1Einleitung
Wir alle kennen die Faszination von Wasser, das in den unterschiedlichsten Formen die Erde belebt â BĂ€che, FlĂŒsse oder Ströme, Seen oder Meere, die die Erde begleiten und unser Leben bereichern, die die Grundlage fĂŒr alles Leben schaffen.
Kinder fĂŒhlen sich von Wasser angezogen, und die meisten spielen unglaublich gerne in BĂ€chen oder flachen GewĂ€ssern. Auch in vielen von uns ist diese Faszination erhalten geblieben, und der Anblick von FlĂŒssen, die durch Landschaften und StĂ€dte flieĂen, oder das GerĂ€usch von strömendem Wasser entspannt uns und versetzt uns oft schon ganz von alleine in eine Art Alltagstrance.
Abb. 11
FlĂŒsse können so verschieden sein â breit und friedlich sanft flieĂend, gewaltig mit rauschenden Wassermassen, die schnell dahinströmen, dann staut sich das Wasser, wird schmal und kurvig, enger und enger, wild und steinig ⊠Es wird schlammig und dunkel, um sich dann wieder klar und durchscheinend zu zeigen, sodass jeder Kiesel am Flussgrund sichtbar wird ⊠manchmal wechselt das Wasser scheinbar die Richtung, flieĂt unendlich kurvig, tiefer oder flacher, und womöglich geht es in einem Wasserfall steil bergab, um dann wieder entspannt und wohlig dahinzuflieĂen âŠ
So, wie die FlĂŒsse der Natur, so gestalten sich auch unsere LebensflĂŒsse â ganz abhĂ€ngig von unserer jeweiligen Lebensphase. Sie flieĂen von der Quelle bis zum Meer, manchmal direkt â meist auf Umwegen âŠ
Auf so eine Reise möchte ich Sie, liebe Leserin, lieber Leser, einladen. Flusslandschaften erleben und eintauchen in diese wunderbare Welt der LebensflĂŒsse, um neue und anregende Methoden zu erfahren!
Das Lebensflussmodell habe ich Ende der 1990er-Jahre in der systemischen Weiterbildung bei Peter Nemetschek und seinen Trainerinnen gelernt. Es ermöglichte mir, von Beginn an mit Klienten erfolgreich zu arbeiten, obwohl ich damals noch BerufsanfĂ€ngerin war. Im Laufe der vielen Jahre entwickelte ich wĂ€hrend meiner Arbeit in eigener Praxis als Psychotherapeutin und Coach eigene Facetten und erweiternde Techniken. In diesem EinfĂŒhrungsbuch möchte ich Ihnen einen Teil meiner Arbeit vorstellen.
Es war und ist ein wichtiges Lebensziel von Peter Nemetschek, dass sich das Wissen ĂŒber die Lebensflussmethode verbreitet und fĂŒr Menschen hilfreich und unterstĂŒtzend ist. Das ist der Grund, weshalb er mit 80 Jahren noch als Trainer arbeitet. Mich faszinierte diese Methode seit Beginn meiner therapeutischen Arbeit, und ich nutze sie in vielen Kontexten. Deshalb ist es auch mir ein Anliegen, die Methode der Lebensflusslandschaften vielen Kolleginnen und Kollegen zugĂ€nglich zu machen und ein praxisnahes Buch zu schreiben, das den Weg ebnet und ermutigt, diese hilfreiche Technik in das eigene Repertoire zu integrieren.
Als kurzzeittherapeutische Methode ist das Modell des Lebensflusses sowohl fĂŒr Neueinsteiger als auch fĂŒr Therapeuten, Berater oder Coachs aus den unterschiedlichsten Ausbildungsrichtungen hervorragend geeignet. Es handelt sich um eine leicht erlernbare, lebendige und kreative Trancemethode, die in verschiedenen Formen vielfĂ€ltig fĂŒr fast alle Problembereiche, Altersstufen und Bildungsschichten einsetzbar ist. Sowohl Einzelpersonen (Kinder, Jugendliche und Erwachsene) als auch Paare, Familien, Gruppen oder Teams profitieren von der Lebensflussarbeit.
