Medizinisches Wissen ist nichts Festes, Unveränderbares und für sich alleine Stehendes, medizinisches Wissen entsteht und verändert sich vielmehr laufend in einem komplexen Gefüge unterschiedlicher Medien und Akteur*innen mit sich teilweise widersprechenden Motiven und Inhalten (vgl. auch Busch & Spranz-Fogasy 2015: 338).1 Das medizinische Fachwissen wird geprägt in diskursiven Gefügen, in spezifischen historischen, soziokulturellen, personellen und kommunikativen Konstellationen (vgl. u. a. Fleck 1994 [1935]) und wandelt sich ständig. Zugleich stehen den fachlichen Wissensinhalten medizinische Laien- und Vermittlungsdiskurse (vgl. z. B. Busch 2015) gegenüber bzw. diese befinden sich in einem ständigen gegenseitigen Austausch mit dem Fachdiskurs. Subjektive Krankheitstheorien (vgl. u. a. Flick 1998; Birkner 2006; Birkner & Vlassenko 2015) widersprechen teilweise fachlichen Diskursen, werden durch sie aber auch beeinflusst. Zugleich prägen medial-öffentliche Diskurse subjektive wie auch gesamtgesellschaftliche Wissensbestände zu Gesundheit, Krankheit, deren Ursachen und Therapien maßgeblich mit (vgl. u. a. McKay 2006: 253; Busch 2015: 374). Die digitale Revolution hat dabei die Art und Weise der medial-öffentlichen Diskurse, ihre Form, Produktion, Reichweite sowie die Produzenten- und Rezipientenschaft grundlegend verändert. Gesundheit und Krankheit werden heute nicht nur in klassischen Massenmedien wie Zeitung und Fernsehen (vgl. z. B. McKay 2006; Spieß 2011; Brünner 2011), sondern auch in Online-Foren (vgl. z. B. Kleinke 2015; Reimann 2018), Blogs (vgl. z. B. Cochrane 2017), auf Facebook (vgl. z. B. Koteyko & Hunt 2016) und anderen Social Media-Plattformen interaktiv und öffentlich ausgehandelt (vgl. auch Locher & Turnherr 2017; Koteyko & Hunt 2018). Die beschriebenen Prozesse formen und verändern das medizinische Wissen maßgeblich und haben Auswirkungen auf die klinische Praxis und ihre Akteur*innen, etwa bezüglich der Akzeptanz bestimmter Diagnosen, Behandlungs- und Therapieformen.
In diesem Kontext ist nach dem Verhältnis medizinischer Fachdiskurse, subjektiver Krankheitstheorien und medial-öffentlicher Kommunikationsformen zu fragen, nach entsprechenden Wechselwirkungen und der diskursiven Konstituierung und Veränderung medizinischen Wissens sowie nach Kollisionen fachlicher und allgemeiner Wissensbestände (vgl. hierzu auch Busch 2015: 384). Welche Akteur*innen sind in den unterschiedlichen Domänen an der Wissenskonstituierung beteiligt? Wer ist in welcher Rolle Teil des medial-öffentlichen Diskurses; wer ist Produzent*in, wer Rezipient*in? Welche Gesprächs- und Textsorten, welche Themen, kommunikativen Konstellationen, Muster und Kontexte sind für den hier interessierenden interdiskursiven Austausch relevant? Und welche Implikationen haben die beschriebenen Prozesse für die Medizin als Fach und die klinische Praxis?
Die Beiträge dieses Abschnitts nähern sich diesem Fragen- und Themenkomplex aus vielfältigen Richtungen:
Joachim Peters und Natalie Dykes zeichnen in ihrem Beitrag Die palliativmedizinische Fachkultur in Geschichte und Gegenwart – sprachwissenschaftliche Perspektiven die Entwicklung der Palliativmedizin über die letzten 20 Jahre auf der Basis eines umfangreichen Korpus des Fachdiskurses nach. Mittels korpuslinguistischer Methoden zeigen die Autor*innen auf, wie die noch verhältnismäßig junge Fachrichtung sich sprachlich zunehmend „diszipliniert“ – z. B. hinsichtlich Wortschatz, Themenvielfalt und textuellen Eigenschaften –, in diesem Prozess von gesellschaftlich-diskursiven Debatten beeinflusst wird und sich zu denselben zugleich öffentlich immer deutlicher positioniert.
