Die Kraft der Verantwortung
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Die Kraft der Verantwortung

Über eine Haltung mit Zukunft

Ina Schmidt

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  1. 272 páginas
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Die Kraft der Verantwortung

Über eine Haltung mit Zukunft

Ina Schmidt

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Ob es um das Klima geht, um Politik, die Arbeit oder die Beziehung: In all unseren Lebenszusammenhängen ist verantwortungsvolles Handeln gefordert. Doch was bedeutet das, wie ist ein solches Handeln motiviert und warum stehen wir überhaupt in der Verantwortung? Und was ist zu tun, wenn unsere Verantwortlichkeiten uns überfordern oder miteinander in Konflikt geraten?Die Philosophin Ina Schmidt setzt diesen Verunsicherungen den Versuch einer Klärung entgegen. Sie begreift Verantwortung als ein uns innewohnendes Streben, das Gute zu wollen und zu tun, als eine soziale Praxis. Ihre Voraussetzung ist Freiheit – und ein zugeneigtes Verhältnis zur Welt und zu den Menschen. Damit wird Verantwortung zur Kraftquelle für das Individuum und die Gesellschaft.Wie wir im Zusammenspiel von kritischem Denken, guten Gründen und emotionalem Spürsinn die Kraft der Verantwortung nutzen können, um für eine gelingende Gegenwart und Zukunft Sorge zu tragen, zeigt Ina Schmidt in diesem so klugen wie lebensnahen Buch.