Die hier vorgestellten Techniken haben sich in der Praxis als sehr hilfreich erwiesen. Explizite Studien zum Lebensflussmodell gibt es bisher noch nicht. Da es sich aber um eine hypnotherapeutische Visualisierungsmethode handelt, liegt es aus meiner Sicht nahe, dass die Forschungsergebnisse aus dem Bereich der klinischen Hypnose auf die Arbeit mit dem Lebensfluss ĂŒbertragbar sind.
Der Klient visualisiert im sogenannten Lebensfluss die eigene Lebensgeschichte und kann durch die entstehende Metaebene einen Perspektivwechsel erfahren. Diese Visualisierungen prÀgen sich sehr gut ein und stellen eine hervorragende jederzeit nutzbare Ressource dar.
Auch der Psychiater und Psychotherapeut Milton H. Erickson nutzte in seinen Hypnosen unter anderem die Metapher einer Lebenslandschaft, die in die Zukunft fĂŒhrt und dem Klienten die Möglichkeit gibt, das eigene Leben aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen. Erickson fĂŒhrt die Wege des Lebens und der Lösungen bis in die ferne Zukunft hinein, und Peter Nemetschek, der bei ihm lernte, nutzte diese Metaphern und visualisierte sie â entsprechend seiner Herkunft als bildender KĂŒnstler â kreativ und fantasievoll mithilfe von Seilen und Symbolen anfĂ€nglich als Lebenslinie und spĂ€ter als Lebensfluss. Ganz konkret werden hierbei bunte Seile von der Vergangenheit ausgehend bis in die Zukunft hinein auf den Boden gelegt. Diese visualisierten Lebenslinien, die den Ablauf des Lebens oder einzelne Lebensphasen symbolisieren, lassen ein lebendiges und farbenfrohes Bild entstehen.
Den Lebensfluss kann man dabei als einzelnes Seil legen, wenn es um eine persönliche Thematik geht, in der andere Personen fĂŒr die Lösung nicht mithilfe eines Seils visualisiert werden mĂŒssen (s. Abb. 2).
Ebenso ist es möglich, Seile, die das Bezugssystem symbolisieren, zu dem Seil des Klienten zu legen, obwohl die anderen Personen in der Sitzung nicht anwesend sind (s. Abb. 3).
In familientherapeutischen Sitzungen können fĂŒr alle anwesenden oder auch wichtigen abwesenden Personen stellvertretend Seile gelegt werden: Es entsteht eine Lebensflusslandschaft mit je einem Seil fĂŒr jede bedeutsame Person, sichtbar fĂŒr alle anwesenden Familienmitglieder bei einer Familienberatung, sodass nun jeder fĂŒr sich â und gleichzeitig gemeinsam â seine seelischen Prozesse durchlaufen kann. Die Familienmitglieder haben ein Ziel, eine Richtung vor Augen und können diese regelrecht ablaufen. Dadurch macht auch der Körper eine sinnliche Erfahrung. Ebenso kann man in der Paartherapie die Beziehung des Paares mit den Seilen visualisieren und gemeinsame Lösungen entwickeln.
Schon die alten Germanen stellten sich vor, dass die Nornen, die Schicksalsgöttinnen, die LebensfĂ€den der Menschen zu FĂŒĂen des Weltenbaumes spinnen. Ebenso sind die Begriffe Lebenslinie oder Lebensstrom gĂ€ngige und hilfreiche Metaphern, die dem Klienten helfen, in die spontan entstehende Alltagstrance wĂ€hrend der Lebensflussarbeit zu gleiten. Durch die Visualisierung des Lebens oder einer Lebensphase kann man Klienten systemisch begleiten und in der Entwicklung unterstĂŒtzen. Die Prozesse der persönlichen Entwicklung, der Familienebene oder auch der Therapie werden schrittweise visualisiert â so können aus den LebensflĂŒssen regelrechte Ressourcenlandschaften, Familienlandschaften oder auch Bindungslandschaften entstehen.
Abb. 2: Der Lebensfluss eines Klienten, von der Vergangenheit ausgehend in Richtung Zukunft2
Abb. 3: Der Lebensfluss einer Familie mit einem Jugendlichen (sein Seil verlÀuft in der Mitte zwischen den Seilen der Eltern), von der Vergangenheit aus betrachtet in Richtung Zukunft
Krisen lassen sich im Kontext des Lebens mittels Regression und Progression aus anderen Perspektiven wahrnehmen, wodurch sich neue Lösungswege und Möglichkeiten im wahren Sinne eines handhabbaren Ziels ergeben. Ein Ziel, das im Bereich des Möglichen liegt!
