Teil I
DIE FABEL
1 Andrew
Andrew O’Brien war noch nie zuvor in den vergangenen fünf Jahren der Letzte gewesen, der bei Trinity Systems abends das Büro verließ. Es war bei ihm auch noch nie nach Mitternacht geworden, seit er die Funktion des Geschäftsführers übernommen hatte.
Während er oben aus dem Panoramafenster seines Büros über San Francisco blickte, fragte er sich, wie es dazu gekommen war.
Morgen stand der erste Jahrestag von Andrews Beförderung an. Es wäre auch die erste Vorstandssitzung, in der er verantwortlich für die Ergebnisse eines ganzen Fiskaljahrs zeichnete. Diese Ergebnisse waren, wie er sich zu sagen angewöhnt hatte, »bestenfalls unspektakulär«.
Aber die Ergebnisse bekümmerten Andrew gar nicht so sehr wie seine Stimmung. Er fühlte sich in letzter Zeit überhaupt nicht wohl, wenn er durch die Flure seines Unternehmens ging. Er fühlte sich unbehaglich, wenn er die Sitzungen seines Management-Stabs leitete. Und mit Sicherheit freute er sich nicht darauf, sich morgen mit seinem Vorstand zu treffen. Sie würden zwar vermutlich nicht allzu hart mit ihm umspringen, nahm er an, aber auf die Schulter klopfen würden sie ihm wahrscheinlich auch nicht gerade.
Andrew O’Brien konnte nicht leugnen, dass er in seiner Amtszeit als Geschäftsführer an einem Tiefpunkt angelangt war, den zu erreichen er so bald nie erwartet hätte.
Und dann wurde alles noch schlimmer.
2 U-Bahn
Als Andrew Richtung Bay Bridge schaute, fiel ihm auf, dass darauf gar keine Autos nach Osten Richtung Oakland rollten. Das erschien ihm merkwürdig. Andrew erstaunte es eigentlich immer, wie der Verkehr die ganze Nacht hindurch die Straßen der Stadt füllte. Er schaute auf die Uhr auf seinem Schreibtisch und sah, dass es zwei Minuten nach Mitternacht war. Auch um diese Zeit waren sonst immer Autos auf der Brücke. In San Francisco war eigentlich immer Verkehr, wenn es nicht gerade ein Erdbeben gab.
Und dann fiel es ihm ein.
Vor seinem geistigen Auge sah Andrew die orangefarbenen Hinweisschilder, an denen er die ganzen letzten 14 Tage auf seinem Weg nach Hause abends vorbeigefahren war:
Bay Bridge wegen Reparaturarbeiten gesperrt
4. und 5. März
Mitternacht bis 5:00 Uhr morgens
Es war Andrew gar nicht in den Sinn gekommen, dass er die Brücke um diese Zeit würde überqueren müssen. Langsam dämmerte ihm, dass er heute Abend nicht nach Hause fahren würde. Es sei denn natürlich, er würde den Umweg über die Golden Gate Bridge machen, dann zurück über die Richmond Bridge, dort die Autobahn Interstate 80 nehmen, bis zur Bundesstraße 24, über die er schließlich nach ... ach, vergiss es. Das Ganze würde ihn mehr als eine Stunde Fahrzeit kosten, und angesichts der mindestens noch bevorstehenden zwei Stunden Arbeit für die Konferenz morgen schien das gar keine gute Idee.
An jedem anderen Abend des Jahres wäre er nun einfach in eines der Hotels in der Nähe des Büros gegangen, mit ihrem Rund-um-die-Uhr-Komplettservice, hätte seine Kleider über Nacht in die Reinigung gegeben und wäre dann am nächsten Morgen startklar gewesen. Aber heute wollte Andrew in seinem eigenen Bett schlafen, und wenn es nur für ein paar Stunden war. Außerdem wollte er am Morgen unbedingt noch seine Frau und seine Kinder sehen. Selbst wenn er es nie zugegeben hätte: Andrew brauchte ein wenig moralische Unterstützung.
Deshalb packte er seine Papiere in die Tasche, griff sich seinen Mantel und ging zur Tür.
