1 Phytosophie
1.1 Der Phytosophie-Begriff und seine Entstehung
Den Begriff Phytosophie (Phyto-Sophie) habe ich vor etwa 25 Jahren geprägt, um meine ganzheitliche, meta-medizinische Sicht der Pflanzenheilkunde passend zu charakterisieren.1 Eine Klärung des Begriffs folgt weiter unten. Gäbe es nur eine Art der Pflanzenheilkunde: Phytosophie wäre überflüssig. Bei meinem Einstieg in die Pflanzenheilkunde vor 30 Jahren wurde mir jedoch bald klar, dass es keinen gemeinsamen Nenner gibt. Eine Gesamtausbildung in Pflanzenheilkunde fand ich damals nicht. Ich musste mein Wissen aus verschiedenen Kursen, aber auch Firmenbesuchen selbst zusammenstückeln. Das war nicht einfach: Fast jeder Kurs und jede Referentin präsentiert eine andere Art der Pflanzenheilkunde. Jede Firma verfolgt ein anderes therapeutisches Ziel, verarbeitet und liefert dementsprechend unterschiedliche Mittel. Jede Therapeutin arbeitet mit bevorzugten Heilweisen, Pflanzen, Mitteln und Anwendungen, und lehnt andere ab. Je mehr ich lernte, desto verwirrender die Vielfalt der Zugänge mit ihren Unterschieden, ja ausgeprägten Gegensätzen.
• Die meisten Zugangsweisen stehen in deutlich erkennbarem Widerspruch zu anderen Varianten der Pflanzenheilkunde.
• Dennoch kann fast jeder einzelne Zugang - in seinem Kontext und auf seine Art - überzeugen, begeistern, das Wissen bereichern.
• Allerdings: Klärung und Strukturierung tut not! Andernfalls verliert man sich, oder man gibt sich aus Bequemlichkeit zufrieden mit etwas, dessen Sinnfrage man nicht geklärt hat.
1.2 Vielfalt pflanzlicher Heilweisen
Wir haben es in der Pflanzenheilkunde nicht mit einer einzigen Heilweise namens «Phytotherapie» zu tun, sondern mit einem reichen und vielfältigen Spektrum an pflanzlichen Heilweisen. Zahlreiche Begriffe und Stichworte kommen zusammen. Die Wortwolke von Abbildung 1 illustriert in ihrer noch ungeordneten Vielfalt das Problem, welches wir bisher mit pflanzlichen Heilweisen haben: Unübersichtlichkeit! Bedeutendes und Unbedeutendes steht nebeneinander. Begriffe gehören in unterschiedlichen Kontext. Fehlende Transparenz!
Abbildung 1 Wortwolke mit Stichworten betreffend pflanzlicher Heilweisen
Daher auch die Unmöglichkeit sachlicher Kommunikation: Wer mit einer bestimmten Heilweise, einer bestimmten Pflanze, oder einem daraus hergestellten firmenspezifischen Produkt arbeitet, spricht möglicherweise von etwas ganz anderem als seine Gesprächspartnerin, welche vielleicht sogar mit derselben Pflanze, aber im Kontext einer anderen Heilweise, Zubereitung und Anwendung arbeitet.
Das Problem unklarer Kommunikation stellt sich viel früher, schon ganz am Anfang. Schon der Begriff «Heilpflanze» selbst ist irreführend! Was eine Person als Heilpflanze bezeichnet, in dem erkennt eine andere Person vielleicht nur ein unerwünschtes Unkraut oder eine Giftpflanze. Eine Pflanze wird nämlich erst dann zur Heilpflanze, wenn jemand ein spezifisches heilkundlich anwendbares Potential in ihr erkennt, erschliesst und zur heilkundlichen Anwendung bringt. Auch dies werden wir genauer betrachten.
Im Rahmen dieses Buches wollen wir alle Begriffe und alle Betrachtungsweisen in die «Phytosophie» aufnehmen und sie dort geordnet und strukturiert unterbringen. Pflanzliche Heilweisen bilden ein wahres Universum. In dessen Welten wollen wir uns ab jetzt gezielt zurechtfinden und persönlich sinnvoll orientieren!
