Die Physik und ihre Gesetze spielen im Sport und auch in der Sportwissenschaft eine große Rolle. Dabei kann man generell zwei Bereiche unterscheiden: die Anwendung der Physik auf das Verhalten von leblosen Körpern und die Einbeziehung des Menschen in seiner Komplexität. Im ersten Fall geht es um die physikalischen Eigenschaften von Sportgeräten, Materialeigenschaften wie die Elastizität von Bällen, die Taillierung von Carving-Skiern, das Gewicht von Wurfgeräten oder die Schwingungseigenschaften eines Baseballschlägers. Andererseits sind Fragen zur Wechselwirkung von Gerät und Umgebung, zum Beispiel die Reibung zwischen Ski und Schnee, der Einfluss des Luftwiderstands auf die Flugkurve eines Balles oder die Größe der Zentrifugalkraft beim Hammerwurf, zentrale Themen. Physikalische Prinzipien wie Energieerhaltung, Impulserhaltung oder die Newton’schen Gesetze können systematisch angewandt werden und liefern wichtige Aussagen.
Bezüglich des zweiten Bereichs hört man manchmal (von Nichtphysikern) Aussagen, dass sich die Physik nicht ohne Einschränkung auf den Menschen anwenden ließe, oder noch stärker, dass für lebende Objekte andere Gesetze gelten würden. Wie kommt es zu solchen Meinungen? Nehmen wir als Beispiel den optimalen Wurfwinkel, um einen Gegenstand möglichst weit zu werfen (siehe Abschn. 2.3). Die Physik sagt, dass der Winkel bei 45° liegt, eventuell etwas weniger wegen des Luftwiderstandes oder wenn die Abwurfhöhe nicht gleich der Höhe des Aufpralls ist. Messungen ergeben aber, dass Spitzenathleten bei einem Wurf geringere Winkel verwenden. Der Absprungwinkel beim Weitsprung liegt sogar sehr weit von den errechneten 45° entfernt. Gelten hier die physikalischen Gesetze nicht mehr? Doch, natürlich gelten sie uneingeschränkt, aber es müssen gleichzeitig auch die biologischen Bedingungen beachtet werden. Der optimale Abwurfwinkel von 45° wird unter der Voraussetzung berechnet, dass die Abwurfgeschwindigkeit für alle Winkel gleich wäre. Der Körperbau eines Menschen lässt aber bei manchen Winkeln eine höhere Geschwindigkeit und daher ein besseres Gesamtergebnis zu.
In den Sportwissenschaften ist die Biomechanik die Disziplin, die sich mit der Anwendung der Gesetze der Mechanik auf den lebenden Organismus beschäftigt. Die Anfänge der Biomechanik reichen weit zurück. Schon Aristoteles (384–322 v. Chr.) hat sich mit Fragen zur Bewegung beschäftigt und zum Beispiel die Abhängigkeit einer Wurfbewegung vom Gewicht des geworfenen Gegenstandes thematisiert. Leonardo da Vinci (1452–1519) untersuchte mechanische Eigenschaften von Maschinen und Lebewesen und die Körperproportionen. Einen großen Fortschritt in der Untersuchung von Bewegungsabläufen brachten die technischen Möglichkeiten der Photographie im 19. Jahrhundert. Eadweard Muybridge (1830–1904) konnte durch schnell hintereinander aufgenommene Fotos Bewegungen erstmals sichtbar machen und so etwa den Flügelschlag von Vögeln und die Gangarten von Pferden untersuchen (siehe Abschn. 7.2, Reiten).
Im Laufe des 20. Jahrhunderts verfeinerten sich die Messmethoden. Kraftmessplatten und spezielle Dynamometer lieferten immer genauere Daten während der Bewegungen, die Elastizität von Sehnen wurde auch in vivo vermessen. Mit Videoaufnahmen konnten dreidimensionale kinematische Daten erhoben werden, Messungen mittels Elektromyogramm (EMG) lieferten Auskünfte über die Ansteuerung der Muskulatur. Mit mathematischen Modellen konnten Bewegungen nicht nur simuliert werden (direkte Dynamik), sondern auch manche Eigenschaften des Menschen, die nicht direkt messbar sind, errechnet werden.
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Fokus der Biomechanik gewandelt: Die Biomechanik wird nicht mehr nur als Anwendung der Mechanik allein betrachtet, sondern auch weitere Wissenschaften wie die Physiologie, die Anatomie oder die Neurowissenschaften spielen eine große Rolle. Die Biomechanik beschäftigt sich also mit dem Zusammenwirken von physikalischen Grundgesetzen und biologischen Gegebenheiten.
Die Betrachtung dieser Wechselwirkung der Physik mit dem Menschen kann auf verschiedenen Strukturebenen erfolgen, von Molekülen und Molekülverbindungen über Muskeln, Sehnen und Knochen, den gesamten Körper eines Menschen bis zum Zusammenspiel mehrerer Sportler.
