korruptionsjäger Schmelz vorstellen und sitzt dort plötzlich einer Horde junger Neo-Nazis gegenüber. In dieser aufrührenden und extrem verdichteten Erzählung verhandelt Altwasser wie nebenbei ein großes Thema: Wie schafft man es, einer Generation, die nichts mehr von den Verbrechen ihrer Großväter wissen will, sogar beginnt, diese zu feiern, die Wahrheit nahe zu bringen? Durch drastische Beispiele, denn: Die Wahrheit ist konkret.

Kalt und flach. Erzählung

»Wahrheit«, sagte der Schriftsteller, den die Berufsschullehrerin eingeladen hatte, sei ein Gefühl. Er schloss die Tür, nickte den angehenden Baufacharbeitern zu, ging zur Tafel, stellte die Tasche auf den Tisch und musterte die Auszubildenden. Man könne einzig mit dem Herzen entscheiden, meinte er: »ob etwas wahr ist oder nicht.«

Usedom war für seine Kaiserbäder berühmt, Wolgast, das Tor zur Insel hingegen kannte kaum jemand. Viele Einheimische arbeiteten auf der Werft, die einem Dänen gehörte, oder in den unzähligen Hotels am Ostseestrand, die immer ausgebucht waren. Was mochten sie sich abends von den Urlaubern aus den unterschiedlichsten Ländern erzählen? Im Schutz der heimischen Küche? Was mochten sie weglassen? Der Schriftsteller Volker Altwasser musterte deren Söhne, die sich die Haare abgeschnitten hatten, die Kleidung trugen, die einer Uniform glich, die mit heruntergezogenen Mundwinkeln vor ihm saßen und ihn mit schmalen Augen anstarrten. Waren sie die Quintessenz ihrer Eltern?

Altwasser war ein kleiner, schmaler Mann mit einem vernarbten Gesicht, das er hinter einem Vollbart und einer großen Brille mit runden, breitrandigen Gläsern versteckte. Er kannte diese schmalen Augen schon, sie erwarteten ihn überall, seit er diesen historischen Roman veröffentlicht hatte, der sie in den Grundfesten erschütterte.

Er dachte an das Gespräch, das er gestern Abend mit seinem Kollegen geführt hatte. Altwasser sah dessen ernstes und bittendes Gesicht vor sich, während er um den Tisch herumging, die zittrigen Hände mit den Altersflecken im Blick. Er hörte die wenigen Sätze des Alten, die ihn sich straffen ließen, öffnete den obersten Hemdknopf und setzte sich den Teenagern frontal gegenüber. Viele von ihnen kamen aus den umliegenden Dörfern, nur wenige aus der Stadt selbst, Altwasser hatte sich die Liste schicken lassen. Sie hatten die Grund- oder Realschule erfolgreich absolviert und machten eine außerbetriebliche Lehre zum Maurer. Wie öde es doch war, Mauern nach Schnur herzustellen und sie dann wieder abzureißen, Tag für Tag, der Schriftsteller kannte dieses Gefühl gut. Nicht jeden Satz konnte man vorher planen, um ihn stehenzulassen, und wenn es ganz dumm kam, musste man sogar den ganzen Absatz abreißen. Wegen dieser einen verdammten Nachlässigkeit. Er zog die Mundwinkel leicht nach oben.

»Was gibt’s da zu glotzen?«

Auch das kannte er schon: »Nichts.«

»Was? Bin ich nichts, oder was?«

Der rotblonde Junge stand auf, kam aus der ersten Reihe auf den Schriftsteller zu und baute sich vor ihm auf. Die Berufsschullehrerin forderte, er solle sich setzen, si...

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