1.3 Analogie «Schweizer Taschenmesser»
Aus meinem Klärungsbedürfnis heraus entstand sehr früh meine Darstellung mit der Taschenmesser-Analogie in Abbildung 2.
Abbildung 2 Phytosophie-Magier mit «Schweizer Taschenmesser»
Beachten Sie den Text unter dem Magier: Jede Pflanze ist – wie ein Schweizer Taschenmesser – ein multioptionales Werkzeug, dessen verschiedene Funktionen wahlweise aktiviert werden können bzw. müssen!2
Jede Pflanze ist – wie ein Schweizer Taschenmesser – ein multioptionales Werkzeug, dessen verschiedene Funktionen wahlweise aktiviert werden müssen!
Die noch ungeordnete Wortwolke von Abbildung 1 hat schon etwas Ordnung und Struktur bekommen. Wo sich beim Werkzeug die grosse Messerklinge3 befindet, steht die offizielle (Pflanzen-) Heilkunde oder Phytotherapie. Andere Heilweisen stehen bei Werkzeugen wie Büchsenöffner, grosser Schraubenzieher, etc.
Beim Schweizer Taschenmesser muss ich jeweils genau das Werkzeug ausklappen und einsetzen, welches der Problemlösung dient. Ist das Problem z.B. «Schraube locker»?
• Dann nützen mir Messerklinge, Schere oder Korkenzieher etc. nichts,
• einzig der kleine oder der grosse Schraubenzieher ist das angemessene Werkzeug.
Genauso wollen, ja müssen wir es mit pflanzlichen Heilweisen und Heilmitteln tun.
• Vielfalt statt Einfalt: mehrere Werkzeuge sollen zu unserer Verfügung stehen,
• dabei wählen wir aber gezielt differenzierte Zugänge statt pauschaler Klischees.
1.4 Jede Pflanze ist multi-optional
Jede einzelne Heilpflanze (ja, jede einzelne Pflanze überhaupt) entspricht solch einem «Schweizer Taschenmesser» mit mehreren Funktionen. Die Anzahl der Funktionen kann selbstverständlich variieren: das kennen Sie auch von der Vielfalt der Taschenmesser-Modelle.
Welches Werkzeug möchten Sie im jeweiligen Fall aktivieren?
Mein Kollege und Phytosophie-Student Thomas Holstein hat für seine Diplomarbeit das Johanniskraut (Hypericum) gewählt und davon 16 Varianten der Zubereitung zusammengetragen. Jede dieser Varianten unterscheidet sich in Verarbeitungsprozess, Eigenschaften, Anwendung, heilkundlicher Zielsetzung. Im Lauf dieses Buches werden wir die Tools (Werkzeuge) erarbeiten, um diese Unterschiede systematisch zu charakterisieren.
Abbildung 3 zeigt links seine Sammlung der Johanniskraut-Zubereitungen aufgefächert auf dem Bild des Phyto-Magiers mit dem Taschenmesser. Es gäbe übrigens mehr als nur seine 16 Varianten.
Abbildung 3 erstaunliche Vielfalt: 16 Varianten Hypericum
1.5 Sinnvolle Auswahl und Beschränkung auf das Wesentliche
Niemand soll, will, kann mit allen Varianten von Heilmitteln arbeiten. Unsere differenzierte Analyse schliesst deshalb ein, dass wir unseren Bedarf hinterfragen und gemäss unserer heilkundlichen «Mission» oder «Lebensaufgabe» eingrenzen. Wir wollen eine gezielte und sinnvolle Auswahl treffen.
Beschränken Sie sich auf das (für Sie) Wesentliche und Sinnvolle.
Wir wollen ein gut strukturiertes Portfolio aufbauen, mit dem wir und unsere Patientinnen ideal bedient sind. Nicht mehr und n...