Teil 2 Der Manager
Brian
Schon früh in seiner Laufbahn war Brian Bailey zu einem geradezu unvermeidlichen Schluss gekommen: Er war mit Leib und Seele Manager.
Jeder Aspekt dieser Tätigkeit faszinierte ihn. Ob strategische Planung, Budgetierung, Beratungen oder Leistungsbeurteilungen, Brian hatte das Gefühl, für diesen Job geboren worden zu sein. Schon in jungen Jahren war er in Führungspositionen sehr erfolgreich, und so bereute er es nicht, vom College abgegangen zu sein: Seine Kollegen mit Business-School-Abschluss hatten ihm nichts voraus.
Andererseits hatte er sowieso keine Wahl gehabt. Brian stammte aus der unteren Mittelschicht, und in den entscheidenden Jahren litt seine Familie unter den Folgen zweier Frostjahre, die die Walnussplantagen im Norden Kaliforniens schwer geschädigt hatten. Trotz des Stipendiums, das ihm vom St. Mary’s College angeboten wurde, hätte die Familie eine weitere Ausbildung kaum finanzieren können. Zumal seine Neigung für Theologie und Psychologie unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht gerade erfolgversprechend klang.
Brian reagierte auf eine Stellenanzeige, bekam eine Stelle im Linienmanagement einer Konservenfabrik bei Del Monte. Zwei Jahre lang passte er auf, dass Tomaten, Pfirsiche und grüne Bohnen so effizient wie möglich eingedost wurden. Brian scherzte gern mit seinen Mitarbeitern, er habe schon immer eine Fruchtcocktail-Farm besichtigen wollen.
Als sich die Walnussbäume seines Vaters erholten und die finanzielle Situation der Familie sich besserte, musste Brian eine Entscheidung treffen. Er hätte wieder die Schulbank drücken und seinen Abschluss nachholen können, er konnte auch bei Del Monte bleiben, um dort rasch die Karriereleiter hochzuklettern und in nicht allzu ferner Zukunft auf die Verantwortung für eine ganze Fabrik zu hoffen. Zum Kummer seiner Eltern entschied er sich weder für die eine noch für die andere Option.
Brian gab seiner Neugier nach und nahm eine Stelle bei dem einzigen Autobauer im Umland von San Francisco an. Hier blieb er 15 Jahre und tummelte sich in den verschiedenen Unternehmensbereichen: Er arbeitete für jeweils rund fünf Jahre in der Produktion, bei Finanzen und Operations.
Und er heiratete eine Frau, die er noch in der Highschool kennengelernt hatte und die im Gegensatz zu ihm St. Mary’s absolvierte. Die beiden zogen in ein kleines, prosperierendes Örtchen mit dem passenden Namen Pleasanton und bekamen zwei Söhne und ein Töchterchen.
Mit 35 Jahren war Brian Betriebsleiter, seine Chefin war die umtriebige Kathryn Petersen. Sie war ebenfalls schon länger bei diesem Autobauer; sie mochte Brian gerade wegen der bescheidenen Verhältnisse, aus denen er kam, wegen seines Arbeitseifers und seiner Wissbegierde, und sie sorgte dafür, dass er immer neue Aufgaben bekam, solange es eben ging. Aber sie wusste, lange würde das nicht mehr gehen.
Der Bruch
Als eine alte Freundin, die inzwischen als Headhunterin arbeitete, Kathryn fragte, ob sie an einer Position als CEO bei einem relativ kleinen Produzenten von Fitnessgeräten Interesse hätte, lehnte diese dankend ab, empfahl aber Brian: Der sei der richtige Mann für den Job.
Ein Blick auf den Lebenslauf – kein Collegeabschluss – genügte der Headhunterin: Brian kam für den Job nicht in Frage. Trotzdem lud sie ihn zu einem Vorstellungsgespräch ein, um Kathryn einen Gefallen zu tun. Brian wiederum konnte es selbst nicht fassen, als er zwei Wochen später einen Anruf bekam: Er sei der »bisher beste Kandidat«, und ob er sich vorstellen könne, zu JMJ Fitness Machines zu wechseln?
Die Entscheidungsträger hatte bei dem Vorstellungsgespräch vor allem eins beeindruckt (und das sollte sie in all den Jahren von Brians Tätigkeit bei JMJ immer wieder faszinieren): seine Fähigkeit, sich mit Menschen aus allen sozialen Schichten zu verständigen. Er war unten in der Fabrikhalle genauso zu Hause wie im Vorstandszimmer, und er brachte eine Kombination von Kompetenz und Unvoreingenommenheit mit, die man nicht oft bei Führungskräften trifft, auch nicht im Produktionssektor.
Brian fühlte sich wie ein Kind im Bonbonladen: Er durfte etwas tun, was er mehr als alles andere genoss. Was JMJ sehr zugute kam.
