Welt mit Zukunft
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Welt mit Zukunft

Die ökosoziale Perspektive

  1. 400 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Welt mit Zukunft

Die ökosoziale Perspektive

Über dieses Buch

Der Mensch ist ein Erfolgsmodell. Seit dem Abwandern der ersten Hominiden aus Afrika hat er sich als "Superorganismus" über den ganzen Globus ausgebreitet. Damit stößt er heute beinahe überall an seine Grenzen. Die Weltfinanzmarktkrise ist ein Beispiel dafür, was noch alles kommen kann. Die Autoren sehen einen fundamentalen Wandel voraus und plädieren daher für ein zukunftsfähiges Programm: eine erweiterte ökosoziale Marktwirtschaft und einen Global Marshall Plan - ökosozial statt marktradikal.

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1. Superorganismus Menschheit

Bevölkerungswachstum – ein Programm läuft aus

Auf einem See teilen sich Nacht für Nacht die Seerosen, sie verdoppeln jede Nacht ihre Zahl und bedecken zunehmend die Wasseroberfläche. Irgendwann wird der See voller Seerosen sein. Zehn Nächte vor diesem Zeitpunkt sind von ferne nur einige versprengte Blüten zu sehen, nur ein Tausendstel des Sees ist bedeckt. Fünf Nächte vorher sind es etwa 3 Prozent der Oberfläche, noch immer fallen sie kaum auf. Plötzlich wächst der See rasend schnell zu. Zwei Nächte vorher sind bereits 25 Prozent der Wasserfläche bedeckt. Ob es nun zehn Tage oder zehn Jahre dauert, bis die Oberfläche des Sees vollständig mit Seerosen gefüllt ist – wesentlich für das Phänomen des exponentiellen Wachstums ist die Tatsache, dass die zweite Hälfte des Sees erst in der letzten Nacht bedeckt wird. In exponentiellen Prozessen geschieht das Entscheidende zum Schluss.
Dieses Muster liegt auch unserer Bevölkerungsentwicklung zugrunde. Eine Million Jahre entsprechen etwa 50.000 Generationen. Seit Christi Geburt sind erst 100 bis 150 Generationen vergangen. Bei einem Zeitraum von vier Millionen Jahren reden wir vielleicht über 150.000 Generationen. Diese vier Millionen Jahre hat die Menschheit gebraucht, um die Schwelle zur ersten Bevölkerungsmilliarde zu durchbrechen, etwa zu dem Zeitpunkt[10], als Goethe starb, im Jahr 1832. Rund 130 Jahre später, 1965, waren wir schon drei Milliarden Menschen und nur 35 Jahre später, im Jahr 2000, bereits sechs Milliarden. Die Geschwindigkeit des Zuwachses nahm beständig zu, erst seit kurzem geht sie leicht zurück. Über Jahrhunderte und Jahrtausende war Bevölkerungswachstum immer die richtige Politik: mehr Menschen, mehr Leistung, mehr Konsum, mehr Lebenschancen. Wachstum bedeutet Macht, Entfaltung, Reichtum. In der Folge füllt die Menschheit aber auch zunehmend den Globus aus.
Das Charakteristikum exponentieller Wachstumsprozesse ist, dass sie Größenordnungen überwinden. Der Mensch beginnt als winzige befruchtete Eizelle, die nur unter dem Mikroskop zu sehen ist. Bis er geboren wird, aufwächst und voll entwickelt ist, müssen Größenordnungsunterschiede von bis zu zehn Milliarden (1010) überwunden werden. Nur explosive Wachstumsprozesse sind dazu in der Lage. Ein exponentielles Wachstum in endlichen Biotopen hat aber prinzipiell Grenzen; und Systeme, die weiterleben wollen, müssen diese Grenzen beachten. Permanentes exponentielles Wachstum ist für keine Art, egal ob Pflanzen, Tiere oder Menschen, auf der Erde möglich.
