1.
Wo die Disharmonie herkommt – die Verluste
»Es gibt nur zwei Arten von Musik – gute und schlechte Musik.«
Miles Davis
»Was ist denn bloß mit Klaus an der Gitarre los? Der hat seinen Einsatz ja schon wieder verpasst!«, denkt Tom und schüttelt den Kopf. »Dabei ist heute DIE Chance für uns als Band, bekannter zu werden!«
Zum allerersten Mal wurden die vier Musikerfreunde, die unter dem Namen »Charivari« in Kneipen Coverlieder spielen, als Headliner zum Straßenfest eingeladen. Sie waren so stolz, endlich mal vor einem größeren Publikum spielen zu können. Und zwar nicht nur die eingespielten Nummern, sondern eigene Lieder, was Anspruchsvolles, andere Rhythmen, mehr Improvisation.
Tom hatte seiner Frau Lisa schon die ganze Woche von diesem großen Auftritt vorgeschwärmt. Ja, sie hatte ihn sogar kaum noch zu Gesicht bekommen, weil die Band ständig proben musste. Manchmal war Tom aber etwas enttäuscht von den Proben zurückgekommen.
»Der Klaus will jetzt wohl groß rauskommen. Der hört uns gar nicht mehr zu, der macht nur noch sein Ding! Immer ist er zu schnell und bringt damit alle aus dem Takt. Und der Bernie am Bass treibt uns nur noch – egal wie schlecht wir sind. Hauptsache, wir spielen unser Line‐up schnell durch und können zum gemütlichen Teil übergehen.«
Lisa hat sich immer gedacht, dass die Freunde sich wieder zusammenraufen. Schließlich kennen sie sich schon so lange und haben so manchen Sturm überstanden. Doch jetzt auf dem Stadtfest wird es offensichtlich: Sie hetzen von Song zu Song, und mit jedem wird die Performance schlimmer. In den Solopassagen an der Gitarre, am Bass, am Keyboard oder am Schlagzeug ist zwar jeder Einzelne unschlagbar. Aber wenn sie zusammenspielen, wirkt es unprofessionell. Die Musik ist unharmonisch, es groovt nicht, die Band kommt einfach nicht in einen gemeinsamen Flow. Der Funke springt nicht über, nicht auf der Bühne, und schon gar nicht beim Publikum.
›Wie schade!‹, denkt Lisa, die mit ihren zwei Kindern im Publikum steht und sich hinter ihrer Maß Bier versteckt. ›Jetzt haben wir all unseren Bekannten Bescheid gesagt, dass sie zu Toms großem Auftritt kommen sollen. Ich hoffe, möglichst viele sind verhindert und müssen sich dieses peinliche Schauspiel nicht antun.‹
Alles Amateure?
Wenn ich Unternehmen berate und mit unzufriedenen Führungskräften spreche, beschreiben manche ihre Situation so, als wären sie Teil einer Amateurband. Jeder Einzelne ist zwar mit Leidenschaft, Fleiß und Engagement bei der Sache, aber das Gesamtergebnis ist nun mal keine Profileistung. Immer wieder klingen Töne schief: Mal sind die Zahlen gut, mal wieder grottenschlecht. Mal gelingt die Zusammenarbeit, mal kriegen sich die Mitarbeiter wieder über Kleinigkeiten in die Wolle. Kaum ist ein Kunde zufrieden, beschweren sich zwei andere und wieder einer reklamiert.
Kurz: Ich höre in diesen Teams wenige harmonische Klänge, und sehe selten Experten, die miteinander im Flow sind und sich gegenseitig zu Höchstleistungen anstacheln. Stattdessen höre ich Disharmonien und schlechte Rhythmen, Dissonanzen und Kakophonien.
Obwohl jeder Einzelne sich größte Mühe gibt, gut zu performen, lässt das Gesamtergebnis zu wünschen übrig. Es ist nicht nur suboptimal, es ist häufig richtig schlecht. So schlecht, dass die Kunden merken, dass hier etwas nicht stimmt.
Stellen Sie sich vor, Sie gehen als Kunde in die Autowerkstatt, um Ihren Wagen reparieren zu lassen. Sie stellen Ihr Auto ab, drücken dem Mechaniker den Schlüssel in die Hand, und sagen ihm, was mit dem Auto los ist. Er sagt Ihnen, dass er das Problem gleich regeln kann, er muss nur kurz sein Werkzeug holen. Sie freuen sich wie ein Schneekönig, denn Sie waren davon ausgegangen, dass es länger dauert. Fröhlich tippen Sie eine SMS an Ihre Lebenspartnerin mit der Info, dass Sie sie auf dem Heimweg gleich mit dem Auto abholen. Sie halten Ausschau nach Ihrem Mechaniker, sehen ihn aber nirgendwo. Sie setzen sich, holen eine Zeitschrift raus, blättern auf und bleiben beim Leitartikel hängen. Nachdem Sie den Beitrag komplett gelesen haben, ist immer noch keine Spur vom Mechaniker zu sehen. Sie schauen auf die Uhr: Er ist seit einer Viertelstunde weg. In dem Moment, in dem Sie einen anderen Mitarbeiter fragen wollen, wo er bleibt, kommt Ihr Mechaniker zurückgerannt. Er ist schweißgebadet, in seiner rechten Hand ein Schraubenschlüssel.