JMJ
JMJ hatte seinen Firmensitz in Manteca, Kalifornien, keine 100 Kilometer östlich von San Francisco. Die kleine Stadt lebte von der Landwirtschaft und vom Tourismus. JMJ war ein relativ junges Unternehmen, das in den ersten zehn Jahren seines Bestehens meistens ums nackte Überleben kämpfte und nur dank der niedrigen Löhne in dieser Gegend und durch das Abkupfern von Erfindungen innovativerer Wettbewerber noch existierte. JMJ schrieb mit Ach und Krach schwarze Zahlen, rangierte aber mit weniger als 4 Prozent Marktanteil als Nummer 12 der sehr ausdifferenzierten Branche unter »ferner liefen«.
In diesem Stadium hatte der Gründer die Nase voll und beauftragte die Headhunterin, einen Nachfolger zu finden, was mit Brians Einstellung endete.
Das erste Jahr war kein Spaziergang: JMJ war in einen pikanten, Zeit und Energie raubenden Rechtsstreit verwickelt. Aber er bot Brian gleichzeitig die Möglichkeit, sich als Führungskraft zu profilieren, und gab zu einigen strategischen Veränderungen Anlass. Nachdem der Prozess beigelegt war, konnte Brian JMJ über einige Jahre hinweg in jeder erdenklichen Richtung repositionieren. Außenstehenden fiel zunächst die Hinwendung zu Firmenkunden – Krankenhäuser, Hotels, Colleges, Fitnessstudios – auf.
Brian injizierte dem Unternehmen außerdem einen Schuss Erfindungsgeist, indem er einige kreative Ingenieure und Sportmediziner aus anderen Branchen einstellte. Unter dem Strich brachten die beiden Schachzüge höhere Verkaufspreise für JMJ-Produkte und eine drastisch wachsende Nachfrage.
Langfristig war jedoch die Veränderung in der Unternehmenskultur am wichtigsten.
Wie die meisten herstellenden Betriebe der Region litt das Unternehmen unter häufigen Kündigungen, niedriger Arbeitsmoral und einer schlecht prognostizierbaren Produktivität. Dazu kam die ständige Bedrohung, die Gewerkschaften könnten im Betrieb Fuß fassen. Für einen Turnaround, das war Brian klar, musste er an diesen Punkten ansetzen.
Im Lauf von nur zwei Jahren steigerte Brian mit seinem Führungsteam das Engagement der Mitarbeiter auf ein unvorstellbar hohes Niveau und verschaffte dem No-Name-Unternehmen irgendwo im Central Valley einen Ruf als einer der beliebstesten Arbeitgeber: Die Arbeitszufriedenheit und die Bindung an das Unternehmen erreichten Spitzenwerte. JMJ gewann mehr als einen Branchenpreis für den »besten Arbeitsplatz«, mit der Zeit sammelten sich etliche Pokale in der Vitrine am Empfang.
Gefragt nach seinem Erfolgsgeheimnis, spielte Brian normalerweise seine Rolle herunter: Er behandele die Leute nur so, wie sie behandelt werden wollten. Was stimmte, da er keine besondere Methode entwickelte.
Aber so bescheiden er sich nach außen hin gab und die Verantwortung für den kulturellen Turnaround von sich wies, er war doch stolz darauf, dass er seinen Leuten, insbesondere den weniger privilegierten unter ihnen, gute, anspruchsvolle Arbeitsplätze verschafft hatte: Einen angenehmeren, erfüllenderen Job konnten sie in der näheren und weiteren Umgebung kaum finden. Das war ihm persönlich wichtiger als Unternehmensziele wie Gewinn oder Produktinnovation und gab ihm das Gefühl, nicht umsonst gearbeitet zu haben.
Und deswegen erwischte es ihn kalt, als das Unternehmen verkauft wurde.
Erschütterungen
Finanziell gesehen war JMJ so gut aufgestellt, wie es ein mittelständisches Unternehmen überhaupt sein kann. Unter Brians Führung hatte es 15 Jahre in Folge solide Ergebnisse eingefahren und war zum drittgrößten Gerätehersteller, zeitweise sogar zum Branchenzweiten aufgestiegen. Es war schuldenfrei, hatte eine renommierte Marke und hohe Rücklagen in der Bank – nichts wies darauf hin, dass das privat geführte Unternehmen in Gefahr sein könnte.
Und dann geschah es.
Im Wall Street Journal erschien ein Zweispalter: Nike denke darüber nach, in den Fitnessgerätemarkt zu expandieren. Für die meisten Zeitungsleser war das eine bedeutungslose Meldung. Für Brian war es die Ankündigung eines Erdbebens.
Die Kettenreaktion setzte zwei Tage später ein. Nike gab öffentlich bekannt, welches Unternehmen es übernehmen wollte: FlexPro, den größten Konkurrenten von JMJ. Bevor irgendjemand die Entwicklung begreifen konnte, bereiteten sich Unternehmen, die jahrzehntelang unabhängig voneinander operiert hatten, darauf vor, von großen Markenkonglomeraten geschluckt zu werden, die sich nun plötzlich für den Fitnessgerätemarkt interessierten. Für Brian und seine 550 Mitarbeiter war es nur noch eine Frage der Zeit.