Heute sind die Vorzeichen des Neuen bereits unübersehbar. Innerhalb der menschlichen Bevölkerung zeichnet sich ab, dass sie nicht immer weiter wächst, sondern vielleicht sogar einmal zurückgehen wird. Diesen Prozess erleben wir heute schon in den industrialisierten Ländern, teils mit spürbarem und von vielen Beobachtern als zu schnell empfundenem Tempo. Die Gesamtzahl der Menschen auf diesem Planeten wächst unterdessen noch weiter, doch auch dies wird sich schon bald ändern.
Wir sind bereits mitten in einer historischen Entwicklung, in der die Menschheit einen Phasenübergang in ihrer Evolution erlebt, das Grundmuster des Bevölkerungswachstums sich ändert und, einer inneren Logik folgend, ändern muss. Damit fände eine Erfolgsgeschichte sondergleichen ihren Abschluss, und vieles würde anders werden. Wir haben das Privileg, Zeuge eines spannenden Übergangs zu sein, der nicht ohne Gefahren ist. Wie wir ihn bewältigen werden und was danach kommt – niemand weiß es.
Ein Leser, der im Jahr 1950 geboren wurde, war Zeuge einer gewaltigen Zunahme der Bevölkerung: von 2,5 Milliarden Menschen auf heute rund sieben Milliarden. Gleichzeitig hat er in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Steigerung der Weltwirtschaft um das Siebenfache[11] erlebt. Nach den beiden Weltkriegen folgten drei Jahrzehnte, die Historiker das Goldene Zeitalter nennen. In Europa, Nordamerika und in Japan erfuhren breite Bevölkerungsschichten einen Wohlstand, der zu Zeiten ihrer Großeltern nur Millionären vorbehalten war, mit Telefon, eigener Waschmaschine und Auto. Wer 1950 geboren wurde, hat eine Steigerung des globalen Wasserverbrauchs um das Dreifache, des Kohlendioxidausstoßes um das Vierfache und der Anlandung von Fisch um das Fünffache erlebt. Demgegenüber hat die ökologische Kapazität der Erde, also die Basis für die Erzeugung dieses Wohlstands, sogar etwas abgenommen. Und würden alle Menschen auf dem Konsumniveau eines Europäers oder Amerikaners leben, bräuchten wir mittlerweile drei oder sogar fünf Planeten.
Werden unsere Kinder, die im Jahr 2000 geboren wurden, bis 2050 ein ähnliches Wachstum erleben? Zunächst wird die Weltbevölkerung weiter auf neun bis zehn Milliarden Menschen zunehmen. Ungefähr in der Mitte des 21. Jahrhunderts dürfte ihre Größe hoffentlich den Höhepunkt erreichen. Allein in China und Indien werden jeweils etwa 1,5 Milliarden Menschen leben. Zusammengenommen entspricht das der Anzahl der Weltbevölkerung von 1965.
Wächst auch die Wirtschaft weiter? Selbstverständlich führt eine steigende Anzahl der Menschen fast automatisch zu einem absoluten Wachstum der Wirtschaftsleistung. Und dann hat die Aufholjagd bevölkerungsreicher Schwellenländer wie China, Indien, Brasilien oder Indonesien und damit das Wachstum der Wirtschaftsleistung pro Kopf in diesen Ländern erst richtig begonnen. Die Ressourcenknappheiten zeichnen sich parallel dazu allerdings schon heute deutlich ab. Die weltweiten Fischgründe sind am Limit. Die ertragreichen Böden werden weniger beziehungsweise verlieren an Qualität, und die Grundwasserspiegel fallen auf allen Kontinenten. Für Nahrungsmittel braucht man Wasser: die überraschend große Menge von 1000 Litern, um ein Kilogramm Brot zu erzeugen, 4000 Liter für ein Kilogramm Reis und 13.000 Liter für ein Kilogramm Rindfleisch. Wasser wird immer knapper und kostbarer.[12]
Der Förderhöhepunkt von konventionellem Öl ist nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) in Paris bereits erreicht[13], ob nichtkonventionelles Öl, zum Beispiel aus Ölsanden, die Lücke schließen kann, ist zweifelhaft. In absehbarer Zeit wird die Nachfrage das Angebot gewaltig übersteigen. Die Ära der billigen Energie auf Basis fossiler Rohstoffe geht unweigerlich zu Ende. Auch die Klimaveränderung schreitet zügig voran.[14] Nicht nur unsere Kinder werden die daraus sich ergebenden Folgen erleben, sondern wohl die allermeisten, die dieses Buch lesen. Gemeinsam werden wir damit fertig werden müssen.