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Información

Año
2021
ISBN
9783896845825
Edición
1
Categoría
Philosophie
1. KAPITEL
Was heißt Verantwortung?
»Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.«
ROGER WILLEMSEN, »WER WIR WAREN. ZUKUNFTSREDE«
Wie aber fangen wir an? Warum fällt es uns so schwer, das Richtige im Möglichen zu erkennen, und selbst wenn wir es erkennen, warum tun wir es dann nicht einfach?
Manche Dinge sind leichter richtig zu machen als andere. Wir übernehmen Verantwortung, wenn wir unsere Kinder pünktlich zur Schule bringen, unsere Arbeit gewissenhaft erledigen und das Billigfleisch im Supermarkt liegen lassen. Aber vielleicht könnten unsere Kinder auch ganz allein zur Schule gehen, unsere Arbeit könnte sich noch viel wichtigeren Fragen des Lebens widmen und den Supermarkt sollten wir eigentlich ganz links liegen lassen und auf den Bioladen eine Querstraße weiter umsteigen. Was ist wie verantwortungsvoll, was ist genug und was eigentlich nur eine bequeme Ausrede? Verantwortung kommt irgendwie immer darauf an – aber worauf eigentlich? Das Richtige ergibt sich oftmals aus dem Zusammenhang, sodass man nicht auf eine einfache Handlungsanweisung hoffen kann. Also brauchen wir als Individuen die Fähigkeit herauszufinden, worauf es ankommt, um verantwortlich zu handeln.
Erkenntnis ist in vielen Fällen nicht das Problem: Die Einsicht, dass es im Hinblick auf eine ganze Reihe von Herausforderungen dringend an der Zeit ist, verantwortlich zu handeln, ist wahrlich nicht neu und alles andere als überraschend. Seit Jahrzehnten mahnen Forscher und Wissenschaftlerinnen unterschiedlichster Disziplinen, dass wir auf begrenztem Raum mit begrenzten Ressourcen leben, und dieses Wissen hat mittlerweile jeden von uns erreicht. Kohle wächst nicht nach und Bienen fressen keine Steine.1 Manche Dinge sind sehr einfach. Daten und Fakten sprechen eine eindeutige Sprache, und wir können uns kaum mit dem Hinweis auf die Komplexität eines Zusammenhangs herausreden. Denn so komplex die Antworten sein mögen, die wir finden müssen, um Lösungen zu entwickeln, die die globalen Probleme unserer Gegenwart in den Blick nehmen, so einfach ist die Erkenntnis, dass wir nicht so weitermachen können wie bisher.
Also was ist zu tun und wer entscheidet darüber? Eben hier beginnt die Uneinigkeit. Verantwortungen werden willig übernommen oder hin- und hergeschoben, europäische Lösungen sollen gefunden werden, während andere nationale Alleingänge anstreben, und globale Einigungen sind oftmals in weiter Ferne oder unmöglich. Daran lässt sich wunderbar verzweifeln, und wir alle kennen die Gespräche unter Freunden oder Kollegen, bei denen die Köpfe über die Entscheidungen »der Politik« oder dieser oder jener Institution geschüttelt werden. Verantwortung scheint in solchen Situationen viel mit Ämtern, Rollen und Zuständigkeiten, mit gesetzlichen Vorgaben und Einzelinteressen zu tun zu haben. Wir, die wir vielleicht kein Amt bekleiden und keiner Institution angehören, glauben dann, uns darauf beschränken zu können, uns in solchen Gesprächen über den bedauerlichen bzw. bedrohlichen Zustand der Welt auszutauschen. Aber sofern wir die Idee ernst nehmen wollen, dass jede und jeder von uns ein zur Verantwortung begabtes Wesen ist, das Zusammenhänge herstellen und aus Alternativen wählen kann, gehen die Möglichkeiten, die wir haben, darüber hinaus.
Der Philosoph Karl Jaspers, der im letzten Jahrhundert mahnende Worte beim Aufbau der jungen Bundesrepublik fand, war sicher, dass Verantwortung nur im Handeln, in ganz konkreten Momenten der Entscheidung sichtbar wird, dann also, wenn wir uns in einem bestimmten Moment, aus gutem Grund für etwas entscheiden, das wir für richtig halten. Und wir, das ist jeder von uns.2 Allerdings – und dieser Einwand ist so ebenso einfach wie richtig: Wir wissen nicht, ob das, was wir für richtig halten, uns auch an das Ziel führt, das wir für notwendig halten. Wenn wir also darüber sprechen, wer warum welcher Verantwortung nicht nachgekommen sein mag, sein Amt einfach niedergelegt hat oder unverantwortlich mit Steuergeldern umgegangen ist, fangen wir bereits im diskursiven Akt an, ganz konkret zu werden. Worum geht es, was verstehen wir im zur Diskussion stehenden Zusammenhang unter Verantwortung und welche Alternative wäre aus welchen Gründen die bessere gewesen? Wie können wir etwas beurteilen, welches Wissen ist vonnöten und wo liegen die Grenzen dessen, was wir verantwortungsvoll zu regeln versuchen? Verantwortung ist nur so lange eine Art Selbstverständlichkeit, solange wir nicht nachfragen. Aber erst dann wird es konkret, und wir können herausfinden, worauf es wirklich ankommt.
Verantwortung ist die Suche nach guten Antworten