Konsolidierung
Wenige Tage nach dem ominösen Artikel im Wall Street Journal kam der JMJ-Vorstand inklusive Brian zu dem Schluss, dass JMJ verkauft werden musste, und zwar schnellstmöglich.
So schwer es ihm fiel, Brian und das Unternehmen konnten es sich nicht leisten, die Augen vor der Realität zu verschließen. Schließlich wollte er nicht riskieren, dass JMJ als einziges Unternehmen übrig blieb, während die Musik längst woanders spielte: Dann könnte er die Mitarbeiter nur noch mit leeren Händen – trotz jahrelanger, harter Arbeit – nach Hause schicken. Also rief er einen Freund bei einer Investmentbank in San Francisco an: Ob er einen Käufer für das Unternehmen finden könne? Das Unternehmen, das er so liebte.
Rick Simpson war weniger ein Freund als ein alter Bekannter. Er hatte auf demselben Flur wie Brian ein Zimmer im Wohnheim von St. Mary’s gehabt, und sie hatten über die Jahre lose Verbindung gehalten.
Brian hielt Rick für brillant, manchmal fand er ihn allerdings reichlich überspannt, arrogant und unsensibel. Aber er mochte ihn irgendwie. Brian erklärte seiner skeptischen Frau, Rick habe das Talent, einen komplett anzuwidern, und bekäme doch immer wieder rechtzeitig die Kurve, weil er zum Ausgleich auch richtig nette Sachen machte.
Trotz seiner persönlichen Marotten war Rick beruflich extrem erfolgreich und galt als einer der besten Investmentbanker des Landes. Er war eine Art Berühmtheit auf seinem Gebiet.
Seine Reaktion auf Brians Anruf war typisch. »Du hast also genug von dem Kuhkaff, he?« Er wollte ihn sicher aufziehen, aber Brian war nicht in der Stimmung für solche Scherze.
»Ich wohne in der Bay Area und pendele. Und eigentlich mag ich das Valley. Aber wir müssen verkaufen.«
»Warum?«
»Uns bleibt keine Wahl. Nike hat FlexPro übernommen, und wenn wir versuchen, gegen ein Unternehmen mit dieser Marketingstärke anzukämpfen, gehen wir mit Mann und Maus unter.«
»Stimmt, ich habe es gelesen.« Rick stöberte offenbar in den Papieren auf seinem Schreibtisch. »Aber seid ihr nicht ein bisschen arg früh dran?«
»Alle werden früher oder später aufgeben müssen, je eher wir verkaufen, desto besser für uns.«
»Dagegen fällt mir kein vernünftiges Argument mehr ein«, stimmte Rick zu. »Ich soll dir also helfen, einen Käufer zu finden?«
»Ja, einen, zu dem unser Unternehmen strategisch passt und der dessen einmaligen Wert versteht.«
»Und welcher Wert wäre das?« Rick meinte es nicht despektierlich. Er musste es nur wissen.
»Unser Marktanteil lässt sich sehen, er liegt bei 20 Prozent. Je nachdem, wie man den Kuchen aufteilt, sind wir die Nummer 2 oder 3 in einem sehr zersplitterten Markt.«
Rick antwortete nicht, Brian hörte aber, dass er mitschrieb, also redete er weiter. »Unsere Gewinn- und Verlustrechnung ist mehr als ordentlich, der Markenname genießt einen hervorragenden Ruf, für die nächsten fünf Quartale haben wir hohe Umsatzerwartungen, und einige unserer Patente laufen erst in etlichen Jahren aus.«
»Klingt so weit ganz gut. Wächst der Markt?«
Brian zögerte keine Sekunde. Er kannte sich in der Branche aus. »Für nächstes Jahr sind 9 Prozent prognostiziert, aber ich denke, wir werden eher bei 12 Prozent herauskommen.«
»Du scheinst in dem Kuhkaff ja echt was gerissen zu haben.« Brian kannte Rick gut genug, um dessen Sarkasmus als Kompliment zu verbuchen.
»War ganz okay. Es gibt aber noch was, das ein potenzieller Käufer über uns wissen sollte.« Jetzt zögerte er doch, weil er nicht noch mehr Spott provozieren wollte. »Wir haben branchenweit die höchste Mitarbeiterzufriedenheit, und nicht nur in dieser Branche, wir sind überhaupt ziemlich gut in dem Punkt. Man zählt uns zu den 50 besten Arbeitgebern der USA.«
Rick sagte erst gar nichts und kicherte dann. »Na ja, das steigert den Marktwert so ungefähr um 500 Dollar.«
»Wie meinst du das?«
Brians Tonfall verriet seine Verärgerung deutlich genug, und Rick ruderte ein Stück weit zurück.
»Ich nehme dich nur auf die Schippe, Brian. Du hast sicher hart daran gearbeitet, eine gute Unternehmenskultur aufzubauen, ich nehme das auf jeden Fall ins Angebot auf.« Er zögerte. »Aber ich will dich nicht...