Der Höhepunkt dieser Entwicklung ist noch nicht erreicht, aber er ist in Sicht. Um das Jahr 2030 herum würden wir unter Beibehaltung der alten Wachstumsmuster alle Grenzen sprengen. Weil das nicht geht, ändern sich jetzt bereits die Entwicklungsmuster. Das ist naturgesetzlich unvermeidbar! Prozesse, die einmal Millionen Jahre gedauert haben, durchlaufen wir nun in ein oder zwei Generationen. Was wir gerade durchleben, geschieht in bisher unvorstellbar kurzen Zeiträumen. Die Eigenzeit des Systems Menschheit schrumpft zusammen, und die Dichte der Ereignisse steigt. Unterdessen nimmt die allgemeine Geschwindigkeit – der Entstehung neuer Ideen, der Verbreitung von Ideen, des Warenaustauschs, der Innovationen und unseres Alltags – weiter zu.
Der historische Übergang, den wir derzeit durchleben, und die aktuellen Schwierigkeiten, denen wir ausgesetzt sind, haben wesentlich etwas mit Grenzen zu tun. In der Sichtweise des Club of Rome sind es die durch die Ressourcenknappheit vorgegebenen Begrenzungen, die durch die Aufholprozesse von Schwellenländern im Rahmen der Globalisierung erheblich verschärft werden.[15] Andererseits macht uns ein zu hohes Tempo der sozialen und kulturellen Veränderung, die wir in kürzester Zeit bewältigen müssen, zu schaffen. Früher wurde das Neue immer von den Kindern und Enkeln akzeptiert und durchgesetzt, die Eltern durften bleiben, wie sie waren. Heute dagegen sind wir gezwungen, lebenslang zu lernen und uns immer wieder und immer schneller anzupassen. Und das bei erheblichen Unterschieden in den Erfahrungen und vor allem kulturellen Perspektiven, die nun gnadenlos und brutal aufeinandertreffen, ohne dass große Distanzen oder Anpassungszeiträume dazwischen lägen und dämpfend wirken könnten. Vor allem im kulturellen Bereich scheinen die Spannungen geradezu zu explodieren. Warum? Das Neue verdrängt das Alte, was früher galt, das gilt nicht mehr, Erfahrung wird entwertet, ja teilweise zum Hemmschuh, zum Problem.
Ein Beispiel: Kinder lieben ihre Großmutter. Wenn die Großmutter etwas erzählt, das für ihr Leben wichtig war, bewahren ihre Enkel dies tief im Herzen. Wenn nun aber die Werte der Großmutter zerstört werden, wenn sie die Welt nicht mehr versteht, dann ist dies auch für die Kinder und Enkel nur schwer zu bewältigen. Das Neue kann emotional sehr wehtun, wenn es das Alte entwertet, lächerlich macht oder gleich beseitigt.
Ein Problem der Globalisierung heutigen Typs ist, dass sich die dominanten Kulturen sehr rasch verbreiten und Menschen mit anderem Hintergrund tiefgreifende Veränderungen aufzwingen. Aus der Perspektive der bedrängten Kultur stellt sich das wie eine Vergewaltigung dar und ist vollkommen inakzeptabel. Stellen wir uns eine Frau vor, die ihr ganzes Leben lang in der Öffentlichkeit verschleiert war, das für sich akzeptiert und unermüdlich daran gearbeitet hat, dies auch ihren Töchtern zu vermitteln. Was läuft in ihr ab, wenn sie im Fernsehen Bilder westlich gekleideter oder fast nackter Frauen sieht und ihr vermittelt wird, sie habe bisher alles falsch gemacht, solle sich auf das Neue freuen und es als Fortschritt begreifen? Manche werden sich umstellen, andere nicht. Konflikte untereinander und mit der Tradition, die am Althergebrachten festhält, es verteidigt und Andersdenkende als Überläufer behandelt, sind unvermeidlich die Folge.