Die Straßen unten waren genauso verlassen wie die Büros über ihm, abgesehen von dem Stück Fußweg zwischen den Häuserblöcken, wo der Obdachlose lebte, den alle Benny nannten. Manchmal führte sich Andrew Bennys Situation vor Augen, wenn er etwas Trost brauchte, weil die Dinge bei ihm gerade nicht so gut liefen. Aber heute Abend funktionierte das nicht. Er konnte den drängenden Gedanken an die gefürchtete Vorstandssitzung nicht entkommen, die in gerade mal neun Stunden beginnen würde.
Als er steif zur zwei Blocks entfernten U-Bahn-Station ging, überlegte Andrew, wann er eigentlich das letzte Mal mit öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren war. Vor acht Jahren? Oder zehn?
Als er die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn nahm, war Andrew überrascht, dass dort niemand zu sehen war. Die Station war leer.
Nachdem er aus dem Automaten an der Wand ein Ticket gezogen hatte, ging er zu einer Bank, wo er auf seinen Zug warten konnte, und setzte sich. Er war überrascht, dass er sich gar nicht deplatziert vorkam. Zehn Jahre sind schnell vergangen, flüsterte er vor sich hin.
Bevor er die Papiere aus seiner Tasche nehmen konnte, war der Zug schon da. Als die ersten Wagen an ihm vorbeirauschten und der Zug allmählich langsamer wurde, stellte Andrew fest, dass niemand darin war. Dachte er zumindest.
3 Charlie
Nachdem er sich gleich auf den ersten Platz neben der Tür gesetzt hatte, fühlte sich Andrew plötzlich erschöpft. Er hatte eigentlich vorgehabt, während der 30-minütigen Fahrt in die Vororte zu arbeiten, aber jetzt wollte er einfach nur dasitzen, den farbigen Netzplan der U-Bahn-Linien studieren und sich dabei die geografische Situation der Bay Area vor Augen führen. Hauptsache, es lenkte seine Gedanken von der Vorstandssitzung ab.
Gerade als der Zug in die Dunkelheit des Tunnels unter der Bay eintauchte und Andrews Augen zufielen, öffnete sich hinter ihm eine der Verbindungstüren zwischen den Wagen. Er drehte sich um und sah, dass ein älterer Mann in einer Art Uniform den Wagen betrat. Er schien so etwas wie ein Hausmeister zu sein; auf die Tasche seines grauen Hemds war der Name »Charlie« aufgenäht.
Jetzt fühlte sich Andrew unbehaglich. Soll ich mit dem Mann reden?, fragte er sich. Bestimmt erwartet er, dass ich ihn grüße; wir sind hier schließlich die Einzigen im Zug. Aber was soll ich ihm denn sagen?
So weit war es nun also schon mit Andrew gekommen. Er hatte keinerlei Probleme gehabt, mit dem Fernsehreporter vom Financial Network zu reden, als vor sechs Monaten der Aktienkurs abgestürzt war. Er fühlte sich vollkommen wohl, als er auf der Marketingkonferenz vor mehr als 200 Börsenexperten seine Präsentation abhielt. Aber heute machte Andrew die Aussicht zu schaffen – ja geradezu nervös –, ein paar abendliche Nettigkeiten mit einem alten Mann austauschen zu müssen. Der noch dazu Hausmeister war.
Aber als er noch darüber nachdachte, was er vielleicht sagen könnte, war der weißhaarige Mann auch schon wortlos an ihm vorbeigegangen und im nächsten Wagen verschwunden.
Überrascht stellte Andrew fest, dass er keineswegs erleichtert war, sondern geradezu beleidigt, dass dieser Hausmeister ihn einfach ignoriert hatte.
Doch schon drängte sich wieder die Vorstandssitzung in seine Gedanken, und Andrew beschloss, es sei an der Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Gerade als er nach seiner Tasche griff, wurden die Lichter im Wagen zunächst heller, dann schwächer, und der Zug kam quietschend zum Stehen. Allein in dem trüben Licht, fragte sich Andrew, ob es wohl noch schlimmer kommen konnte, da öffnete sich die Tür zum nächsten Wagen.
»Kommen Sie«, sagte der alte Mann in seiner Hausmeistermontur. »Worauf warten Sie?« Dann ging er.