Yvonne Ilg widmet sich in ihrem Beitrag „Medizinische Terminologie im öffentlichen Diskurs. Konjunkturen und Veränderungen von Schizophrenie“ den Austauschbewegungen zwischen öffentlichem und fachlichem Diskurs anhand des psychiatrischen Terminus Schizophrenie. In einer korpuslinguistisch-quantitativ und qualitativ ausgerichteten Analyse zeichnet sie die gemeinsprachliche „Karriere“ des psychiatrischen Fachausdrucks seit seiner Prägung 1908 bis ins 21. Jahrhundert nach und fragt nach dessen Kontexten und Veränderungen hin zu einem alltagssprachlichen Bewertungsausdruck. Die Untersuchung nimmt dabei auch die zugehörigen Implikationen für das Fach Psychiatrie in den Blick, in dem der Terminus und das Konzept heute stark umstritten sind und nach Alternativen gesucht wird.
Sebastian Kleele, Marion Müller und Kerstin Dressel befassen sich in ihrem Beitrag mit einem hochaktuellen Thema. Unter dem Titel Krankheits- und Risikokommunikation im medialen Diskurs. Eine wissenssoziologische Betrachtung der Berichterstattung zum Thema Hantaviren untersuchen sie die mediale Kommunikation und Prägung einer von Viren übertragenen, potenziell langwierigen Infektionskrankheit. Die Autor*innen lenken den Blick auf diskursive Muster, wie z. B. den Wechsel zwischen Überspitzung/Angsterzeugung und folgender Relativierung/Beruhigung möglicher Gefahren und Risiken in der Berichterstattung, zeigen Probleme derselben für das Verständnis des Phänomens auf und ordnen sie – auch vor dem Hintergrund der aktuellen COVID19-Pandemie – in das größere Bild der Seuchendiskurse ein.
In ihrem Beitrag „Wer länger raucht, ist früher tot“ – Construal-Techniken des (populärmedizinischen) Online-Positionierens stellt Marie-Luis Merten ebenfalls die mediale Repräsentation von Gesundheitsthemen ins Zentrum. Thema sind allerdings nicht Zeitungsartikel, sondern zugehörige Online-Kommentare auf den Plattformen von Spiegel Online und Zeit Online aus den Jahren 2013 bis 2018. Die Autorin legt den Fokus auf die kommunikative Praktik des Positionierens und zeigt am Beispiel der Konditionalgefüge wer X (der) Y und wenn X (dann) Y, wie User*innen in der digitalen Interaktion Ansichten und Meinungen zu Gesundheitsthemen verhandeln und so den medialen Diskurs aktiv mitgestalten.
Daniel Knuchel widmet sich in seinem Beitrag der Kommunikation zu medizinischen Themen in Online-Foren. Unter dem Titel Diskurs-Latenz: Re-Aktivierungen von Stereotypen rund um HIV/AIDS in Onlineforen zeigt er in einer korpuspragmatischen Analyse auf, wie Stereotype und moralisierende Erklärungsmuster zu HIV/AIDS aus den 1980er und frühen 1990er Jahren im von ihm untersuchten Online-Forum med1.de auch in den 2010er Jahren (re-)aktualisiert werden – ungeachtet des veränderten medizinischen Wissensstandes. Die Untersuchung macht dabei zugleich deutlich, wie Fragen der Schuld bzw. Verantwortung für die eigene Gesundheit/Krankheit diskursiv geprägt und medial vermittelt werden.
Simon Meier-Vieracker schließlich nimmt in seinem Beitrag „immer noch chemo“ – Zeitlichkeit in digitalen Krankheitserzählungen Blogs als Kommunikationsform in den Blick. Anhand einer korpuslinguistischen Analyse von 11 Blogs von bzw. teilweise über Patient*innen mit einem Glioblastom, einem nicht heilbaren Hirntumor, untersucht er die digitalen Krankheitserzählungen auf rekurrente kommunikative Muster und Strukturen. Als zentralen Aspekt der Texte arbeitet Meier-...