Beginnen wir mit einer konkreten Situation, in der, wie wir von Karl Jaspers gehört haben, verantwortungsvolles Handeln erst zum Ausdruck kommen kann – hier vielleicht in einer besonders dramatischen Form: Die Kapitänin Carola Rackete, die im Juni 2019 mit dem Seenotrettungskreuzer Seawatch 3 nach wochenlangem Warten dreiundfünfzig libysche Flüchtlinge auf die italienische Insel Lampedusa brachte, entschied sich zu dieser Handlung entgegen der Auflagen der italienischen Behörden. Die Flüchtlinge hätten Italien nicht betreten dürfen. Carola Rackete machte sich strafbar, indem sie die Menschen ans sichere Land brachte, und übernahm dafür die persönliche Verantwortung. Was aber bedeutet das in diesem Fall genau? Rackete war als Kapitänin zuständig; sie war qua ihrer Führungsrolle diejenige, die eine Entscheidung treffen musste; zudem war sie kompetent und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und damit in der Lage, den Bruch gesetzlicher Vorgaben ins Verhältnis zu dem zu setzen, was ihrer Vorstellung nach das Richtige war. In einem Interview mit der ARD am 5. Juli 2019,3 das aufgrund von Drohungen an einem geheimen Ort in Sizilien geführt werden musste, erklärte sie, dass sie diese Entscheidung auf Basis der Expertise der Crewmitglieder, die die Geflüchteten versorgten, abgewogen hätte, gemeinsam mit dem medizinischen Personal, das den Zustand der Geflüchteten als sehr besorgniserregend eingeschätzt hatte (es gab Androhungen von Hungerstreiks und Suizidgedanken). Gleichzeitig hätten offizielle Stellen wie die libysche Küstenwache erst spät und sehr zögerlich auf E-Mail-Anfragen reagiert, sodass sie ihrer Pflicht hätte nachkommen müssen, Menschen in Not zu helfen. Carola Rackete spricht von einer »Mauer des Schweigens«, auf die sie getroffen sei.
Rackete hat also auf verschiedenen Ebenen Verantwortung übernommen: eine Rollen- und Handlungsverantwortung, die sie ihrer Eigenschaft als Kapitänin in der konkreten Situation ohnehin trug; aus ihrer Entscheidung resultierend eine rechtliche Verantwortung, die dazu führte, dass sie die Konsequenzen eines Gesetzesbruchs zu tragen hatte; und eine moralische Verantwortung, die sie offenbar dazu bewogen hat, eine solche Entscheidung zu treffen. Rackete hat auf eine problematische Aufgabenstellung eine Antwort gefunden, die auch hätte anders ausfallen können, aber für sie die einzig richtige gewesen ist.4
Während Carola Rackete also in einer Kaskade unterschiedlicher Verantwortungsanforderungen eine (für sie) richtige Entscheidung getroffen hat, können wir am Beispiel eines anderen Kapitäns sehen, dass selbst die grundlegende Handlungs- bzw. Rollenverantwortung nicht selbstverständlich erfüllt wird. Kapitän Francesco Schettino war 2012 der verantwortliche Schiffsführer bei der Havarie des Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia vor der italienischen Insel Giglio, bei der er schnellstmöglich das eigene Schiff verließ, bevor für die Sicherheit der Passagiere und Mannschaften gesorgt war. Zweiunddreißig Menschen starben bei diesem Unglück, und ein italienisches Gericht zog Schettino zu der Verantwortung, die er nicht hatte tragen wollen: Er wurde zu sechzehn Jahren Haft wegen fahrlässiger Tötung verurteilt.5
Verantwortliches Handeln ist also keine Selbstverständlichkeit – es versteht sich nicht von selbst und bezieht sich auf verschiedene Ebenen des eigenen Tuns. Der Unterschied im Handeln von Carola Rackete und Francesco Schettino scheint offensichtlich: Die eine hat das Richtige getan, der andere nicht. So weit, so klar. Aber was genau bedeutet: das Richtige? Rein rechtlich hat Rackete etwas Verbotenes getan, dass es damit aber nicht notwendig auch das Falsche war, ist der Punkt, an dem die Sache interessant wird. Die Reaktionen auf die Entscheidung Racketes zeigen jedenfalls, dass es offenbar auch moralisch so einfach dann doch nicht ist, schließlich wurde sie sowohl verurteilt als auch bejubelt. Wie also finden wir heraus, was daran gut, was das Richtige ist und wer dieses Urteil fällen kann?
Zunächst können wir festhalten: In Situationen, in denen wir verantwortlich sind, müssen wir – aufgrund von Rolle, Zuständigkeit oder Kompetenz – in der Lage sein, eine Entscheidung zu treffen (also hier: die Befehlsgewalt der Kapitänin), eine Antwort zu geben oder gegenüber Institutionen, der Öffentlichkeit, dem eigenen Umfeld Gründe anzuführen und uns zu rechtfertigen (die humanitäre Verpflichtung, die Flüchtlinge sicher an Land zu bringen).