In der spontan auftauchenden Alltagstrance kann der Klient Reisen in die Zukunft unternehmen, um Visionen und Hoffnungen zu entwickeln, aus der Vergangenheit Ressourcen ins Jetzt holen oder herausfordernde Situationen in der Gegenwart gestalten.
So ist der Klient in der Lebensflussarbeit ein Zeitreisender â gleichzeitig an diesem und an anderen Orten, in der jetzigen Zeit und in anderen Zeiten â, wenn er in Trance die Positionen am Lebensfluss wechselt oder seine eigenen Erfahrungen an ihm vorbeiziehen.
Wenn Menschen zur Beratung kommen, haben sie hĂ€ufig einen Tunnelblick â fest fixiert auf die Krise und nicht auf die potenziellen Lösungen, die unentdeckt im Inneren zur VerfĂŒgung stehen.
Bei der Lebensflussarbeit entstehen in der Regel automatisch Körperempfindungen, GefĂŒhle, Gedanken und Bilder fĂŒr Lösungen, die körperlich und sinnlich erfahrbar sind. Zudem entwickelt sich hĂ€ufig ein Perspektivwechsel in Richtung Lösung, sodass sich meist recht bald ein hilfreicher Stimmungsumschwung herbeifĂŒhren lĂ€sst. Mit rein verbalen Methoden fĂ€llt es oft nicht so leicht, solch einen Stimmungsumschwung in Richtung konstruktive Lösung und Perspektivwechsel schnell herbeizufĂŒhren. Das Lebensflussmodell fĂŒhrt von Beginn an in Richtung Lösung. Es werden alle Sinne genutzt, und der Lösungsprozess wird ganzheitlich begleitet. Ressourcen, die in Vergessenheit geraten sind, werden wieder wahrgenommen und genutzt: gewinnbringende Erfahrungen aus der Kindheit, aus der Jugend oder aus frĂŒheren Zeiten. Die Klienten können ihr »inneres glĂŒckliches Kind« wiederentdecken, zu dem ihnen hĂ€ufig der Zugang verloren gegangen ist. Diese neue Begegnung kann eine hilfreiche UnterstĂŒtzung bei Problemlösungen darstellen.
Die konstruktiven KrĂ€fte des Klienten kommen wieder ins FlieĂen, und vorhandene Problemtrancen oder Blockaden werden durch Lösungstrancen ersetzt. Ressourcen können aus der Vergangenheit in die Zukunft transportiert und dort verankert werden, sodass neue Hoffnung, Sicherheit und StabilitĂ€t, ein gestĂ€rktes SelbstwertgefĂŒhl, neue Wege und Visionen entstehen, um kraftvoller in die eigene Zukunft gehen zu können.
Der Schwerpunkt dieser Trancemethode liegt auf dem Wahrnehmen, FĂŒhlen und SpĂŒren â um in der Trance Bilder und Visionen zu entwickeln, die sich mit genĂŒgend Raum und Zeit tief im Unbewussten des Klienten verwurzeln können. Die Lebensflussarbeit berĂŒhrt die Herzen der Klienten, und die Basis ist das aktive Handeln. Es ist wichtig, die entstehende Energie nicht zu zerreden, sondern achtsam und wertschĂ€tzend die Prozesse des Klienten zu begleiten. Die neu erlebten Erfahrungen werden sowohl in Bildern als auch emotional und körperlich erfahrbar, entsprechend gespeichert und sind in Alltagssituationen abrufbar.
2Die Entwicklung des Lebensflussmodells
2.1Der BegrĂŒnder des Lebensflussmodells
Der MĂŒnchner Familientherapeut Peter Nemetschek entwickelte das Lebensflussmodell in den 1980er- und 90er-Jahren als Element und Grundlage seiner Ausbildungen in systemischer Familientherapie. SpĂ€ter setzte er die Arbeit mit Seilen und Symbolen auch vielfĂ€ltig in Coaching-Kontexten ein und bezeichnete diese Visualisierungen als »professionelle Time-Line«. Seiner Aussage nach entwickelte er diese Modelle vollstĂ€ndig unabhĂ€ngig von der Timeline-Arbeit, die in den 1980er-Jahren parallel im NLP (Neuro-Linguistisches Programmieren) entstanden ist. Hier wird die Vis...