Auf molekularer Ebene geht es zum Beispiel um die Energiebereitstellung im Körper, also welche chemischen Reaktionen dem Muskel die Energie zur Kontraktion liefern und wie viel Energie pro Zeit die einzelnen Arten des Stoffwechsels liefern können. Diese Energieraten beeinflussen auch die möglichen Rekorde (Abschn. 5.1, Schwimmen). Ein weiteres Beispiel auf molekularer Ebene ist die Sauerstoffaufnahme, die vom Außendruck abhängt (Abschn. 5.2, Tauchen).
Eine Ebene höher ist die Erzeugung von Kraft und Leistung im Muskel (Abschn. 2.1, Sportliche und physikalische Leistung) zu betrachten. Die Muskelkräfte sind letztendlich die Ursache jeder sportlichen Bewegung. Je nach Geschwindigkeit können unterschiedliche Kräfte erzeugt werden (Abschn. 2.1), was wiederum auf molekularer Ebene basiert, aber sich makroskopisch auswirkt. Die Sehnen und Knochen übertragen diese Kräfte, müssen in ihrer Festigkeit aber auch den von außen einwirkenden Kräften standhalten (Abschn. 6.1, Skifahren; Abschn. 4.2, Rotationen im Geräteturnen; Abschn. 7.1, Kampfsport; Abschn. 7.2, Reiten).
Auf der Ebene des gesamten Körpers kommen Fragen der Koordination und neuronalen Ansteuerung dazu. Im Sport ist meist eine möglichst erfolgreiche Durchführung einer Bewegungsaufgabe gefragt, sei es eine große Weite, eine bestimmte Geschwindigkeit oder eine präzise Ausführung (Abschn. 2.4, Treffersicherheit). Um dieses Ziel zu erreichen, muss die Bewegung so exakt wie möglich gesteuert werden. Die Physik gibt Auskunft, welcher Spielraum dabei das biologische System hat. Die motorische Kontrolle wiederum hängt u. a. davon ab, welche mechanischen und physiologischen Voraussetzungen herrschen. So wählen etwa Radfahrer die Trittfrequenz in Abhängigkeit von der Steigung, aber auch je nach Faserverteilung und Ermüdung des Muskels.
Auf der Ebene des Zusammenspiels von Menschen können statistische Aussagen über Spielausgänge gemacht werden (Abschn. 3.1, Fußball) oder Spielzüge mit Videoanalysen und mathematischen Modellen untersucht werden (Abschn. 3.4, Volleyball).
Die Physik des Sports wird in den folgenden Kapiteln daher von einem interdisziplinären Standpunkt aus betrachtet, der auch die Einflüsse der biologischen Eigenschaften des Menschen thematisiert.
Zu Beginn dieses Buches wollen wir einige allgemeine Themen behandeln: Energie und Leistung bei sportlichen Aktivitäten, das Verhalten von Bällen im Flug und im Kontakt mit verschiedenen Materialien, Exaktheit von Bewegungen und letztlich Höchstleistungen. Um diese grundlegenden Erörterungen anschaulicher zu gestalten, haben wir sie mit vielen Anwendungsbeispielen ergänzt. Dadurch werden in dem Kapitel mehr Sportarten angesprochen als in den weiteren: Gewichtheben, Dart, Stabhochsprung, Bowling, Kugelstoßen, …
Den Anfang bilden der Muskel und seine Fähigkeit zur Kraftentwicklung, weil dies wohl Grundlage jeden Sports ist. Ohne Kraft gibt es keine Beschleunigungen und daher auch keine sportlichen Bewegungen. Aber wie arbeitet ein Muskel und was unterscheidet Muskeln von mechanischen Federn? Wie hängt die mechanische Leistung mit der sportlichen Leistung zusammen?
Danach betrachten wir Bälle und ihr Reflexionsverhalten. Ob Tennis- oder Basketball: Alle Bälle werden beim Aufprall auf einer Fläche reflektiert, doch die einfache Regel »Einfallswinkel ist gleich Ausfallswinkel« gilt nur in Spezialfällen. Die verschiedenen Bälle unterscheiden sich stark im Sprungverhalten, im Besonderen wenn die Bälle einen Drall haben.
Die Physik des Wurfs ist ein zentrales Element in vielen Sportarten. Dabei treten verschiedene Varianten auf: Wurf, Stoß oder Schleudern eines Gerätes. Sogar ein Sprung kann in gewissem Sinn als Wurf, nämlich als Abstoßen oder Werfen des eigenen Körpers, betrachtet werden. Je nach erwünschtem Ergebnis eines Wurfes – maximale Weite, genaues Treffen eines Ziels oder Gestalt der Flugkurve – müssen Geschwindigkeit und Abwurfwinkel den äußeren Bedingungen und den eigenen physiologischen Möglichkeiten angepasst we...