Wir sind also – das Beispiel des Flüchtlingsschiffes hat es in besonders dramatischer Weise gezeigt – in einer konkreten Situation immer verantwortlich für etwas oder jemanden und gegenüber (mindestens) einem anderen, sodass sich jede Verantwortlichkeit als eine mindestens dreistellige Relation (X ist verantwortlich für Y gegenüber Z) zum Ausdruck bringen lässt, möglicherweise sogar als vier- oder fünfstellige, wenn in diese Relationen die Normen, unter denen verantwortliches Handeln entsteht, bzw. die Adressaten, an die es gerichtet ist, hineingenommen werden (dann wäre X für Y gegenüber Z verantwortlich aufgrund von A und vor B).6 Zusammengefasst bedeutet das Hinzunehmen der beiden letzten Instanzen für unser Beispiel, dass wir unser Handeln mit einem möglicherweise idealen »Sollen« (hier: eine Welt, in der Flüchtlinge nicht im Mittelmeer ertrinken müssen) abgleichen und vor der Öffentlichkeit als Praxis vertreten, die auf guten Gründen beruht. Darin können diese Gründe unterschiedlich sein, wenn wir z. B. davon ausgehen, dass für den einen die Beseitigung der Fluchtursachen im Vordergrund steht und für den anderen die Aufnahme von Geflüchteten in Drittländern. Beides kann den Kriterien einer verantwortungsvollen Praxis genügen, auch wenn die Handlungen, die daraus folgen, sehr unterschiedlich sind.
Mit der Differenzierung dieser verschiedenen relationalen Ebenen sind wir also schon einen Schritt weiter im Verständnis dessen, was wir mit Verantwortung meinen. Jeden Tag erleben wir aber im eigenen Alltag genauso wie in Politik und Gesellschaft, dass sich diese Ebenen im Ringen um Verantwortung vermischen, unklar und diffus werden. Der Anspruch einer eindeutigen Definition ist schwer zu erfüllen, wenn nicht ganz klar ist, wem welche Zuständigkeit, Rolle oder Kompetenz zuzuschreiben ist, und welche Folgen welchen Handelns eigentlich die sind, die wir für richtig halten oder zumindest wünschen. Oft zu schnell, unaufmerksam und intuitiv fällen wir Urteile, kritisieren, sind empört oder nicken zustimmend. Menschen treffen unbequeme Entscheidungen, nehmen Einschnitte vor, ziehen Grenzen oder müssen ganz konkret z. B. das Wohl ihrer Patienten im Auge behalten – und können dabei ebenso verantwortungsvoll wie verantwortungslos vorgehen. Aber wo können und sollten wir wirklich von Verantwortung sprechen? Ein Politiker beantwortet diese Frage anders als eine Kapitänin, ein Arzt anders als eine Mutter oder eine Richterin, und in Zeiten von globalen Aufgaben und Krisen ist offenbar jeder von uns gefragt, sich zu überlegen, wie er oder sie ein verantwortungsbewusster Teil der zivilen Gemeinschaft sein kann. Es kommt also wieder darauf an.
Muss es aber in all dem nicht auch eine universale Vorstellung des Guten geben, damit nicht jeder einfach das als das Richtige absegnen kann, was er oder sie will? Es kann doch nicht jeder Grund ein guter sein, jedes Interesse oder jede Kompetenz die Möglichkeit verantwortlichen Handelns in sich tragen, denn schließlich sind manche Haltungen und Handlungen vielleicht richtiger als andere. Diese Überzeugung – gleichwohl in der Philosophie seit der Antike nicht unumstritten – bildet die Prämisse der folgenden Überlegungen: Nur wenn es grundsätzlich möglich ist, das Gute vom Schlechten zu trennen, ist es sinnvoll und notwendig, ein Verantwortungsbewusstsein auszuprägen. Könnten wir uns immer damit herausreden, dass es letztlich doch alles irgendwie relativ ist und von jedem selbst abhängt, was er oder sie für gut und richtig hält, wäre die Rechtfertigung des eigenen Handelns immer vom Wohlwollen und ein Stück weit der Willkür meines Gegenübers abhängig. Dass es sich bei verantwortlichem Handeln um eine relationale Praxis handelt, heißt aber nicht, dass es sich nach Belieben drehen und wenden kann, sondern es zeichnet sich durch den Bezug zu dem, was darin als das allgemein gültige Gute gilt, verbindlich aus. Verantwortung hat immer etwas damit zu tun, in der Unterschiedlichkeit der Kontexte ernsthaft nach der (kontextabhängig) bestmöglichen Antwort auf eine Frage oder eine Handlungsaufforderung zu suchen, die für andere nachvollziehbar sein muss.
Um sich in diesen beweglichen, aber nicht beliebigen Kontexten orientieren zu können und eine eigene Perspektive auf das eigene Handeln zu entwickeln, hilft es uns nicht nur weiter, dass wir in der Lage sind, Möglichkeiten abzuwägen, sondern auch wahrhaft gute Gründe für die Möglichkeiten anzugeben, die wir anderen vorziehen. So schreibt der Philosoph Julian Nida-Rümelin in seinem Traktat zur Verantwortung, dass der eigentliche Kern der Übernahme von Verantwortung in jedem nur erdenklichen Kontext mit der menschlichen Fähigkeit zu tun hat, »sich von Gründen leiten zu lassen«.7 Diese Gründe lassen sich ganz unterschiedlich herleiten, um die verschiedenen Relationen und Ebenen von Verantwortung abbilden zu können: rechtlich, moralisch, wissenschaftlich, politisch etwa oder ganz persönlich. Und all diese Ebenen ziehen eigene Praktiken nach sich, vermischen sich und müssen pfadabhängig geklärt werden.