Chaotische Zustände?

Zukunft hat Herkunft. Nur wer die Vergangenheit begreift, kann das Kommende richtig einschätzen. Dazu hat die Systemwissenschaft in den vergangenen Jahren entscheidende Beiträge geleistet. Heute ist es uns möglich, die Geschichte der Menschheit als Ganzes zu lesen. Danach werden die abstrusen, die brutalen, die mannigfaltigen Geschehnisse, von den ersten Hominiden über den Lehnsherrn im Mittelalter bis hin zum heutigen Investmentbanker, als ein Prozess der Entwicklung der Menschheit als Superorganismus[16] verstanden. Wir sehen die Entwicklung dieses »Lebewesens« Menschheit als einen Wachstumsprozess, der zu unseren Lebzeiten seinen quantitativen Höhepunkt erreicht. Ein Muster endet, ein neues wird folgen. Es steht ein Phasenübergang an, von dem wir noch nicht wissen, wohin er führen wird. Wir befinden uns bereits in einem nahchaotischen Zustand. Nicht wir bestimmen die Entwicklungen, die Entwicklungen nehmen ihren Lauf. Ein solcher Zustand ist nicht zu verantworten, weder mit Blick auf die natürlichen Ressourcen noch auf die weltsoziale Situation und die interkulturelle Balance. Ein solcher Zustand ist auch mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit nicht zu vereinbaren. Einzelne Ereignisse wie die Terroranschläge vom 11. September 2001 oder die Ölkatastrophe 2010 im Golf von Mexiko charakterisieren ihn – wie auch unsere Hilflosigkeit. Werden wir nun zudem noch den Übergang in ein vollchaotisches Stadium erleben, in dem die Dinge überhaupt nicht mehr zu steuern sind?