»Tut mir leid, ich konnte mein Werkzeug nicht finden, und habe mir den Schlüssel eben beim Kollegen ausgeliehen. So, jetzt sagen Sie mir bitte nochmal: Wo kommt das Geräusch genau her?«
Wenn Sie jetzt bezweifeln, dass Sie rechtzeitig ankommen, um Ihre Partnerin abzuholen, dann sind Ihre Zweifel völlig berechtigt. Dieses Unternehmen wirkt nicht nur unprofessionell, es ist auch unprofessionell. Wenn ein Meister erstmal losrennt, um einen einfachen Schraubenschlüssel zu suchen und ihn nach langem Stöbern in irgendeiner Kiste findet oder sich beim Kollegen einen ausleiht, dann spricht das nicht gerade für eine gute Arbeitsorganisation. Es spricht auch nicht für einen guten Arbeitsprozess. Wenn ein Meister Ihnen in Aussicht stellt, Ihr Auto gleich zu reparieren, und eine Viertelstunde braucht, um arbeitsfähig zu werden, dann klingt das auch nicht nach einem guten Erwartungsmanagement. Und wenn ein Meister Sie schweißgebadet fragt, was nun genau das Problem ist, nachdem Sie ihm zuvor die Lage schon akkurat geschildert hatten, dann klingt das nach Überarbeitung und Überforderung.
Das wirkt nicht nur unprofessionell. Das ist unprofessionell.
Jetzt kann es sein, dass dieser Mitarbeiter ein absoluter Anfänger ist. Das ist aber selten der Fall. Meist ist das Unternehmen insgesamt ein Anfänger. Ein Amateur. Oder sagen wir ein »Aspirant«. Jedenfalls noch kein Profi. Das lässt sich daran erkennen, dass auf verschiedenen Ebenen Disharmonien auftreten:
- in der Arbeitsorganisation,
- in der Prozessgestaltung,
- in der Kommunikation zwischen Kollegen, Abteilungen, Bereichen,
- in der Organisationsgestaltung,
- in der Führung,
- in der Zieleausrichtung etc.
Ein gut funktionierendes Unternehmen erkennen Sie daran, dass die Arbeitsprozesse effizient und effektiv ablaufen – alles ist im Flow. Doch diesen Flow in einem Unternehmen herzustellen, ist eine Kunst. Und je größer das Unternehmen ist, desto größer ist die Kunst, den Flow herzustellen.
Unsere Wirtschaftswelt ist nämlich geprägt von Arbeitsteilung und Spezialisierung; diese befähigen uns, ein hohes Maß an Leistung zu erbringen, das wiederum zu einem erheblichen gesellschaftlichen Wohlstand führt. Doch die Arbeitsteilung birgt auch Probleme: Sie erzeugt Schnittstellenverluste, die Reibungsverluste nach sich ziehen. Und diese Schnittstellenverluste bleiben häufig unerkannt.
Als ich früher mal eine Schlecker‐Filiale betreten habe, um einzukaufen, habe ich gedacht: ›Mein Gott, sieht das hier schlampig aus! Da ist auch keiner da, der dich beraten kann.‹ Und weil die Läden immer so ungeordnet aussahen und offensichtlich auch am Personal gespart wurde, waren die Kunden davon überzeugt, dass dort die Preise deshalb günstiger sind als bei der Drogeriemarkt‐Konkurrenz. Dieses Image hielt sich auch in der Öffentlichkeit wacker: Schlecker ist günstiger als andere Drogerien, weil Schlecker am Service spart.
Heute weiß man allerdings, dass das ganze System hinter den Schlecker‐Filialen nicht gestimmt hat: Schlecker war einfach schlecht organisiert und wurde schlecht geführt. Die Mitarbeiter wurden ausgebeutet, die Standorte des Filialnetzes wurden ungünstig gewählt und die Verantwortlichen haben eine schlechte Lagerwirtschaft betrieben.
Ob eine Band harmonisch spielt, erkennt der Hörer sofort am Klang – auch ohne musikalische Fachkenntniss...