4 Kontakt
Zuerst rührte sich Andrew nicht. Er blickte nur auf den Sitz neben sich, als suchte er Rat bei jemandem, der gar nicht da war. Dann folgte er, ohne groß zu zögern, dem Mann in den nächsten Wagen. Der Hausmeister saß mit dem Rücken zur Tür. Und pfiff.
Andrew beschloss, der Mann müsse verrückt sein. Wer sonst würde um halb ein Uhr nachts U-Bahn fahren und Fremde auffordern, ihm zu folgen?, dachte er bei sich. Andererseits: Wer ist denn diesem Kerl nun wiederum durch den Zug gefolgt?
Vielleicht lag es ja daran, dass er müde war; vielleicht daran, dass er händeringend nach Ablenkung suchte. Aus welchem Grund auch immer, Andrew ging zu dem Mann und nahm auf der Bank ihm gegenüber Platz.
Bevor Andrew noch etwas sagen konnte, meinte der alte Mann sachlich: »Dieser Wagen ist der wärmste im ganzen Zug. Wenn die Nächte so kühl sind wie heute, sitze ich am liebsten hier, um zu reden.«
»Um über was zu reden?«, fragte Andrew und merkte sofort, wie unsinnig die Frage war. »Um mit wem zu reden?« hätte mehr Sinn gemacht.
Aber der alte Mann hatte schon geantwortet: »Worüber Sie halt reden wollen.«
Jetzt doch etwas verwirrt, stellte Andrew die naheliegende Frage: »Entschuldigen Sie, Sir, aber kenne ich Sie?« Er sagte zu Fremden immer »Sir«, besonders wenn sie älter waren. Auch bei Hausmeistern.
Der alte Mann lächelte. »Noch nicht.«
Nachdem er sich nun sicher war, dass der Alte nicht ganz bei sich war, wurde Andrews Ton väterlich, fast herablassend: »Sie arbeiten also hier im Zug?«
»Manchmal. Wenn ich hier halt gebraucht werde«, sagte der Alte ohne jede Spur von Wichtigtuerei. »Was machen Sie denn beruflich?«
Andrew wusste nicht so recht, was er sagen sollte. »Tja, ich würde sagen, ich arbeite in der Technologie-Branche.«
»Was für eine Technologie?«
»Ja, eigentlich alles, von Taschenrechnern bis hin zu kommerziellen Computersystemen. Ich arbeite bei einer Firma namens Trinity Systems.«
»Ah ja, von der habe ich schon gehört.«
Andrew fragte sich, ob er wohl nur vorgab, die Firma zu kennen.
Der alte Mann setzte seine Befragung fort: »Dann sind Sie also so eine Art Techniker?«
Andrew überlegte und beschloss, einfach Ja zu sagen und es dabei bewenden zu lassen. Aber dann spürte er aus irgendeinem unbekannten Grund plötzlich das Bedürfnis, dem alten Mann zu sagen, wer er war: »Genau genommen bin ich der Geschäftsführer. Andrew ist mein Name.«
»Na, ich bin Charlie. Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Während sie Hände schüttelten, fiel Andrew auf, dass der alte Mann bei der Nennung seines Titels gar keine Reaktion gezeigt hatte. Weiß der überhaupt, was »Geschäftsführer« heißt?, fragte sich Andrew. Nach einigen Momenten unbehaglicher Stille fragte Andrew den alten Mann: »Und was genau machen Sie?«
Charlie lächelte. »Hören Sie, Andrew. Wir sind doch nicht hier, um über mich zu reden. Reden wir über Sie!«
Diese schräge Reaktion des Alten hätte Andrew beinahe amüsiert, hätten die Gedanken an die morgige Vorstandssitzung es nur zugelassen. »Tja wissen Sie, eigentlich hatte ich auf dem Weg nach Hause hier noch etwas arbeiten wollen. Ich habe morgen eine wichtige Konferenz, und dafür muss ich noch eine Menge tun.« Andrew fühlte sich sofort schlecht bei seinen Worten, weil er so klang, als wolle er das Gespräch mit dem Alten abwürgen, obwohl er genau das im Grunde ja vorhatte.
»Oh, das tut mir leid«, sagte Charlie höflich. »Sie sind beschäftigt. Na, dann will ich nicht länger stören.« Er stand auf, und...