Der Motor der Geschichte: Kommunikation und Interaktion

Die Atmosphäre des Planeten Erde ist ein offenes komplexes System. Sie wird aufgeheizt von der Sonne und befindet sich in Interaktion mit der Oberfläche der Kontinente und Ozeane auf einem sich drehenden Globus. Die Formen der Selbstorganisation der Atmosphäre sind vielfältig. Wirbelstürme, Tiefdruckgebiete und Wetterfronten sind am besten aus großer Höhe zu sehen. Die Bilder der Wettersatelliten zeigen solche Muster sehr klar, aber von der Erdoberfläche aus gesehen bleiben diese Zusammenhänge verborgen. Es ist für selbstorganisierte Systeme typisch, dass man aus großer Nähe ihr Wesen und ihr Funktionieren nicht erkennt, denn die Struktur erschließt sich erst aus größerer Distanz. Die Turbulenzen, durch die die Menschheit derzeit geht, kann man wie einen Klimawandel verstehen, es ist eine Verschiebung des gesamten Systems und seiner Regelwerke.
Für den russischen Physiker Sergey Kapitza[17], Mitglied des Club of Rome, ist die Menschheit ein offenes System, weil die Menschen von ihrem Biotop, dem Planeten, und von seinen Ressourcen leben. Die Wechselwirkung mit dem Biotop ist Voraussetzung für das Leben der Menschen. Kapitza beschreibt die Bevölkerungsentwicklung von den allerersten Anfängen bis heute und hat eine spezifische mathematische Formelstruktur dafür entwickelt. Diese führt zu einer überraschenden Sicht auf die Geschichte der Aborigines in Australien, der Neandertaler, der Eskimos, der Urwaldindianer am Amazonas: Wie kann man ihre Art, sich als Gesellschaft zu organisieren, ihre »Selbstorganisation«, auf einen Nenner bringen? Was haben sie gemeinsam?
Um dies zu beantworten, muss man in die Distanz gehen. Welche Parameter sind universell, welche bestimmen die menschliche Geschichte? Zunächst einmal geht es um Zeit, im Wesentlichen verstanden als ein Maß zur Beschreibung von Wachstumsprozessen. Und dann um die Anzahl der Menschen, die als grobes Maß für die Leistungsfähigkeit der Menschheit zum jeweiligen Zeitpunkt gelten kann. Das Bevölkerungswachstum beschreibt Kapitza als eine hyperbolische, also der mathematischen Grundform der Hyperbel folgende Entwicklung. Dabei tut sich über lange Zeit hinweg scheinbar gar nichts, das Wachstum erscheint linear mit ganz geringer Steigerung, dann wächst die Kurve merklich, überlinear, erst langsam, dann immer schneller, plötzlich explosionsartig, sogar überexponentiell, und endet schließlich fulminant. Mathematisch ausgedrückt vollzieht sie eine Entwicklung gegen unendlich. Es hat mehrere Millionen Jahre gedauert, bis die menschliche Population im frühen Paläolithikum auf 150.000 Menschen angewachsen war – diese Anzahl schaffen die Menschen heute jede Nacht als Zuwachs!
Mittlerweile leben auf der Erde rund sieben Milliarden Menschen. Sieht man einmal von Haustieren ab, schlagen sie damit vergleichbar große Säugetiere zahlenmäßig um einen Faktor 1000 und mehr. Wenn diese Menschen nur hochentwickelte Tiere wären, Teil der Biosphäre, wie viele andere Arten, zum Beispiel unsere nächsten Verwandten, würden sie wie diese in einem eng begrenzten Territorium leben, in einer ökologischen Nische. Sie befänden sich dann im Zustand eines dynamischen Gleichgewichts mit ihrer Umgebung. Das Gegenteil aber ist der Fall: Es herrscht kein Gleichgewicht, sondern der Zustand permanenten Wachstums. Mit dem Auftauchen des Menschen während der Evolution geschah etwas völlig Neues. Was ist es? Worin liegt das Geheimnis dieser hyperbolischen Kurve?
Es liegt in der Sprache, in der Kommunikation und der Interaktion. Wissen und Technik, Gebräuche und Fertigkeiten, Kunst und Religion und schließlich die Wissenschaft – all das ist charakteristisch für Menschen und ihre Gesellschaft, und genau darin liegt auch der entscheidende Unterschied zum Tier.