Worauf also gründet unser Handeln? Der Karlsruher Philosoph Hans Lenk spricht von der Intention, die unserem Handeln eine Richtung gibt und damit entscheidend dafür ist, wie wir unsere Handlungen begründen. Wir sind als Menschen in der besonderen Lage, dies tun zu können, und werden nur so einer moralischen Würde gerecht, so Lenk – eine Einsicht, die uns noch beschäftigen wird.8 In der Idee einer solchen Würde sind wir also mit der Gabe zur Verantwortung ausgezeichnet und gleichzeitig aufgerufen, eben weil wir unser Handeln von Gründen leiten lassen können. Manche dieser Gründe sind individuell und gelten nicht für jeden, andere stehen in einem sozialen Kontext schlicht nicht zur Verhandlung, sondern haben einen unmittelbaren Bezug zu dem, was wir als das Gute begreifen.
Hier tut sich nun die schwierige Frage auf, ob wir »das Gute« als relativ oder universal auffassen können bzw. wollen – ein Streit, der seit Jahrhunderten nicht beizulegen ist. Eine Studie der Universität Oxford aus dem Jahr 2019 gelangt hier zu ein paar richtungsweisenden empirischen Ergebnissen. Der Anthropologe Oliver Scott Curry, der die groß angelegte Untersuchung mit weltweit über sechshunderttausend Teilnehmern aus sechzig Kulturen leitete, kommt zu der schlichten Überzeugung: »Überall auf der Welt teilen Menschen einen gemeinsamen Moralkodex.« Das Forscherteam von der School of Anthropology & Museum Ethnography ist überzeugt, dass diese moralischen Verhaltensregeln sich überall etabliert haben, wo menschliches Zusammenleben gelingen soll – unabhängig von kulturellen oder religiösen Besonderheiten. Sieben Grundsätze werden in der Studie genannt, die immer als moralisch gut bewertet werden: Unterstützung der Familie, Unterstützung der eigenen sozialen Gruppe, sich für Gefälligkeiten erkenntlich zu zeigen, sich zu revanchieren, mutig zu sein, Respekt vor Vorgesetzten zu haben, Ressourcen gerecht zu verteilen und das Eigentum bzw. den Besitz anderer zu respektieren.9 Diesen moralischen Verhaltensregeln liegt offenbar etwas zugrunde, was wir als eine grundsätzliche Orientierung am Guten nicht infrage gestellt wissen wollen, so unterschiedlich das daraus folgende Handeln sein mag – so die Studie.
Diese Haltung findet sich auch in der Moralphilosophie. Der britische Philosoph Derek Parfit etwa ist davon überzeugt, dass es Sachverhalte gibt, über die man nicht unterschiedlicher Ansicht sein könne. So könne es z. B. keinen guten Grund für den Klimawandel geben oder für die Gewalt an unschuldigen Menschen. 10 Hieraus ergeben sich laut Parfit »Tatsachen«, die als Gründe für unser Handeln anzuführen sind und die nicht von den Werten oder gar Wünschen eines Einzelnen abhängig gemacht werden können. Und diese Tatsachen gelten auch in sehr individuellen Entscheidungsmomenten, die nicht auf das große Ganze gerichtet sind.
In seinem Werk On What Matters beschreibt Parfit ein prägnantes Beispiel, um den Unterschied zwischen Gründen und Wünschen deutlich zu machen: Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem brennenden Hotelzimmer eingeschlossen und müssen aus dem Fenster in einen Kanal springen, um ihr Leben zu retten. Würde ein Beobachter die Szene beurteilen, wäre er sicher, dass Sie einen guten Grund hatten, aus dem Fenster zu springen, auch wenn es sicher nicht Ihr Wunsch war, dies zu tun. Der Grund ist die Bedrohung Ihres Lebens, und dieser Grund ist stärker als jeder Wunsch. – Aus diesem Bild ergibt sich etwas für uns sehr Wichtiges, nämlich ein anderes Verständnis von Rationalität, weil diese Gründe nicht zwingend unserem Verstand zugänglich sein müssen. Ein Grund ist damit mehr als die Ursache eines Sachverhalts, nämlich auch die nicht immer herzuleitende oder erklärbare innere oder äußere Motivation für das, was wir uns wünschen. Das heißt nach Parfit, dass unsere Wünsche aus Gründen resultieren, damit es überhaupt Wünsche sein können – und eben diese tieferen Gründe gilt es herauszufinden.11
Die wichtige Frage hier ist, ob es – und Parfit bejaht dies – Gründe gibt, die, wie er es nennt, »objektgegeben« sind und damit Maßstäbe dafür bieten, dass etwas wichtig ist und nicht nur von uns für wichtig gehalten wird. Es sind diese Gründe, die uns zur Verantwortung aufrufen, wie etwa die Wahrung der Zukunft unseres Planeten oder die Aufgabe, sich um das Wohl und Wehe geflüchteter Menschen zu sorgen. In dieser Objektgegebenheit liegt für Derek Parfit die Grundlage dafür, dass es nicht nur nicht wünschenswert, sondern auch nicht vernünftig sein kann, nur das zu tun, was wir uns als einzelner Mensch wünschen oder was unser persönliches Wohlergehen steigert: »Unser eigenes zukünftiges Wohlergehen ist nicht das höchste rationale Anliegen.«12 Es geht um mehr, und es gilt, das eigene Wohlbefinden und die eigenen Wünsche zurückzustellen, um etwas anderes...

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