Mathematisch betrachtet wächst die Anzahl der Kommunikationsbeziehungen im Quadrat zur Anzahl der Teilnehmer am Geschehen. Es handelt sich dabei um einen typischen Netzwerkeffekt. Erfindungen und ihre Wirkungen nehmen durch die Quadrierung der Wechselwirkungen sehr viel schneller zu, als die Anzahl der Menschen selber wächst. Und es ist das Quadrat dieser Anzahl, das über die erhöhten Wechselwirkungsmöglichkeiten und die damit verbundenen Potenziale zum Austausch und zur Kombination von Wissen direkt in technisch-organisatorische Möglichkeiten der Menschen eingeht, was sich wiederum auf die Wachstumsgeschwindigkeit bezüglich der Größe der Menschheit auswirkt. Kapitza beschreibt diese fundamentalen Zusammenhänge im Gesetz des quadratischen Wachstums, das er mit einer hyperbolischen Grundstruktur verknüpft.
Kern des Gesetzes ist eine Kopplung zwischen Wachstum und Entwicklung, genauer gesagt: ein numerisches Wachstum der Anzahl der Menschen im Verhältnis zu ihrer Interaktion untereinander und damit von Wissens- und Erfahrungsaustausch. Die Menschheit wird in dieser Sichtweise zu einem Wissen generierenden, Wissen verbreitenden und Wissen tradierenden System, zu einem Lebewesen sui generis und zu einem intelligenten Superorganismus. Wissen zieht sich dabei durch das gesamte System, durch die ganze Bevölkerung und erreicht schließlich jeden Einzelnen. Es erstreckt sich von den ersten Hominiden, die von Afrika aus in die Welt zogen, bis in die Gegenwart, in der die Menschen über Handy und Internet in Kontakt miteinander stehen. Stets wachsen die Kommunikationsmöglichkeiten quadratisch, weil jeder mit jedem kommunizieren kann und es quadratisch viele mögliche Paarbeziehungen gibt.
Eine praktische Konsequenz ist, dass die Menschen immer sehr eng über persönliche Beziehungen und deren Verkettung miteinander verknüpft waren und es bis heute sind. Alle sieben Milliarden Menschen sind maximal neun Handschläge voneinander entfernt, selbst der einsamste Indianer im brasilianischen Regenwald von dem einsamsten Eskimo. Auch der einsamste Eskimo kennt nämlich wenigstens einen normal vernetzten Eskimo, und der kennt einen Eskimohäuptling. Der wiederum ist mit dem Eskimobeauftragten des Landes bekannt, und dieser mit dem Staatspräsidenten. Der Staatspräsident kennt natürlich den Präsidenten von Brasilien und dieser den Regierungsbeauftragten für die Indianer des Landes, der wiederum einen direkten Kontakt zu jedem Häuptling hat, und so weiter. Die Menschheit war und ist ein einziges System mit enger Verknüpfung seiner Elemente.
Der Superorganismus Menschheit hat auch grausame Seiten, denn die Menschen kommen und gehen, aber die Menschheit als Superorganismus bleibt bestehen. Das ist mit unserem Körper vergleichbar: Die Zellen kommen und gehen, solange wir leben. Für die einzelne Zelle ist es bedeutsam, dass gerade sie lebt und vergeht, für den gesamten Körper ist diese »Perspektive« der einzelnen Zelle vergleichsweise nebensächlich. Wir selbst bemerken es gar nicht. Was auf Dauer bleibt, ist – in Analogie – nur der Superorganismus Menschheit, nicht der einzelne Mensch. Der Superorganismus lebt seit mehr als vier Millionen Jahren und wächst stetig. Wir sind die einzige biologische Spezies, die das vermag...

Inhaltsverzeichnis

  1. Inhalt
  2. Vorwort zur ersten Auflage von HRH Prinz El Hassan bin Talal, Jordanien, Präsident des Club of Rome
  3. Vorwort zur überarbeiteten Auflage
  4. Summary – Der Kern des Ökosozialen
  5. Einleitung
  6. 1. Superorganismus Menschheit
  7. 2. Nahrung und Energie
  8. 3. Klima und neue Wälder
  9. 4. Der Mythos vom freien Markt
  10. 5. Die drohende Insolvenz der Staaten
  11. 6. Aufklärung in Zeiten der Globalisierung
  12. 7. Drei Zukünfte
  13. 8. Globale Ökosoziale Marktwirtschaft
  14. 9. Gleichheit, Ungleichheit und die Rolle des Einzelnen
  15. 10. Der Global Marshall Plan
  16. Epilog: Ultimative Ressource Zeit
  17. Anmerkungen
  18. Was jeder Einzelne tun kann
  19. Equity-Situation 2009
  20. Webadressen
  21. Literatur
  22. Danksagung
  23. Die Autoren
  24. Impressum